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Ausgabe 2003/06
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nmz-archiv

nmz 2003/7-8 | Seite 49
52. Jahrgang | Jul./Aug.
Dossier: Zukunftswerkstatt
Wettbewerbe

Schutzverein „Klassische Musik“ contra Musik-Gala-Event?

Weimarer Gespräch: „Jugend musiziert“ zwischen Reform, Reaktion und Realität

Wie geht es weiter mit den Wettbewerben „Jugend musiziert“? Angesichts der Erfolgsmeldungen – Teilnehmer-Rekord, hohe Akzeptanz in den Ausrichter-Städten – eine scheinbar müßige Frage. Dennoch raschelt es hinter den Kulissen. Die einen fordern tiefgreifende Reformen, andere haben Bedenken, am sichtlich erfolgreichen Konzept zu rütteln. Die Situation stellt sich nicht zuletzt als ein sehr mühsames Aufeinander-zu-bewegen unterschiedlicher Kultur-Verständnisse dar. Mitten in diesem Spannungsfeld steckt „Jugend musiziert“. Auf Anregung der nmz fand sich während des letzten Bundeswettbewerbes eine Gesprächsrunde zusammen, die über Zustand und Zukunft der Wettbewerbe ausführlich und teils recht kontrovers debattierte. Nachfolgend die markantesten Original-Töne aus dieser Diskussion, an der Barbara Haack (Leiterin ConBrio Verlagsgesellschaft, Vorstandsmitglied der Jeunesses Musicales Deutschland), Reinhart von Gutzeit (Vorsitzender des Hauptausschusses von „Jugend musiziert“ und Direktor des Linzer Bruckner-Konservatoriums), Christian Höppner (Musikschulleiter und Mitglied des geschäftsführenden Präsidiums des Deutschen Musikrates), Martin Hufner (Musikwissenschaftler und nmz-Redakteur), Jürgen Stark (Publizist und Manager von School-Tour, einem Projekt der Deutschen Phono-Akademie) sowie als Moderator nmz-Herausgeber Theo Geißler teilnahmen. Eigentlich sollten in dieser Gesprächsrunde Perspektiven und Modifikationen für den Bundeswettbewerb „Jugend musiziert“ angdacht werden, allerdings stellte sich recht schnell heraus, dass die Sichtweisen der immer noch existierenden Paralleluniversen U und E offensichtlichstark differieren. Auch die gesamte Positionierung des Deutschen Musikrates als Träger von „Jugend musiziert“ geriet stark in den Disput.

Theo Geißler: In Neuss gab es 1997 eine Zentral-Konferenz der verantwortlichen „Jugend musiziert“-Gremien, bei der nicht nur weitgehende Modifikationen des Wettbewerbs beschlossen, sondern auch in Gang gebracht wurden. Lassen Sie uns ein wenig bilanzieren, wie sich das ausgewirkt hat. Ferner sollten wir über größere und kleinere Beeinträchtigungen reden, die das Projekt „Jugend musiziert“ im Rahmen der Instabilität des Musikrates während der letzten zwei bis drei Jahre erlitten hat…

Anna Magdalena Euen.
Foto: Erich Malter

Reinhart von Gutzeit: Neuss war keine einfache Tagung. Es gab gegen alle Reform-Vorschläge zunächst erhebliche Vorbehalte, besonders gegen den Dreijahresrhythmus, der als ein Wegnehmen von Chancen für manche Teilnehmer empfunden wurde. Bis dahin gab es eine Ungleichbehandlung: bestimmte Instrumente – Klavier, Geige und viele andere – waren alle 2 Jahre zur Solowertung eingeladen, weniger “etablierte” hatten nur alle drei Jahre die Chance, etwa die Orgel. Wir haben dann einen Dreijahresrhythmus für die Solowertung sämtlicher Instrumente eingeführt. Dennoch kann man sich jedes Jahr mit jedem Instrument bewerben, weil in den anderen Jahren Ensemblewertungen oder besondere Bewertungskombinationen angeboten werden. Wir wollten damit eine Demokratisierung der Instrumente erreichen, außerdem wollten wir ein größeres Interesse für die Ensemblewertungen hervorrufen. Heute ist diese Aufwertung des Ensemblespiels von allen akzeptiert und sehr begrüßt.

Geißler: Es gab dann den Beschluss, das Instrumentarium zu erweitern hin zu den so genannten besonderen Besetzungen und zu Instrumenten Alter Musik…

Von Gutzeit: ...es ist noch ein Drittes hinzugekommen, die Experimentelle Musik. Es gibt in der Neuen Musik viele Werke mit ganz ungewöhnlichen Besetzungen. Diese Werke tauchten im Wettbewerb nicht auf, weil Jugend musiziert die Auflage macht, dass man Werke aus mindestens drei Epochen spielen muss. Die gibt es aber für solche exotischen Besetzungen in der Regel nicht. Die drei in Neuß beschlossenen Kategorien – Alte Musik, Experimentelle Musik, Besondere Besetzungen - sind von den Teilnehmern überwältigend aufgenommen worden und haben den Wettbewerb enorm bereichert. In diesem Jahr ist eine Wertung Musical hinzugekommen – ein inhaltlicher Quantensprung mit sehr ansprechenden Resultaten.

Geißler: Bleiben wir bei den Reformen von Neuss. Existierten zu der Zeit Überlegungen, Instrumente, Stilrichtungen aus dem „Paralleluniversum“, aus dem Rock- und Pop-Bereich zu integrieren, vielleicht auch Überlegungen, Instrumente anderer Kulturen einzubeziehen?

Von Gutzeit: Allenfalls am Rande. Wir waren uns allerdings bewusst, dass sich mit der Ausschreibung für Neue, experimentelle Musik, die zwangsläufig allen Instrumenten und allen Möglichkeiten elektronischer Veränderung offen stehen muss, auch eine Rockband angesprochen fühlen kann. Diese Bands sind aber noch nicht bei Jumu aufgetaucht.

