Theater nach Aischylos: Von Klaus Lang in Aachen und von Frederic
Rzewski in Bielefeld
Dass Kampf oder Antagonismus der „Vater aller Dinge, aller
Dinge König“ sei, wird neuerdings nicht nur durch die
real sich vollziehende Politik in Erinnerung gebracht. Auch das
Musiktheater erinnert, bewusst oder instinktiv, derzeit wieder verstärkt
an jenen Satz, der von jenem „dunklen“ Philosophen aus
Ephesus in Erinnerung blieb, der in der Ära der Perserkriege
folgenträchtig über die Einheit der Gegensätze wie
über Wechsel und Wandel auf Erden nachdachte (auch panta rhei
wurde ja Heraklit zugeschrieben).
Am Anfang der Operngeschichte stehen Werke mit antiken Stoffen.
Und periodisch kehrt das Musiktheater zu ihnen zurück. Zu Zeiten
gehäuft. Allein in diesem Jahr war bereits die Uraufführung
einer neuen größerformatigen „Medea“ von
Michèle Reverdy in Lyon anzuzeigen (und damit eine Handlung
aus der Frühgeschichte von Korinth), eine populär konzipierte
Achilleus-Oper von Wim Henderickx in Antwerpen (mit dem Hintergrund
des Trojanischen und dem Vordergrund des aktuellen vorderasiatischen
Kriegs) sowie mit „Oedipe sur la route“ von Pierre Bartholomée
in Brüssel eine Wegbeschreibung vom altklassischen Theben nach
Kolonos.
So abseitig das Sujet der „Ägyptischen Helena“
vor einem dreiviertel Jahrhundert als Folie für ein halbwegs
modernes Ehedrama in Dresden anmutete, so exotisch kommt heute im
Kontext einer cross-over-funkelnden „Big-Band-Oper“
bei der RuhrTriennale Heliogabal des Wegs – die Biographie
jenes Varius Avitus Bassianus, der als Vierzehnjähriger zum
Hohen Priester des syrischen Sonnengottes Elagabal auserkoren, von
seiner ehrgeizigen Großmutter 218 n. Chr. zum Kaiser von Rom
promoviert wurde, dort das Volk mit Nacktheitskult und aberwitzig
teuren Orgien in Raserei versetze, bereits vier Jahre später
weggeputscht und ermordet wurde. An antiken Stoffen des Vorderen
Orients liegen allerdings „Die Perser“ sehr viel näher,
da diese früheste der erhalten gebliebenen Tragödien Sentenzen
von fast atemberaubender Aktualität enthält, jedenfalls
auf höchst bemerkenswerte Weise die kriegerischen Aspekte auch
der Gegenwart kommentiert. Den neuerlichen Rekurs auf Aischylos
suchten nun zeitgleich zwei Produktionen in Nordrhein-Westfalen,
die auch von der Landes-Kulturpolitik gefördert wurden: Die
Musikfabrik NRW bedachte das Stadttheater Bielefeld mit einer Arbeit
des amerikanischen Komponisten und Pianisten Frederic Rzewski, Klaus
Lang erfüllte einen Auftrag des Stadttheaters in Aachen.
Ritt auf dem Gis
Die Schlacht bei Marathon hatte bekanntlich weitreichende Folgen.
Sie stoppte für’s Erste den großen Vormarsch der
im Auftrag des Großkönigs Darios ausgerückten persischen
Hegemonialmacht nach Westen. Später setzte sie Millionen Menschen
– im Andenken an den Boten, der um den Preis seines Lebens
die Siegesnachricht nach Athen brachte – in Bewegung. Zunächst
bedeutete sie für Xerxes, den Sohn und Erben in Susa, die große
Herausforderung: Er wollte die Scharte auszuwetzen, die untereinander
zerstrittenen griechischen Städte liquidieren und ihr Land
seinem Weltreich einverleiben. Die größte Flotte, die
die Menschheit bis dahin gesehen habe, wurde mitsamt der Millionen-Armee
bei der Insel Salamis vor Athen versenkt. Beiläufig bescherte
dieses Massaker der Menschheit das erste erhalten gebliebene Drama.
