Wolfgang Mitterers „Massacre” bei den Wiener Festwochen
uraufgeführt
Die Darstellung von Gewalt in der Kunst ist ein unerschöpfliches
Thema. Was kann Kunst überhaupt über Gewalt mitteilen,
was darf sie darstellen? Gibt es Grenzen der Darstellbarkeit? Grenzen,
die von der Kunst, ihren Ausdrucksmitteln selbst gezogen werden,
aber auch durch die Rezeptionsfähigkeit des betroffenen Publikums:
Was kann ein Mensch im Theater, im Film, vor einem Bild ertragen,
wenn es um die Abbildung von Mord, Totschlag, Folter und Vergewaltigung
geht?
Dabei sind zugleich die ästhetischen Abgrenzungen der ein-
zelnen Gattungen zu beachten: Das realistische Filmbild wirkt bei
Gewaltdarstellungen in der Regel direkter , aggressiver, auch abstoßender
auf den Betrachter als das oft nur „scheinbar” statuarische,
beruhigte Gemälde. Das liegt auch daran, dass im Film, ebenso
auf dem Theater oder in der Oper, lebendige Menschen, eben die Schauspieler-Sänger,
die Gewalttätigkeit exekutieren, indem sie diese entweder möglichst
realitätsnah vorspielen oder (vorsichtshalber) in stilisierte
Formen, Gesten, Bewegungen überführen. Wenn auf dem Theater
im Spiel ein Mensch gequält wird, besteht stets die Gefahr,
dass ein sensibler Zuschauer das Gezeigte in seine persönliche
psychische Sphäre versetzt und dann entsprechend empört
protestiert: auch in einer Form der inneren Abwehr. Der Zuschauer
will das auf der Bühne nicht so drastisch vorgeführt bekommen.
Man weiß ja, dass so etwas in der Realität geschieht,
doch in der Kunst muss doch nicht alles gezeigt werden: die Andeutung
würde genügen. Das Theater argumentiert dagegen: das Phänomen
der Gewalt kann nur dann nachvollziehbar erfahren werden, wenn sich
auf der Szene oder im Filmbild diese Gewalt für den Zuschauer
als physische Bedrängung und Bedrohung mitteilt.
Man müsste Beispiele anführen, um die komplexe Thematik
begreifbarer und anschaulicher werden zu lassen: Pasolinis „Saló”-Film,
Sam Peckinpahs Filme mit ihren oft zeitlupenhaft choreographierten
Gewaltsequenzen, Luc Percevals theatralischer Zusammenschnitt der
Shakespear’schen Königsdramen und deren Gewaltexerzitien
– das wären einige Titel für die Diskussion. Adornos
fragenden Zweifel, ob es möglich sei, nach Auschwitz noch lyrische
Gedichte zu schreiben, beantwortete Paul Celan mit seiner „Todesfuge”
– doch Adornos Frage behält unverändert ihre Richtigkeit:
Was kann, was darf Kunst auf Ungeheuerliches antworten?
Ungeheuerliches, das einmal geschah, gleitet mehr oder weniger
rasch in die Historizität. Das Schreckliche wird zum effektvollen
Schauerdrama. Nur mit äußerster, retrospektiver Anstrengung
könnte man sich in die Seelen jener Hugenotten zurückversetzen,
die anno 1572 in der so genannten Bartholomäusnacht in Paris
zu Tausenden hingeschlachtet wurden. Als Christopher Marlowe 1592
sein Drama „The Massacre at Paris” schrieb, mag er die
Vorgänge vielleicht noch als politische Gegenwart empfunden
haben. Doch in Giacomo Meyerbeers Hugenotten-Oper dienen die einstigen
Schrecknisse vor allem als eine Art couleur locale für ein
bewegendes Liebesdrama.
Dabei besitzt die Musik eine eigene Sprachfähigkeit, um zum
Thema Gewalt etwas zu „sagen”: Grelle Klänge, scharfe
Dissonanzen, gezackte Rhythmen, harte Schläge der Percussion,
weitgespannte Gestik – Bartóks „Wunderbarer Mandarin”
fällt einem spontan ein, auch Strawinskys „Sacre du Printemps”
oder der „Tanz ums Goldene Kalb” in Schönbergs
„Moses und Aron”. Eine spezifische Gewaltfähigkeit
liegt ohnehin im musikalischen Ausdruckskanon und harrt nur der
Entbindung im rechten dramatischen Augenblick, in der Oper, in Oratorium
und Passion, aber auch in rein instrumentaler Musik: ein weites
Feld.