Paralleluniversum

Geißler: Springen wir direkt in das oben zitierte „Paralleluniversum“. Seit vielen Jahren bauen sich in der Welt des Rock und Pop scheinbar losgelöst vom „klassischen“ Musikbetrieb eigenständige Strukturen auf, Wettbewerbe, Fördermaßnahmen…

Jürgen Stark: Begonnen hat das in den 70er-Jahren mit Musikinitiativen und Vereinen, die das Ziel hatten, im Bereich der Infrastruktur zu wirken, und letzten Endes auch den Wettbewerbsgedanken aufgriffen. In der Popkultur gab es Wettbewerbe schon zu den Zeiten der Beatles (Stichwort: Band Battle oder Je-Ka-Mi = Jeder kann mitmachen). In den 70er-Jahren begann man, sich organisatorisch quasi als Selbsthilfegruppe zusammenzuschließen. Daraus resultierten dann wieder einige Wettbewerbe und Vereinsgründungen, Anlehnungen an Medienpartnerschaften, es gab das NDR-Hörfest oder das Ruhrrock-Festival, es gab ab 1990 den John-Lennon-Talent-Award, und es hat sich schon vor vier, fünf Jahren abgezeichnet, dass es zu einem Wettbewerb der Wettbewerber kommen müsste.

Den haben wir heute, den haben wir auch vor dem Hintergrund nicht nur der knappen Kassen, sondern eigentlich auch vor dem Hintergrund, dass sich hier ein historischer Schritt vollzieht, momentan ganz deutlich abgebildet in der Gründung einer ersten Popakademie in Mannheim und dem ebenfalls in Gründung befindlichen rock’n’popmuseum in Gronau, welches ebenfalls Bildungsziele verfolgt. Die Popakademie wird am Tag ihrer Eröffnung allerdings schon wieder ein Stück Anachronismus sein wird, denn letztendlich geht es inzwischen immer stärker um die Durchsetzung umfassender Professionalisierung oder Ausbildung und das bedeutet, dass Popkultur endlich die gebührende Anerkennung findet und – wie teils schon in der Weimarer Republik – populäres Entertainment allseits kompetente und ganz gewöhnliche Ausbildungs- und Förderangebote erhält.

Geißler: Wir haben also auf der Seite der E-Musik eine gewachsene Förderungsstruktur, die sehr stark auf ehrenamtlicher Initiative fußt, die sich andererseits relativ wenig um die sogenannte Popularmusik gekümmert hat. Dahinter stand mit Sicherheit eine Werteüberlegung und eine Werteabwägung. Kann man die beschreiben um zu verstehen, warum sich der Deutsche Musikrat mit dem „Paralleluniversum“ kaum befasste?

Christian Höppner: Ich bin da eigentlich der falsche Ansprechpartner, weil ich in einer Zeit zum Musikrat kam, in der wir im Präsidium merkten, dass manche Themenstellungen zu eng fokussiert waren. Wir trugen immer stolz vor uns her, dass wir acht Millionen Menschen in dieser Republik vertreten. Ich stellte damals die Frage: „Was ist mit den Übrigen?“ Welche Möglichkeiten gibt es nun, diesen Rest zu erreichen? Wenn ich diese Fragestellung auf „Jugend musiziert“ herunterbreche, dann wird auch durch das, was Reinhart von Gutzeit gesagt hat, deutlich, was für eine innovative Kraft dieser Wettbewerb in den 40 Jahren seines Bestehens entwickelt hat. Wie er sich vernetzt hat und wie geschaut wurde, „was gibt es noch um uns herum?“ Das Musical ist so ein Beispiel. Wenn man allerdings von dem Namen „Jugend musiziert“ ausgeht, dann ist ja noch nicht definiert welche Jugend und welche Musik gemeint ist, und als Drittes ist noch nicht vorgegeben, in welcher Form das stattfinden soll. Wir haben also einen wunderbaren Begriff, der Programm sein kann für Bildungs- und Kulturpolitik, der sich aber zu einer Marke entwickelt hat, die sagt, es handelt sich hier um den Wettbewerb. Für mich ergibt sich daraus die Aufgabe, darüber nachzudenken, wie wir den Blick weiten und neue Fenster öffnen können, ohne die Qualitäten der „Marke“ „Jugend musiziert“ zu beeinträchtigen. Wie können wir es aber gleichzeitig schaffen, den Markenbegriff durch einen Überbau zu erweitern, der auch die anderen Projekte des Musikrates in den Zusammenhang „Jugend musiziert“ stellt. Dann könnte „Jugend musiziert“ zu einer Botschaft werden, die der fach- und musikpolitischen Arbeit des DMR neue Schubkraft und Wirksamkeit verleiht.
Geißler: Bevor wir das Fenster weiter öffnen, noch ein Blick auf die vorhandenen Institutionen der Rock- und Popmusik…

Stark: Fangen wir mal bei der Musikindustrie an. Die ist eigentlich ein ganz gutes Beispiel: Denn bei der Musikindustrie beziehungsweise ihrem Kulturinstitut, der Deutschen Phono-Akademie, da macht man Echo-Klassik und Echo-Pop, und da hat man im Katalogbereich die Klassiker, Jazz, Hip Hop, also alle Musikstile der Welt. Da gibt es diese Unterschiede und diese Problematik doch gar nicht. Wenn man in die Szenen geht und sich Richtung Popkultur bewegt, dann hat es zum Beispiel immer schon Formen der Zusammenarbeit mit Landesmusikräten und den Alibi-Minietat-Verwaltern in Städten und Ländern gegeben. Eines sollte man aber nicht länger verschweigen: Es sollte doch eigentlich allen Beteiligten klar sein, dass da ein ziemlich brutaler Etikettenschwindel über Jahre betrieben worden ist, mit einem geschmacksfaschistischen Majorisierungsanspruch.

DMR minus Popkultur

Wenn man sagt Deutscher Musikrat minus Popkultur, dann ist das wie Deutscher Sportbund ohne Fußball. Wer hier von „Rest“, „Rand“ und „Exotenkultur“ spricht, der entlarvt eine fast schon antikünstlerische, aber mindestens antiliberale Haltung, die mehr mit Ideologieersatz als mit Musikliebhaberei zu tun hat. Wenn man sagt „Jugend musiziert“ und dann eigentlich gar nicht ausweist, welche Form von Musik dort auf die Bühne kommt, dann finde ich das einfach dreist.