Aischylos, einer der Helden von Marathon, referierte die Geschehnisse
aus der Perspektive der doppelten Verlierer und warnte die Sieger,
seine attischen Landsleute, vor Hybris. Klaus Lang aus Graz, Jahrgang
1971, als Organist und Komponist ausgebildet, kondensierte sich
einen Text aus dem ältesten Drama, wofür er sich eigens
die Grundlagen des Altgriechischen aneignete. Auch kompositorisch
hielt er Nachlese: Das semantisch nur in Bruchstücken wahrzunehmende
Wort geht weithin in den ruhigen Klang-Stoppelfeldern auf, die aus
gewaltigen Partiturseiten resultieren (bis zu 80 Liniensysteme türmen
sich übereinander). Die verhaltene, oft stockende, mitunter
verstockt wirkende Musik beschwört Schrecken des Kriegs mit
elementarer Intensität. Sie nutzt den Texthintergrund für
große ruhige Gesten, in denen das vokale Moment mit dem orchestralen
zusammenfließt: das groß und flächig Wirkende konstituiert
sich aus winzigen Partikeln. Wie aus tiefem Dunkel glimmt der Ton.
Mitunter vermeint man einen Ruf aus unbestimmter Ferne zu vernehmen
oder ein Stöhnen ziemlich nah. Das vorwaltende vierfache Pianissimo
wurde unter Leitung von Kapellmeister Jeremy Hulin als dezentes
Mezzo-Piano präsentiert (wobei die dynamischen Vorschriften
in hohem Maß eine Intention andeuten, die auch von Klangkörpern
mit größerer Erfahrung in den Gefilden radikal neuer
Musik nicht ganz realistisch umgesetzt werden könnten); die
drei Fortissimo-Ausbrüche, Zeitzeichen des Martialischen, könnten
sich noch drastischer abheben.
Manche Ohren wollen die zum ausgedehnten Muster sich entrollende
Kleinteiligkeit der neuen Partitur von Klaus Lang auf die Symphonien
von dessen Landsmann Anton Bruckner beziehen, mit den ihn auch die
Herkunft von der Orgelbank verbindet. Doch sind die Vorbilder für
die Gewinnung von großer Klangvielfalt und -schönheit
aus sorgsam zusammengewirkten Details eher bei Langs Lehrer Beat
Furrer zu finden. Mit den Formen, Gesten und Gesinnungen des ober-
und niederösterreichischen 19. Jahrhunderts hat Langs wie selbstvergessen
wirkende Modernität wohl kaum etwas am Hut.
Die aktuelle Bedeutung der aus fernen Zeiten und durch die hermetische
Kunstförmigkeit hindurch grüßenden Aischylos-Partikel
unterstreicht die wie in einen Setzkasten gepackte statische Bebilderung
des Aachener Intendanten und Regisseurs Paul Esterhazy. Zwischen
einer Leichenkammer, in der eine bleiche Hand noch zuckt, und dem
Aktenraum, aus dem die Sopran-Partie des Xerxes dringt: eine (fächerübergreifende)
Sanduhr, die Mutter des Großkönigs mit den Urnen der
Ahnen hantierend, der Bote als armer Schuster im Keller so duster,
eine Bar für die Kämpen, eine Zirkus-Prinzessin mit vielen
Lufteiern, ein leeres Fach (in dem nur einmal ein Terroristen-Portrait
auftaucht) und ein ewig grinsender Cowboy, der von Zeit zu Zeit
in Trab fällt, dabei jedoch ein schlichter Walker bleibt. Er
reitet keinen Gaul, sondern auf dem tiefen Gis. Nicht in der insgesamt
statischen, im Detail akkurat bespielten Regal-Installation, sondern
aus den Reihen des Orchesters taucht die markante Bassstimme von
Claudius Muth als die des mahnenden Darius: „dass, wer sterblich,
nicht zu hoch muss denken“.