Wer einmal Konzerte des österreichischen Musikers und Komponisten
Wolfgang Mitterer (geboren 1958 in Osttirol) besucht – besser:
durchlebt – hat, versteht rasch, was Mitterer an der Behandlung
des Bartholomäus-Stoffes wohl gereizt hat: das Phänomen
einer gesellschaftlich begründeten Gewalt und Aggression, die
von einem bestimmten Augenblick an nicht mehr zurückgenommen
werden kann und sich hemmungslos ausbreitet. Mitterer vertont nicht
die alte Geschichte aus Paris anno 1572, als anlässlich der
Hochzeit des protestantischen Königs von Navarra mit der katholischen
Prinzessin Marguerite von Frankreich sechzehntausend hugenottische
Festgäste auf Veranlassung des Herzogs von Guise brutal „massakriert”
wurden. Mitterer montiert zusammen mit Stephan Müller in seinem
„Massacre” (englisch ausgesprochen) unter Verwendung
von Marlowes Schauspiel achtzehn Szenen, die man als aktuelle Variationen
zum Thema Gewalt betrachten kann. Fünf Sänger und vier
Tänzer sowie ein Ensemble von neun Instrumentalisten erstellen
mit Hilfe von vorbereiteten Tonbändern raffiniert ausgeklügelte
Hör-Bild-Räume, in denen choreographierte Aktionen zitathaft
die historischen Vorgänge suggerieren, die dann jedoch radikal
davon abstrahieren zu einer dichten Folge von Gewaltszenen, in denen
sich die Psychologie der Gewalt eindringlich spiegelt. Dieses „Massacre”
ereignet sich heute in Nordirland und im Baskenland ebenso wie im
Nahen Osten und vor kurzem noch auf dem Balkan – weiter zurück
in die neuere Geschichte füllt sich die Statistik noch schneller
und bedrückender auf. Mitterers Musik, basierend auf den Ausdrucksmitteln
von elektronischer Musik und experimentellem Jazz, verknüpft
mit den Techniken kollektiven Improvisierens, besitzt meist einen
äußerst expansiven Gestus, dem es nicht an struktureller
Raffinesse fehlt. Für seine erste „Oper” nun schien
sich der Komponist Zügel angelegt zu haben. Mitterer organisiert
gleichsam eine kompositorische Struktur, in der sich psychische
Zustände musikalisch abbilden: der Ausbruch von Gewalt, die
Stille der Angst, die Brutalität des Kampfes, Mordgier und
gefährliche Ruhe. Mitterer verbindet elastisch elektronische
Zuspielungen mit verstärktem Live-Instrumentarium, in den mal
gedehnten, mal sich verengenden „Klangraum” ergießen
sich, ebenfalls verstärkt, Singstimmen in oft schwindelerregenden
hohen Frequenzen: die Hysterie in der Katastrophe. Mitterers „Massacre”-Klang-Raum
funktioniert auch als Psycho-Laboratorium: Die Musik verweist fast
wissenschaftlich streng auf die Störungen eines Bewusstseins,
was solche Katastrophen erst möglich werden lässt.
Die Inszenierung des Choreografen Joachim Schlömer reagiert
präzise auf die kompositorischen Vorgaben: Die Sänger
und Tänzer spielen keine Rollen, sondern changieren zwischen
den Figuren, benutzen ihre Körper und Glieder zu plastischen
Demonstrationen, ballen sich in der Gruppe zu eindringlichen Großformen.
Man betrachtet gleichsam eine Anleitung zur Ausbildung von Gesten
und Gebärden der Gewalt, bei der vielleicht noch etwas zuviel
mit Theaterblut und schwarzer Todesfarbe herumgespritzt wird. Zwischen
dem hohen Kerzenarrangement (Bühnenbild Katrin Brack) vollziehen
sich die Rituale eines Theaters der Grausamkeit, dessen Requisiten
nicht unbedingt neu sind, aber im Einklang mit der Musik eine vitale
Funktion übernehmen. Die Intensität der Aufführung
verdankte sich nicht nur ihrem experimentellen Elan, sondern auch
dem vitalen Engagement der Mitwirkenden: der Sänger Georg Nigl
(Guise) und Alexander Plust (König), der Sängerinnen Annette
Stricker, Katia Plaschka, Bettina Pahn, Ingrid Weisfelt, vor allem
aber des Dirigenten Peter Rundel und seiner Instrumentalisten.