Und diese Marke suggeriert natürlich ganz hinterhältig gegenüber den Kulturverwaltern der Fördertöpfe, dass bei diesem Wettbewerb „die“ Jugend die Musik macht. Wir kommen auch nicht weiter, wenn wir die Dinge nicht so benennen, wie sie sind, und das heißt für mich: Die „Reichskulturkammer“ muss endgültig aus Deutschland verschwinden, denn was wir nach 1945 als Zäsur erlebten, war vielfach ein Hinüberretten extremster konservativster Auffassungen bildungsbürgerlicher Eliten, die ihre Abneigung gegen die „Negermusik“ im Unterhaltungsbereich munter weiter und deutlich artikulierten. Nur so wird der katastrophale Zustand des Musikunterrichts an deutschen Schulen erklärbar, wo man ihn für die Kinder der unteren Schichten an den Grund- und Hauptschulen inzwischen fast flächendeckend ganz abgeschafft hat, während er dort, wo es ihn noch gibt, mindestens unmodern, altmodisch und nur in Ausnahmen von pädagogischen Einzelkämpfern attraktiv und zeitgemäss gestaltet wird. Die Klassik ist weitgehend stur weitermarschiert und hat sich an vielen wichtigen Diskursen der letzten Jahrzehnte gar nicht beteiligt, sie hat sich gesellschaftlich isoliert, funktioniert aber als elitäre Waffe gewisser Kreise immer noch ganz prächtig. Damit wird man der Klassik überhaupt nicht gerecht, dieses Erbe gehört demokratisiert und Volksnähe darf man nicht allein André Rieu und den Drei oder Zehn Tenören überlassen.

Geißler: Welche Diskurse waren das denn? Wer hat sich woran nicht beteiligt?

Stark: Es gibt gerade in der Klassik an der praktizierenden Basis hervorragende Modelle mit denen wie zum Beispiel an der Hamburger Opera Stabile Jugendliche für Klassik sehr modern animiert werden, gleichzeitig wird bei diesem Projekt mit Unterstützung der Deutschen Phono-Akademie das Thema Musikunterricht an allgemein bildenden Schulen aufgegriffen und inhaltlich für die Medien und die Politik aufbereitet. Da bilden letztlich Künstler dann den Bezugsrahmen für wichtige kulturpolitische Forderungen, bei denen im Umkehrschluss nicht mehr zwischen Klassik und Pop unterschieden wird. Doch die Diskurse hierzu kommen hauptsächlich aus der Popszene, es war Udo Dahmen, der unlängst forderte, dass die Ausbildung unserer Musikpädagogen revolutioniert wird und der Klassik nicht mehr diese Bedeutung gegeben werden darf, sie ist wichtiger Part, aber nicht mehr für eine Federführung geeignet, oder wie Udo Dahmen sagt: „Das heißt nicht keine Klassik mehr, aber – bitte schön – alles an seinen Platz!“ Wir haben noch ganz andere Diskussionen in der Jugendkultur erlebt: darf ich, kann ich überhaupt deutsch singen. Heute ist es ein Anachronismus, wenn diese Frage hinlänglich beantwortet wird durch Einwandererkinder der dritten Generation, die oft besser deutsch sprechen als so mancher Deutsche. Die Frage ist also, wie wir die Gräben der Vergangenheit endgültig zuschütten können und die fatalen Folgen der NS-Kulturdiktatur beseitigen. Mir geht es darum, die Brücken zu bauen, über die alle Beteiligten gehen können, das heißt zum Beispiel auch, dass wir das Hobby und den Musikamateur dringend aufwerten müssen.

Höppner: Ich habe ja gerade von der Notwendigkeit gesprochen, den Blick auf die gesamte Gesellschaft zu erweitern. Da gibt es, auch bei „Jugend musiziert“, Nachholbedarf. Wenn man mitgestalten will, ist Teilnahme an Gremien, das Sich-Beteiligen bei den Aktivitäten, der richtige Weg und nicht eine beleidigte Verweigerungshaltung.

Martin Hufner: Reinhart von Gutzeit ließ durchblicken, dass in den Gremien von „Jugend musiziert“ Bedenken vorherrschen, das Profil unscharf werden zu lassen. Drückt sich da nicht eine ganz bestimmte Form von Angst aus: Woran orientiert sich „Jugend musiziert“? Am aktuellen gesellschaftlichen Umfeld oder an dem Profil, das bei „Jugend musiziert“ als Institution und Organisation in vierzig Jahren gewachsen ist?

Marke „Jugend musiziert“

Von Gutzeit: Dieses Profil hat sich ja nicht ohne wichtige inhaltliche Gründe ergeben! Wir haben über Jugend musiziert als “Marke” gesprochen, und ich behaupte, dass sich kein Popmusiker unter dem Begriff “musizieren” wiederfinden will. Schon daran zeigt sich, dass hier unterschiedliche Welten aufeinandertreffen.

Wir müssten also entweder eine Konstruktion finden, wo unter einem Dach eigenständige, auf die jeweiligen Zielgruppen zugeschnittene Wettbewerbe miteinander kooperieren, oder wir müssten Jugend musiziert radikal verändern. Dabei würden wir allerdings Qualitäten aufs Spiel setzen, deren Wert sehr hoch veranschlagt werden muss.