Was ist, wenn es zu spät ist?
„Die Perser“
von Frederic Rzewski in der Bielefelder Inszenierung von
Andrej Woron. Foto: Matthias Stutte
Eine Woche nach den neuen „Persern“ in Aachen, ausgehend
vom selben uralten Text, ebenfalls relativ neu und auf die Hybris
der Supermacht zielend: in Bielefeld das „Perser“-Theater
von Frederic Rzweski (Jahrgang 1938). Auszüge aus den Tagebüchern
des Autors unterstreichen, wie sehr die Zeitgeschichte ihn motivierte,
als er sich Mitte der 80er-Jahre daran setzte, für verschiedene
französische Theater ein Bühnenstück im engeren Sinn
zu entwickeln (seit 1977 ist Rzewski Kompositionsprofessor in Liège):
„Ein AWACS-Flugzeug schwebt über mir (…) Musik
muß die Realität wiederspiegeln. Die Realität ändert
sich. Darum muß die Musik sich ändern. (…) Was
ist, wenn es zu spät ist? Wenn man nichts mehr tun kann?“
(1984). „Nicht einer war fähig, es anzuhalten (…).
Nichts kann mich wirksamer von dem hungernden Äthiopier trennen
als der Kasten, der ihn in mein Wohnzimmer bringt“ (1985).
Auch Andrej Worons „Perser“-Realisierung in Bielefeld
erscheint voll von Zeichen der politischen Bekundung: Sie sorgt
gleichfalls von Anfang bis Ende dafür, dass die Botschaft unmittelbarer
genommen werden muss. Einzelfeuer, brutal gesetzte Schüsse
hinterm Blechtor, weisen den akustischen Weg. Dann hängt der
Himmel voller Flieger: Der siebenköpfige Reichsrat zu Susa
gafft dem Entschwinden einer Armada von papiernen Jagdbombern nach.
Derweil rieselt leise der Kalk oder der Sand, der die Zeit bemisst:
Die Krieger kommen nicht zurück vom Hellespont. Wiebke Frost,
als „Chorführerein“ eine mit modernen Medienwassern
gewaschene Schlange, moderiert mit atemberaubender Anschmiegsamkeit
die wechselnden Stimmungslagen in der Hauptstadt; Combo und Batterie,
in zwei Etagen rechts und links von der Bühne postiert, sekundieren
der Rekonstruktion eines Fiaskos. Die Analyse der globalen Interessen,
des Finanzmarkts und der Rüstungsanstrengungen kommt zielstrebig
zur Sache.
Frederic Rzewski nahm Anleihe bei der Form des Radio-Lehrstücks
von Bertolt Brecht und Kurt Weill aus den späten 20er-Jahren,
schaltete wilde freie Schlagzeug-Improvisation zwischen die Sprechszenen
und Sprechgesangs-Partien. Mancher Solo-Song verweist auf Hanns
Eislers Hollywood-Lieder und der Klang der Steine auf das, was Josef
A. Riedl in den 70erJahren veranstaltete. Überhaupt erinnern
die scharf profilierten Tableaus intensiv an gewisse Ansätze
politischen Theaters nach 1968. Das entwickelt heute wieder eigentümlichen
Charme, zumal durch die surrealistischen Brechungen Worons, die
bei der Beschwörung des toten Darius, der Babylonischen Sprachverwirrung
und dem Stühlerücken bei Rückkehr des Xerxes aus
dem Krieg ihre besten Momente vorweisen. Kaputt. Müll. Tod.
Das Stadt-Musiktheater in Aachen und Bielefeld ist jetzt ganz
vorn. Es hat seine zugleich bildungsträchtigen und politisch
gemünzten Hausaufgaben für’s erste wieder erledigt.
Besser als manches der ganz dem Neuen verschriebenen Festivals.