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nmz-archiv
nmz 2003/7-8 | Seite IV
52. Jahrgang | Jul./Aug.
Beilage:
Bücher für den Sommer
Durchflutung dunkler Kanäle
Mittelalterliche Musik in der Neuzeit wieder entdeckt
Annette Kreutziger-Herr: Ein Traum vom Mittelalter. Die
Wiederentdeckung mittelalterlicher Musik in der Neuzeit,
Böhlau, Köln/Weimar 2003, 426 S., Ill., Notenbeispiele,
€ 44,90, ISBN 3-412-15202-1
Heine hat wieder Haare auf den Zähnen. Diesmal geht es ihm
um die Wiederentdeckung des Mittelalters. In seiner „Romantischen
Schule“ bekrittelt er 1836, dass die französischen Schriftsteller
sich des Mittelalters lediglich in der Absicht bedient hätten,
„um sich ein interessantes Kostüm für den Karneval
auszusuchen. Die Mode des Gotischen war in Frankreich eben nur eine
Mode und sie diente nur dazu, die Lust der Gegenwart zu erhöhen.“
Auch in Deutschland liege das Mittelalter „nicht vermodert
im Grabe“, vielmehr werde es „manchmal von einem bösen
Gespenste belebt und tritt am hellen, lichten Tage in unsere Mitte
und saugt uns das rote Leben aus der Brust“. Aller Lästerei
zum Trotz: Falsch liegt Heine nicht. Die Romantik wurde zum Motor
für die Wiederentdeckung des Mittelalters. Annette Kreutzinger-Herr
hat sich dieser Tatsache angenommen und sie unter der Frage, wie
das Mittelalter auf die Musik der Neuzeit ausgestrahlt hat, in einem
rund 400-seitigen Buch erörtert. Ein findiges Buch, ein gescheites
Buch, gründlich durchdacht und akribisch recherchiert –
doch nicht frei von einigen Fragwürdigkeiten. Die Komposition
des Bandes ist auf Transparenz hin angelegt und lässt dennoch
einige Wünsche offen. Aufgrund der Vielgestaltigkeit des Themas
wären Zusammenfassungen am Schluss der jeweiligen Kapitel (die
überdies mit wenig hilfreichen Überschriften versehen
sind), zumindest aber am Ende des Buches wünschenswert gewesen
und hätten dem Leser interessante Orientierungshilfen geboten.
Wer sich einen großen thematischen Bogen über die Einflüsse
mittelalterlicher Stoffe und Vorlagen auf die Musik des 19. und
20. Jahrhunderts erhofft, braucht das Buch gar nicht erst aufzuschlagen.
Der Autorin geht es nicht um Motiv-Vernetzungen. Wem also an der
musikalischen Rezeption eines Dante oder an Bühnen-Adaptionen
mittelalterlicher Volksbücher gelegen ist, wird hier nicht
glücklich. Auch Richard Wagners opulente Auseinandersetzung
mit dem Mittelalter wird lediglich exemplarisch und auffällig
komprimiert abgehandelt. Warum eigentlich?
Stattdessen beschreitet die Autorin immer wieder überraschende
Nebenpfade, indem sie an unvermuteten Stellen auf die Mittelalter-Rezeption
bei Glazunow, Respighi oder Rheinberger hinweist. Kreutzinger-Herr
breitet ein engmaschiges, über die Musik hinausführendes,
kulturgeschichtliches Netz aus, indem sie vor allem die Literatur
als zweite Disziplin in ihre Untersuchung integriert und anhand
der Schriften von Tieck, Wackenroder & Co. deutlich macht, wie,
wann und warum das Mittelalter im 19. Jahrhundert einen so zentralen
Platz einnehmen konnte. Dass sie dabei mit den Brüdern Grimm
und Ludwig Uhland grundlegende Antreiber dieser Bewegung unerwähnt
lässt, zeigt allerdings, dass ihr Netz nicht engmaschig genug
ist. Auch die musikalischen Mittelalter-Vertiefungen von Carl Orff
und Hans Pfitzner spielen keine nennenswerte Rolle. Dafür liefert
die Autorin ein exzellentes Kapitel über die Wiederentdeckung
Hildegards von Bingen in den 90er-Jahren. Sie hat sich bei Bernd
Alois Zimmermann umgetan und bei Sofia Gubaidulina, um dann einen
Bogen bis zu Gerhard Wolfstiegs „Zwölf Miniaturen“
für Stimme und Orgel und Richard Southers Pop-Version zu schlagen.
An diesen Stellen wird’s richtig spannend, die praktische
Auseinandersetzung mit der fernen Zeit greifbar.
Einen weiteren Schwerpunkt bildet die Mittelalter-Aufarbeitung
in der historischen Musikwissenschaft, als Grundlage dienen Schriften
von Ludwig, Burney, Kiesewetter, Coussemaker bis hin zu Adler und
Riemann. Es gelingt ihr, die vielen dunklen Kanäle der Musikgeschichtsschreibung
zu fluten, sie mit Licht zu versorgen und so die Wiederentdeckung
mittelalterlicher Musik auf ein fundiertes theoretisches Fundament
zu stellen. Auf praktischer Ebene wird vor allem im Anhang nachgefüttert;
bedeutend auch der Überblick über die Verbreitung der
Musik Machauds, hilfreich die Dokumentation von Konzertprogrammen
zwischen 1914 und 1927. In der Mitte des Buches bietet der knapp
50 Seiten umfassende Bildteil bestes Anschauungsmaterial.