Höppner: Ich glaube, dass wir im Moment in eine Sackgasse laufen. Die Provokation von Jürgen Stark kann zwar Nachdenken bewirken, aber es bewirkt auch eine Abwehrdiskussion, wie wir sie im Moment führen. Da bauen wir keine Brücken. Die Frage, wie wir das verkaufen, wer sich unter der Marke „Jugend musiziert“ wiederfindet, die wird sich durch das praktische Tun ergeben. Aber das kann keine Blockade einer Öffnung sein. Wir beobachten, was im Moment in der Gesellschaft passiert: Wir haben eine zunehmende Virtualisierung der Lebenswelten, wir haben ein unheimliches Bedürfnis nach sinnlicher Erfahrung. Musik ist – da sind wir uns alle einig – eine der besten Möglichkeiten sinnlicher Erfahrung von Lebenswelt. Wir haben eine unglaubliche Ausdifferenzierung jugendlicher Teilkulturen. Viele davon kenne ich gar nicht. Wir können nicht alles omnipräsent bedienen. Aber wir können uns öffnen und versuchen, diese Welten sich begegnen zu lassen. Sonst werden wir irgendwann den Scheitelpunkt überschreiten und bei „Jugend musiziert“ sinkende Teilnehmerzahlen haben, zu einer Randerscheinung werden. Im Übrigen ist das Beispiel von der Reichsmusikkammer ein unpassendes Klischee, das längst überholt ist.

Barbara Haack: Ich würde strengstens davor warnen, „Jugend musiziert“ einen anderen Titel zu geben. Wer sich unter diesem Titel nicht wiederfindet, der soll auch nicht mitmachen. Es geht doch um die Musik, egal ob „musizieren“ vielleicht antiquarisch klingt oder nicht – es geht darum, dass die Jugend musiziert. Egal ob Pop, Rock, Musical oder Klassik.

Jüngste Erfahrungen

Es sollte außerdem immer darum gehen, auf beiden Seiten des Parallel-Universums eine Qualitätssteigerung herbeizuführen. Die jüngste Erfahrung mit dem Preisträgerkonzert in Erfurt hat uns gezeigt, wie wichtig neben dem eigentlichen Musizieren das Umfeld ist: die Bühne, das Licht, die Performance. Da können wir von der „U-Musik“ lernen. Ich habe die Wertungen beim Musical-Wettbewerb miterlebt. Da hat sich gezeigt, dass diese jungen Künstler viel mehr davon verstehen, wie man auf die Bühne kommt, wie man sich bewegt, wie man ein Publikum mit einbezieht, wie man kommuniziert. Aber sie verstehen vielleicht weniger davon, dass man auf einem hohen Niveau musizieren sollte, dass man seine Stimme ausbilden lassen muss. Da kann man viel voneinander lernen. Unabhängig davon, ob es Rock, Pop oder Klassik ist: In Zukunft wird es doch für uns alle ein ganz wichtiges Thema sein, wie man die musikalische Qualität, die man zu bieten hat, seinem Publikum vermittelt, damit es motiviert ist, wieder ins Konzert zu gehen.

Stark: Ich denke wir sollten uns jetzt erst einmal darauf beschränken, über Institutionen zu sprechen und über eine Marke, über „Jugend musiziert“. Ich möchte da einmal ein bisschen vorgreifen. Ich denke, der Anachronismus, so er denn einer ist, mit der Formulierung „musiziert“ ist in einem Zeitalter der Affirmation ja eher schon lustig. Ich könnte mir durchaus vorstellen, dass es heißt „Udo Lindenberg musiziert“ oder „Fünf Sterne de luxe musizieren“. Ich denke, die Meinungsbildungsprozesse sind mittlerweile so dynamisch und so unorthodox, die sind so weit entfernt von einem culture clash wie 1968, dass wir eigentlich heute jede Menge Chancen haben, Aufgaben gemeinsam zu bewältigen. Das kann allerdings tatsächlich nicht laufen, wenn immer noch diese Barrieren da sind, und die sollte man auch offener benennen. Der konventionelle Klassiker sagt am Stammtisch: „Oh Gott, Rock/Pop, das tue ich doch meinen Ohren nicht an“, und diejenigen der vermeintlichen Jugendkulturen sagen „classical old farts“ – wobei sich aber am anderen Ende diese alten Vorurteilsebenen eher aufzulösen beginnen, denn heute gilt das Motto „Alles ist Pop – alles ist erlaubt“.

Chancen, die sich bieten

Und da möchte ich auf die Chancen hinweisen die sich bieten, denn in der heutigen Jugendkultur gibt es eine Zersplitterung in viele Musikstile und Fraktionen, aber es gibt auch relativ wenig Ideologien – die findet man im Feuilleton bei den Musikkritikern eher als bei den Musikern und den Fankulturen selber. Wir stellen fest, dass bei diesen ganzen Casting-TV-soap-operas immer häufiger junge Nachwuchstalente nach vorne kommen, die ihren Weg schon im Musicalbereich gemacht haben. Ich persönlich finde es aber unsäglich, dass solche Talente sich vor einem Dieter Bohlen präsentieren in dieser oft beleidigenden und Anpassung erzwingenden Dramaturgie. Um einen Vergleich zu wagen: Man stelle sich vor, es gebe einen neuen grossen Contest für junge Köche in Deutschland, ein Wettbewerb mit dem der Deutsche Hotel- und Gaststättenverband gemeinsam mit dem Bundesernährungsministerium zur französischen Küche aufschließen will, also gastronomische Standortpolitik für Deutschland gemacht werden soll – da würde man die Leitung dieses Wettbewerbs doch nicht den Marketing-Managern von McDonald‘s Deutschland überlassen. Aber genau das passiert derzeit: Popkultur wird von Idealen abgekoppelt, verramscht, im Internet geklaut und Dieter Bohlen, der seit Jahren mit Modern Talking Pop lediglich mit raffiniertem Einsatz von Geschmacksverstärkern simuliert, gilt als größter Pop-Entertainer, dem die Medien auch noch die Zurichtung und Desorientierung junger Musiktalente übereignen. Bohlen setzt die falsche Massstäbe, hurra, wir verblöden.

