Die Musikgeschichte geht keineswegs immer gerade Wege. Warum zu
Lebzeiten ein Komponist mehr, der andere weniger Öffentlichkeit
hat, hängt mit Dingen zusammen, die wenig mit der Musik selbst
zu tun haben. Luciano Berio hatte Öffentlichkeit, gleichwohl
war es nicht unbedingt die der musikalischen Avantgarde. Er ging
einen anderen Weg, beharrlich, nachdrücklich, musikalisch höchst
relevant. Bis zu seinem Tode. Der Nachruf sucht diesen Weg nachzuzeichnen.
Luciano Berio war auch ein
kompetenter Dirigent – hier bei Proben zu einem Konzert
mit eigenen Werken in Köln 1996. Foto: Charlotte Oswald
Wenn man in den vergangenen Jahrzehnten über die europäische
musikalische Avantgarde sprach, die ab den 50er-Jahren kühn
in die Zukunft aufbrach und dabei immer wieder auf massive Widerstände
stieß, dann wurde er immer erst in zweiter Reihe genannt.
Schnell fielen Namen wie Stockhausen, Boulez, Nono, auch Ligeti
und Lutoslawski. Und dann, nach einem Moment des Zauderns, fielen
Sätze wie: Ach ja, da gibt es auch noch Luciano Berio. Schon
bald, als sich die Protagonisten des musikalischen Fortschritts
in Orten wie Darmstadt oder Donaueschingen häuslich niedergelassen
hatten, wurde diese Hierarchie erstellt und festgeschrieben. Berio
hatte schon damals allzu oft die selbstverordneten Reinheitsgebote
Neuer Musik verletzt, da konnte auch seine weithin anerkannte, musikalisch
wuchernde Fantasie nicht dagegen ankommen. Und Berio verteidigte
seine Position: Nicht etwa nach unten gegen nachdrängende Jüngere,
sondern gerade eben nach oben.
Im Rückblick freilich wirkt manches anders. Immer wieder scheint
es so, als habe der Igel Berio oft sein „Bin schon da!“
rufen können, als der erschöpfte Hase der Avantgarde wieder
einmal das Ende der Ackerfurche erreichte. Seine „Sinfonia“
von 1968/69 etwa, bis heute eine der populärsten Kompositionen
Berios (und populär darf hier wörtlich genommen werden),
traf wie kein anderes Werk aus dem klassischen Sektor den Zeitgeist
der 68er Generation. Und das lag durchaus nicht an dem Martin Luther
King gewidmeten zweiten Satz dieser grandios frischen, zwischen
Lévi-Strauss, Joyce, Beckett und revolutionären Mauersprüchen
herumspringenden Komposition. Diese Deckungsgleichheit zum Feeling
schafften damals nicht der Kommunist Luigi Nono, der allzu direkt
und O-Ton-artig die Laute und Geräusche von Demonstrationen
in seine Arbeiten integrierte, auch nicht der zeitweilige Kommunist
Henze mit seinem pathetisch beschworenen Freiheitsbegriff. Nein,
Berio hatte im collageartigen Gespinst dieses Werks die Atmosphäre
des Ungestümen, des lustvoll sich Überschlagenden geschaffen.
In der im dritten Satz kongenialen Verbrüderung mit Mahlers
Scherzo (aus dessen zweiter Sinfonie), das von Berio als vorantreibendes
Transportmittel hin zum utopischen Jetzt verschraubt wurde, stürzten
Hoffnung und Angst unter dem Primat aktiven Handelns zusammen. Manch
einer sieht in dieser sich ins Tradierte zurücklehnenden Schau
in die Zukunft die initiale Zündung für ein postmodernistisches
Bewusstsein auf dem Gebiete der Musik.
Und als die in den 80er Jahren etwas stiller gewordenen Protagonisten
Kategorien des Lauschens, des hörenden Vernehmens für
sich entdeckten, war es wiederum Berio (zusammen mit dem Schriftsteller
Italo Calvino), der bei den Salzburger Festspielen mit seiner als
„Musikalische Handlung“ apostrophierten Oper „Un
Re in ascolto“ (es ist ein Wirbelspiel, eine Windhose in der
Umgebung von Shakespeares „Sturm“) das Thema des Hörens
oder besser des Horchens zum Gegenstand eines abendfüllenden
Werkes machte – in etwa zeitgleich zu Luigi Nonos Tragödie
des Hörens „Prometeo“. Dass Berio schon ab Ende
der 50er- Jahre mit seinen in den weiteren Jahrzehnten auf gut ein
Duzend Werke angewachsenen „Sequenza“-Reihe technisch
höchst artifizielle Solo-Etüden vorlegte, fügt sich
nahtlos in die Beispiele erfühlten oder wissenden Vorandenkens
von Berio – denn wie soll Neue Musik gespielt werden, wenn
die einzelnen Interpreten von den Komponisten allein gelassen werden?
1950 hatte Luciano Berio, der 1925 in Oneglia/Imperia geboren wurde,
die Sängerin Cathy Berberian geheiratet. Die Ehe hatte bis
1964 Bestand und wer Cathy Berberian (sie starb 1983) kennt, der
ahnt, dass das eine wild bewegte Zeit gewesen sein muss. Berberian
war exaltiert, sprunghaft, lebendig, sie verfügte über
mehrere Oktaven Stimmumfang und war in vergleichbarem Umfang offen
nach oben und unten in alle musikalischen Stilrichtungen. Sie sang
Monteverdi oder Zeitgenossen, bewegte sich souverän in diversen
folkloristischen Stimmtechniken und wusste auch Songs von den Beatles
einen ganz eigenen Stempel aufzudrücken. Das Ende der Ehe bedeutete
keinen Bruch der künstlerischen Zusammenarbeit. Schon 1958
hatte Berio im elektronischen Werk „Thema (Omaggio a Joyce)“
auf die Stimme Berberians zurückgegriffen – es war in
einer Zeit eloktroakustischer Experimente, die Berio mit der Gründung
des Mailänder „Studio di Fonologia“ 1954 wesentlich
mitbestimmt hatte. Später dann aber entdeckte er intensiver
die freien Ressourcen der Stimme und die 1964 auf der Basis unterschiedlicher
volksmusikalischer Melodien „für Cathy“ geschriebenen
„Folksongs“ (1973 für Orchester bearbeitet) wurden
wie die „Sinfonia“ weit über die Lager der neuen
Musik, ja über die der klassischen Musik hinaus bekannt.