Haack: Wie Sie reden, Herr Stark, hat man das Gefühl, dass die Mauern auf der Rock- und Popseite mindestens so hoch sind wie auf der Klassikseite. Das drückt sich schon in der Wortwahl aus – von Reichskulturkammer hat bei „Jugend musiziert“ bisher sicherlich niemand gesprochen. Da bekomme ich Zweifel, ob eine Annäherung so leicht wird…

Stark: Nun, keine Sorge, ich habe gar kein Mandat, für die gesamte Popkultur zu sprechen, einen derartigen Sprecher gibt es auch gar nicht. Und da geht es schon los: Wer repräsentiert eigentlich was? In dieser Frage bildet sich für mich ganz deutlich das Kernproblem mit den Vorurteilen ab: Im Moment, in dem ich bestimmte Ausführungen gemacht habe, scheint es hier schon allen klar zu sein, dass ich niemals „Jugend musiziert“ besucht habe, niemals im Klassikkonzert war, ich stehe nur für Rock und Pop. Ich habe aber schon im Alter von 14 Jahren Sibelius gehört, und ich fand Dvorak gut und auch Tschaikowsky – neben Jimi Hendrix, José Feliciano und Jim Morrison. Wenn wir jetzt hier sehen, wie in Deutschland Diskussionen verlaufen, dann ist das doch wohl eher ein Fall für den Arzt, weil man das alles zusammen eher gar nicht gut finden darf. Genau da setzt meine Kritik an. Wir haben zu viele geschmäcklerische Diskussionen und Stilpolizei, viel zu viele Ebenen – in der Vergangenheit mit Sicherheit, das können Sie nicht bestreiten – auch der gegenseitigen Verachtung. Wir müssen uns deshalb doch einmal klar machen, was historisch passiert ist. Allein wenn man jetzt mit Begrifflichkeiten wie Jazz, Rock, Pop argumentiert, sagen die Jugendlichen schon wieder, was ist das denn. Diese alten Etiketten sind schon wieder überholt. Wir brauchen doch ganz andere Prozesse der offenen Kommunikation und der Kulturpolitik, die aus sich heraus nachweisen, dass man in der aktuellen Entwicklung von Musikszenen und Musikszenarien auf der Höhe der Zeit ist. Wir wissen doch, wie lang es gedauert hat, bis etwa ein Dieter Gorny und ein Udo Dahmen im Präsidium des Musikrates angekommen sind.

Höppner: Wir bewegen uns immer in der Vergangenheit. Wir wollen aufarbeiten. Dass da Emotionen frei werden, ist ja gut, die sollen auch nicht weggebügelt werden. Aber ich habe ja das Glück als Frischling im DMR auch mit einer naiven Sicht in die Themen einsteigen zu können. Unsere Klientel, die Kinder und Jugendlichen, leben ganz unterschiedliche Kulturen. Da ist der Klassiker, der rappt oder HipHop hört, oder was auch immer.

Da gibt es keine Dogmen und Scheuklappen. Die letzte Generalversammlung hat zum Beispiel mit der Wahl von Udo Dahmen und Dieter Gorny Signale gesetzt. Das sind Botschaften, den Blick unserer inhaltlichen Arbeit zu weiten und die strategische Ausrichtung zu überdenken. Wir sollten die Zeit jetzt nutzen, offen miteinander zu reden und vielleicht hier und heute noch zu der Überlegung zu kommen, wie der erste Schritt aussehen könnte.

Geißler: Ist es, um Martin Hufners Frage noch mal aufzugreifen, nicht tatsächlich so, dass sich „Jugend musiziert“ zum Klassik-Schutzverein entwickelt hat über die letzten vierzig Jahre?

Von Gutzeit: Selbst wenn es so wäre, würde ich das nicht unbedingt als Fehler betrachten, weil die Klassik dieses Schutzes und dieser Pflege bedarf. Ich halte überhaupt nichts von einer Kultur, die die Brücken in die Vergangenheit nicht mehr ganz bewusst pflegt. Ich glaube, dass wir da eine richtige Aufgabe wahrnehmen. Ich muss noch ein paar Klischees ansprechen, die diese Diskussion bestimmen: „Jugend jazzt“ ist nicht ausgegrenzt und weggebissen worden, sondern die Jazzer haben gesagt, wir machen unseren eigenen Laden, weil der seine eigenen Gesetze hat, und wir innerhalb dieser Gesetze vernünftig leben wollen. Das ist genauso akzeptiert im DMR wie „Jugend musiziert“. Es hat nicht diese Dimensionen, weil der Jazz im Grunde genommen ein zu hütendes sehr kleines Pflänzchen ist. Die Jazz-Interessenten sind meist auch ältere Musiker, man wächst da nicht wie in die Klassik sehr früh hinein.

Wie geht man mit dieser Popkultur um? – Sie haben die Schule angesprochen. Es ist so, dass die Schulmusiker sich in den letzten Jahrzehnten der Popmusik sehr stark angenähert haben. Es hat sich allerdings als unglaublich schwierig herausgestellt. Aus zwei Gründen: Einmal haben Schulmusiker in diesen Bereichen sehr wenige Qualifikationen. Es gibt aber noch einen zweiten Grund: vielfach stellt diese Musik für die Jugendlichen eine Gegenwelt dar, die sie gar nicht unbedingt in der schulischen Welt drin haben wollen. Sie möchten nicht unbedingt mit ihrem Musiklehrer diese Musik so auseinandernehmen, wie man eine Fuge auseinandernimmt. Der Lehrer soll sich aus dieser Welt raushalten, weil er ihr nicht angehört. Dieses Problem würden wir auch haben. Es gibt keine Abwehrhaltung gegen den Pop. Es gibt nur die Frage des Findens der richtigen Formen für eine bessere Förderung von Qualität im Bereich der Popmusik. Kann ich das in „Jugend musiziert“ überhaupt integrieren oder stellt man es daneben – wie macht man das richtig, damit nicht alles verwässert und durch die gemeinsame Anwendung von Kulturen, die nicht passen, nachher etwas Unprofiliertes herauskommt.

Lebensraum definieren

Stark: An der Stelle muss ich entschieden widersprechen, und zwar was die Rezeption der Jugendlichen betrifft. Es ist klar, dass Jugendliche gerade mit Musik versuchen, ihren eigenen Lebensraum zu definieren, sich gegen Ältere abgrenzen – auf der anderen Seite haben wir mit der SchoolTour und den Projekten, die ich seit drei Jahren für die Deutsche Phono-Akademie betreue, ganz erstaunliche Erfahrungen gemacht, was das Arbeiten mit der Popmusik in der Schule betrifft. Es ist durchaus möglich, mit den ganz populären Ansätzen in der Schule für Musik zu werben, das beinhaltet auch die Klassik, für die man ebenfalls neue Konzepte braucht, denn das Modell Klavierunterricht mit dem Charme von „Einzelhaft“ ist doch wohl überholt.

Die Programme der Phono-Akademie reichen von Pop bis Klassik, das heißt ich würde hier auch gerade an der Stelle dafür werben, gemeinsam über dieses Feld nachzudenken und die Chancen zu sehen, die das gemeinsame Auftreten bieten. Wenn wir jetzt in die Gesellschaft übergehen, dann ist es doch ohnehin so, dass wir teilweise ähnliche Problemlagen haben. Es kann nicht richtig sein, dass man diskutiert, welche Musik in der Schule die herausragende sein soll, sondern wie bekommt man heute überhaupt noch bei der starken Konkurrenz der Freizeitindustrie und ihrer Produkte Interesse für Musik zustande. Wie schafft man Interesse für das Lernen von Instrumenten. Da möchte ich auf einen entscheidenden Punkt kommen – und das klärt vielleicht, warum ich historisch und mit einigen scharfen Worten begonnen habe: Es ist so, dass ein gemeinsamer Traditionsbegriff fehlt, wir haben keine gemeinsame Definition über das, was eigentlich Musikleben sein soll. Es gibt die Anfeindungen aus dem, was sich volkstümlich nennt gegenüber Pop, es gibt Anfeindungen aus dem Pop über das Volkstümliche, es gibt diverse Barrieren. Es gibt Künstler wie Haindling, es gibt die Drei Tenöre, es gibt die Stereo MCs, aber im konkreten Detail bedeutet das schon, dass es sehr viele Künstler gibt, die den Crossover erkennen und nutzen wollen und uns da vorangehen.

Wir bilden den Crossover viel zu wenig in Projekten ab. Ich finde es sehr spannend zu erleben, wenn so ein paar junge Verrückte Metallica mit Cello und Geige interpretieren. Es gab immer schon sehr viele klassisch ausgebildetete Popkünstler, die die Klassik hier und da haben aufblitzen lassen wie zum Beispiel Keith Emerson und Deep Purple, es gibt aber auch Techno-DJs, die mit Geige und Klavier begonnen haben und heute ihren Informationsvorsprung überhaupt nicht mehr bereuen, auch wenn sie sich damit ungern schmücken, denn es ist – noch! – nicht hip und cool in der Szene. Es wäre schön, wir würden da zu einem gemeinsamen Traditionsbegriff finden, der dann auch die Vokabel Qualität ins rechte Licht rückt. Anders gesagt: Der gemeine Deutsche erfreut sich im Urlaub im Ausland an lebendigen, vitalen Musikkulturen wie in Griechenland, Irland oder Ägypten. Bei uns traut sich kaum noch ein Mensch in der Kneipe ein Instrument hervorzuholen und zum gemeinsamen Singen oder Musikmachen zu animieren – auch das ist ein Teil unseres historischen Erbes der NS-Elitekultur.

Höppner: Crossover ist ja nur eine Möglichkeit. Nehmen wir das Beispiel Singen: Wir haben heute die Situation, dass in Kindergärten nicht mehr gesungen wird, weil es die Kinder nicht angeboten bekommen. Ich bin sicher, dass Kinder singen wollen, wir müssen nur das Angebot machen – egal welche Stilrichtung. Wir müssen uns nicht so sehr die Gedanken über Attraktivität der einen oder anderen Vermittlungsform machen, sondern wir müssen uns Gedanken darüber machen, es als Gesamtkunstwerk anzubieten. Ich sehe gar keinen Widerspruch, bei dem Thema kulturelle Identität zu unseren Wurzeln zurückzukommen und das klassische Erbe, mit dem, was wir heute an Ausdrucksformen haben, zu verbinden. Beide Möglichkeiten gehören dazu, und deshalb mein Appell, nicht zu sehr in die Vergangenheit zu sehen, sondern konkret und pragmatisch eine Gesprächsebene suchen.

Haack: Von jungen Leuten, die bei „Jugend musiziert“ mitmachen, wird es nur einen minimalen Bruchteil geben, die sich nicht auch für Rock- und Popmusik interessieren und dafür offen sind. Andererseits gibt es viele Jugendliche, die sagen „Klassik ist Mist“. Deswegen ist auf dieser Seite ebenso so viel zu tun wie auf der anderen, denn was nicht passieren darf – obwohl ich auch für eine Öffnung bin – ist, dass die Klassik langsam entschwindet, und dass das eine das andere ersetzt.

Höppner: Man könnte ja auch fragen, warum sich der John-Lennon-Talent-Award nicht für die klassische Musik öffnet…

Traumatisiert durch Rock

Stark: Diese Beschränkung hat es doch nie gegeben. Wenn sich Klassiker beworben hätten und neue Titel, die noch nicht bei einem Label unter Vertrag sind, angeboten hätten, hätten sie ihre Chance gehabt. Ich habe eher das Gefühl, dass durch das Aufkommen des Rock’n’Roll einige Menschen schwerstens traumatisiert wurden, und seitdem immer noch Angst haben, die Tür könnte wirklich aufgehen. So wie Sie das darstellen, drehen Sie das auf den Kopf: als hätten in der Gesellschaft Rock und Pop die Macht und würden die Musik diktieren. Nur in den ehrenwerten Zonen der Musikverbände würde man eben die hehren Ziele der Klassik und des Qualitätslevels verteidigen und auch ein traditionelles Erbe. Da muss man aufpassen, dass nicht Gestalten durch die Tür kommen, die all dies niederreißen. Ich bin der Meinung, wir bräuchten so etwas wie eine nationale Musikgala junger Talente aus allen Sparten. Ein wirkliches Ereignis, in dem alle Formen junger Musik auf die Bühne kommen, eine junge Talentshow, die nicht die Frage stellt, was dort gemacht wird – ob Klassik, Pop, HipHop – sondern wo man sich mit den beteiligten Kräften, die ihre Kompetenz in den Sparten aufgebaut haben, zusammentut – es könnte einen Block geben, der wird von „Jugend musiziert“ gemacht und einen, der wird vom JLT-Award gemacht, und einer von Jazzern, das könnte ein Weg sein.