Auch „Sequenza III“ für Stimme (1966) rechnete
mit den exorbitanten Möglichkeiten von Berberian. Das Stück
ist bis heute Messlatte für jede Frauenstimme, die sich im
Zeitgenössischen versuchen will. Spätestens hier war Berio
in guter italienischer Tradition zum Komponisten für Gesang,
für Belcanto in seiner weitest denkbaren Form avanciert. „Die
Stimme“, so merkte Berio an, „vom unverschämtesten
Geräusch bis zum vornehmsten Gesang, bedeutet immer etwas,
verweist immer auf etwas anderes außerhalb ihrer selbst und
schafft eine große Bandbreite an Assoziationen kultureller,
musikalischer, alltäglicher, emotioneller, psychologischer
Art.“
Eines ist hierfür Voraussetzung: Der Komponist muss zunächst
hinhören auf den Menschen – und dies in aller Bescheidenheit
und Unvoreingenommenheit gegenüber dem Klingenden: eine raue
Stimme, ein derber Fluch, eine geschraubte Äußerung,
ein schüchternes Laut-Geben, eine ausgefeilte Koloratur. Hören,
Hören, das Hören zwischen den Tönen wurde für
Berio immer mehr zur schöpferischen Prämisse. „Die
Töne erreichen den Hafen, das Theater, das Ohr, den großen
Hafen des Theaters Ohr… Hierher kehren die Töne zurück,
die von hier ausgegangen sind in diesem selben Augenblick. Mein
lauschendes Ohr empfängt jene Töne bei ihrer Rückkehr
anders als bei ihrem Ausgang: es sind die Töne vermehrt um
das Hören der Töne. Ich suche etwas, das mir zwischen
den Tönen gesagt wird und von dem ich nicht weiß, ob
ich’s mit Verlangen erwarten soll oder mit Angst.“,
lassen Berio/Calvino den Prospero in „Un Re in ascolto“
ausrufen. Und sie rufen hiermit nichts anderes als die eigenen Geister
herbei.
Vielleicht war dies auch eine Eigenart Berios: Er mischte sich
nicht ein, er lauschte von draußen. Und mehr und mehr wuchsen
beim Horchen neue Interessen hinzu. Nicht nur der Volksmusik galt
sein Ohr (nochmals nach den Folksongs besonders schön im Bratschen-Orchesterwerk
„Voci“ auf sizilianische Lieder), sondern auch den Hinterlassenschaften,
meist den unvollendeten, der klassischen Literatur. Monteverdi,
Bach, Brahms, Mahler, Puccini (Berio vollendete die „Turandot“),
englische Renaissanceliteratur und vielleicht besonders innig Schubert
im Orchesterwerk „Rendering“ wurden zum Gegenstand seines
Wirkens.
Bei Schubert etwa waren es die Skizzen zu einer kurz vor dem Tod
konzipierten D-Dur-Sinfonie. Nie tat Berio so, diese Aufgabe erfüllten
eher kläglich diverse Musikwissenschaftler, als könne
er das Unvollendete vollenden. „Rendering“, Berio bezeichnete
das Stück als „Liebesbrief an Schubert“, ist freilich
eine abgeschlossene, in sich runde Komposition. Aber sie integriert
das von Schubert nicht mehr Gedachte so, dass keine Zweifel aufkommen.
Berio komponierte gewissermaßen Kitt, sicht- und hörbare
Fugen, aus denen wie Fenster die Skizzen von Schubert hervorleuchten.
So etwas zu tun verlangt Ehrfurcht und Anstand, es verlangt so genaues
Hören, dass es ganz selbstverständlich vom Nicht-Machbaren
überzeugt ist und überzeugt. Geschichte, auch das wollte
Berio sagen, ist nicht zu reparieren. Was sie verschlungen hat,
ist unwiederbringlich verloren. Und dennoch lohnt die Mühe:
Denn die Einsicht in die Unvollkommenheit des Daseins wächst
hinzu.
„Da ist eine Stimme, verborgen unter den Stimmen, die aufklingt
und wieder schwindet… Du, sagt sie, oder ich, sagt sie. Erinn’re
dich. Ich erinn’re die Erinnerung, sagt sie, doch ich will
die Erinnerung nicht erinnern, die da aufsteigt… Doch vielleicht
ist es statt der Erinnerung die Erwartung, der Moment am Ende…
mein Ende, das deine… Da ist eine Stimme, die redet von mir,
begraben unter den Stimmen in mir, im Horchen… Du stirbst
sagt sie. Ich habe Angst.“ Das sind die letzten Worte von
Prospero, die letzten Stimmen, die er hört: am Ende von „Un
Re in ascolto“.
Am Dienstag, dem 27. Mai 2003, ist der Komponist Luciano Berio
nach längerer Krankheit in Rom gestorben. Wieder einer von
den großen Alten, und manchmal hat man den Eindruck, als würden
heute mehr wegsterben als junge Komponisten von Rang nachwachsen.
Berio hätte vielleicht entgegnet: Man muss nur horchen, immer
ins Neue hinein.