Von Gutzeit: Ich möchte noch einmal sagen, dass Jugend musiziert in den letzten zehn Jahren inhaltlich sehr viel bewegt hat und der Wettbewerb dadurch sehr an Lebendigkeit gewonnen hat. Was ihr jetzt einfordert ist ein Quantensprung. Wenn wir über die Chancen und die Sinnhaftigkeit miteinander sprechen wollen, müsst ihr euch bitte auch mit diesem in 40 Jahren gewachsenen Phänomen “Jugend musiziert” vorurteilsfrei beschäftigen und Verständnis für seine Eigenarten entwickeln – sonst wird kein Gespräch möglich sein. Ein Markenzeichen von Jugend musiziert ist der hohe Qualitätsanspruch in der Auseinandersetzung mit vielfältigen musikalischen Genres. . Bei allen Öffnungen der letzten Jahre haben wir darauf geachtet, diesen Qualitätsanspruch fortzuschreiben. Wie ließe sich dieses Prinzip bei einer Öffnung zur Popkultur anwenden? Darüber müssen wir eine sehr gründliche, qualifizierte Diskussion führen. Dabei möchte nicht, dass die Einen als Bewahrer an die Wand genagelt werden, die Anderen als die Bilderstürmer, und dabei letztlich die Qualität einer Veranstaltung geopfert wird, die in dieser Weise absolut einmalig ist.

Hufner: Ich hätte da noch ganz andere Vorstellungen. Qualität ist für mich nicht das Kennzeichen von Jugend musiziert, sondern es ist vor allem ein Wettbewerb, in dem eine Musikkultur, eine musikalische Entwicklung bei Jugendlichen und Kindern auf eine faszinierende und liebevolle Art und Weise gefördert wird. Es kommt doch nicht darauf an, dass der Saxofonist mit 12 Jahren ein Solo wie Charlie Parker bläst, sondern dass er überhaupt irgendwie ein Solo bläst und sich entwickeln und werden kann. Dass man ihm die Chance gibt, werden zu dürfen, und nicht schon gleich an der Spitze sein zu müssen.

Nicht „wir“ und „ihr“

Haack: Ich wünsche mir erstens, dass in zehn Jahren nicht mehr von „wir“ und „ihr“ die Rede sein wird, wenn man von Rock und klassischer Musik redet. Auch in zehn Jahren soll „Jugend musiziert“ noch durch ein hohes Qualitätsbewusstsein gekennzeichnet sein, und dieses soll auch nach außen vermittelt werden. Ich denke, das ist auch eine Aufgabe von „Jugend musiziert“. Eine Gefahr ist doch, dass dieses Gefühl für die Qualität verloren geht. Aus diesem Grund wünsche ich mir noch, dass infolge dessen nicht mehr Dieter Bohlen und Thomas Stein abends primetime „Deutschland sucht den Superstar“ prämieren, sondern dass solche Veranstaltungen eher von „Jugend musiziert“ gestaltet werden.

Von Gutzeit: Jugend musiziert hat eine enorme Kraft: sobald der Wettbewerb seinen Inhalt um eine neue Variante ergänzt, löst dies Aktivitäten in der Musikschule, in den allgemeinbildenden Schulen und im Privatunterricht aus. In diesem Jahr haben wir das wieder am Beispiel Musical erlebt. Diese Kraft können und müssen wir ausnützen. Aber sie geht nicht so weit, dass wir die Musikgesellschaft in ihren Grundzügen verändern könnten. Jugend musiziert ist nicht der Hebel, die großen Probleme, die Sie beschrieben haben, zu verändern. Noch einmal: wir wollen uns mit Ihnen Gedanken darüber machen, wie man die Qualität im Rock-/Pop-Bereich verbessern kann, Wir können sicher etwas beitragen, aber wir können nicht die Hauptverantwortlichen dafür sein, dass ein riesiger Bereich, von dem wir sehr wenig verstehen, jetzt seine adäquaten Formen findet.

Geißler: Die deutsche Musikpädagogik, die einst gewissermaßen den Geist von „Jugend musiziert“ definierte, hat viele Jahre nicht auf musikalische Entwicklungen in der Gesellschaft reagiert…

Von Gutzeit: Da will ich gar nicht widersprechen. Natürlich hat die Musikpädagogik manches versäumt, aber sie hat es auch unvorstellbar schwer. Die Situation der Musiklehrer als einsame Exoten in ihrem Lehrerkollegium wird sich auch mit anderen Inhalten nicht verändern.

Stark: Doch, das geht. An vielen Schulen habe ich das erlebt, dass Einzelkämpfer eine Big Band gründen und einen Gospelchor, ein Musical an der Schule machen, und die sind hoch geachtet, auch im Kollegium. Wer sich aber in die Rolle ergibt, die ihm von den Kultusministerkonferenzen zugewiesen wird, wer sich nur in die Lehrpläne fallen lässt und Dienst nach Vorschrift macht, der findet sich am äußersten Ende wieder.

Von Gutzeit: Sie jonglieren mit Klischees. Der Musiklehrertyp, den sie als Ideal beschreiben, ist längst der Regelfall. In den Schulen werden so viele Musicals und andere tolle Sachen gemacht. Ein Schulorchester, das nur noch Telemann spielt, gibt es nicht mehr!

Stark: Ich spreche jetzt hauptsächlich vom Grund- und Hauptschulbereich. Da ist es die Ausnahme. Meine Frage ist eigentlich: Wie können wir Vergangenes, Gegenwärtiges und Zukünftiges gemeinsam bewältigen: dass der DMR quasi Managementaufgaben übernimmt hinsichtlich der Zusammenführung unterschiedlichster Aktivitäten, zum Beispiel im Schulbereich. Warum kann der DMR nicht ein Crossover-Ressort mit Praktikern unterscheidlichster Bereiche ins Leben rufen, mit Menschen, denen die Trennung von U- und E-Musik als das erscheint, was sie ist: eine Beleidigung für jeden aufgeklärten Zeitgenossen, der die Wahrheit kennt. Und die lautet schlicht: Es gibt nur gute oder schlechte Musik und Menschen, die leider auf beiden Seiten dieser Wahrnehmung mit Zustimmung zu finden sind.

Geißler: Das ist ein Management-Anspruch an eine Struktur, von der man sagen kann, dass sie in ihrem hauptamtlichen Bereich über Strecken nicht so gearbeitet hat, wie man es hätte erwarten dürfen.

Hufner: Es gibt keinen U- und E-Musikrat, sondern es ist eben DER Musikrat.

Von Gutzeit: Natürlich. Aber so etwas läuft immer über Personen. Wir haben jetzt erstmalig ein Präsidium, in dem nicht nur “Klassiker” repräsentiert sind und von daher wird sich bestimmt etwas bewegen. Aber auch hier gilt, dass Initiativen nicht nur von oben erwartet werden dürfen.
Geißler: Es gibt eine hauptamtliche Organisationsstruktur beim Musikrat, an der sich im Moment wenig ändert. Für einen zusätzlichen Wettbewerb im Schülerband-Bereich namens „School-Jam“ wird eine weitere Stelle geschaffen. Dagegen wäre ja nichts einzuwenden. Aber gerade der ganze Wettbewerbs-Bereich ist personell opulent besetzt. Jeder werkelt da in seinem vermeintlichen Fachbereich. Blicke über den Tellerrand sind selten. Hier gäbe es jede Menge Synergien. Da liegt ein grundsätzlicher Management-Fehler. Hier könnte man Kräfte zum Segen eines spartenübergreifenden Verständnissers bündeln

Strukturen müssen wachsen

Hufner: Reinhart von Gutzeit hat vollkommen Recht, wenn er sagt, dass so eine Struktur wachsen muss, dass sie aus dem Boden herauskommen muss, um irgendwo hingeführt zu werden. Sonst ist das wie im Zentralkomitee der UdSSR, die entscheidet jetzt in Plan fünf, wir brauchen jetzt einen Popmusik-Wettbewerb in „Jugend musiziert“, den stülpen wir jetzt drauf, egal ob es Strukturen dafür gibt, wir haben das so entschieden, das ist gut und kulturell notwendig. Dann hat man diese diktatorische Musikplanwirtschaft, die wahrscheinlich mehr kaputtmacht als nützt.

Stark: Wenn man hier mal versucht, etwas aufzuarbeiten, und man spürt noch dieses Nachbeben der ganzen desaströsen Entwicklung beim DMR, finde ich es nicht verkehrt, auch mal über die Fehler der Vergangenheit nachzudenken. Das sehe ich nicht als Schwarzen Peter, sondern das sehe ich als eine sinnvolle Kontroverse an. Natürlich ist der DMR in der neuen Konstellation eine Chance, aber nur, wenn der Geist dabei auch bewegt und das Ende der Nischengesellschaft dort glaubwürdig proklamiert wird.

Von Gutzeit: In der Diskussion um die neuen Strukturen des Musikrates hat genau das eine Rolle gespielt. Meine Sorge ist, dass sich der Musikrat im Moment in einem zu umfassenden Verantwortungsanspruch überheben könnte. Auch zukünftig wird seine Arbeit im wesentlichen darin bestehen, gezielt Impulse zu setzen und im übrigen die Aktivitäten seiner Mitglieder bestmöglich zu vernetzen. Bezogen auf unser Thema könnte ich mir als einen konstruktiven Schritt ein Begegnungsforum der Wettbewerbe und Förderprojekte vorstellen, wo wir unsere Konzepte, Strategien, Organisations- und Finanzierungsmodelle vergleichen und uns über mögliche Anknüpfungspunkte Gedanken machen.

Pilotprojekt Rock

Haack: Eine Idee wäre doch, wie beim Musical ein Pilotprojekt zu starten. Der Landesmusikrat Niedersachsen zum Beispiel leistet sich seit elf Jahren einen hauptamtlichen Rockreferenten. Auch dort hat es bisher im Rahmen von „Jugend musiziert“ keine Annäherung gegeben. Warum fängt man nicht dort – oder in einem anderen Bundesland – einfach einmal an? Das wäre auch ein Modell für den DMR, so etwas personell mittelfristig zu planen.
Geißler: Gibt es im Hauptausschuss „Jugend musiziert“ eine solche task-force-Überlegung? Da hat man im Rock-Bereich einen Wettbewerb, der hochkompetent ausgerichtet wird: den JLT-Award, der sich auch in der Häutung befindet, und es gibt im Paralleluniversum „Jugend musiziert“. Ist das nicht eine Chance, aufeinander zuzugehen, auch mal Nägel mit Köpfen zu machen?

Hufner: Die Rocker sind da aber in einer gewissen Bringschuld.

Stark: Dann müssen die Türen auch aufgemacht werden und wirklich über eine gemeinsame Musikkultur mit all ihren Facetten nachgedacht werden. Wenn sie die Krümel der Kulturetats kennen, die vom Tellerrand der Hochkultur zum Beispiel in Hamburg in die Förderung der Clubszene hinabfallen, dann sollten Sie das mit der Bringschuld mal ganz schnell wieder vergessen, denn das ist keine Polemik, das ist Zynismus.

Ist es realistisch, dass es eine Projekt-Begegnungsstätte gibt? Das ist etwas, was von einem Musikrat von der Einladung, von der Ansprache ausgehen müsste. Gerade auch um alle Unwägbarkeiten auf ein sachliches seriöses Niveau zu bringen. Jeder stellt sein Projekt vor und berichtet davon – ich kann mir vorstellen, dass das sehr fruchtbar wäre.

Wie gesagt, ich würde das Abteilung für Crossover nennen, das klingt lustig und kreativ, das könnte nebenher auch mit Diskursen dem neuen Pop-Beauftragten der Bundesregierung den Weg weisen, denn dessen erste Äußerungen lassen ebenfalls großen inhaltlichen Nachhol- und Schulungsbedarf erkennen.

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