Schutzverein „Klassische Musik“ contra Musik-Gala-Event?
Weimarer Gespräch: „Jugend musiziert“ zwischen
Reform, Reaktion und Realität
Wie geht es weiter mit den Wettbewerben „Jugend musiziert“?
Angesichts der Erfolgsmeldungen – Teilnehmer-Rekord, hohe
Akzeptanz in den Ausrichter-Städten – eine scheinbar
müßige Frage. Dennoch raschelt es hinter den Kulissen.
Die einen fordern tiefgreifende Reformen, andere haben Bedenken,
am sichtlich erfolgreichen Konzept zu rütteln. Die Situation
stellt sich nicht zuletzt als ein sehr mühsames Aufeinander-zu-bewegen
unterschiedlicher Kultur-Verständnisse dar. Mitten in diesem
Spannungsfeld steckt „Jugend musiziert“. Auf Anregung
der nmz fand sich während des letzten Bundeswettbewerbes eine
Gesprächsrunde zusammen, die über Zustand und Zukunft
der Wettbewerbe ausführlich und teils recht kontrovers debattierte.
Nachfolgend die markantesten Original-Töne aus dieser Diskussion,
an der Barbara Haack (Leiterin ConBrio Verlagsgesellschaft, Vorstandsmitglied
der Jeunesses Musicales Deutschland), Reinhart von Gutzeit (Vorsitzender
des Hauptausschusses von „Jugend musiziert“ und Direktor
des Linzer Bruckner-Konservatoriums), Christian Höppner (Musikschulleiter
und Mitglied des geschäftsführenden Präsidiums des
Deutschen Musikrates), Martin Hufner (Musikwissenschaftler und nmz-Redakteur),
Jürgen Stark (Publizist und Manager von School-Tour, einem
Projekt der Deutschen Phono-Akademie) sowie als Moderator nmz-Herausgeber
Theo Geißler teilnahmen. Eigentlich sollten in dieser Gesprächsrunde
Perspektiven und Modifikationen für den Bundeswettbewerb „Jugend
musiziert“ angdacht werden, allerdings stellte sich recht
schnell heraus, dass die Sichtweisen der immer noch existierenden
Paralleluniversen U und E offensichtlichstark differieren. Auch
die gesamte Positionierung des Deutschen Musikrates als Träger
von „Jugend musiziert“ geriet stark in den Disput.
Theo Geißler: In Neuss gab es 1997 eine
Zentral-Konferenz der verantwortlichen „Jugend musiziert“-Gremien,
bei der nicht nur weitgehende Modifikationen des Wettbewerbs beschlossen,
sondern auch in Gang gebracht wurden. Lassen Sie uns ein wenig bilanzieren,
wie sich das ausgewirkt hat. Ferner sollten wir über größere
und kleinere Beeinträchtigungen reden, die das Projekt „Jugend
musiziert“ im Rahmen der Instabilität des Musikrates
während der letzten zwei bis drei Jahre erlitten hat…
Anna Magdalena Euen.
Foto: Erich Malter
Reinhart von Gutzeit: Neuss war keine einfache
Tagung. Es gab gegen alle Reform-Vorschläge zunächst erhebliche
Vorbehalte, besonders gegen den Dreijahresrhythmus, der als ein
Wegnehmen von Chancen für manche Teilnehmer empfunden wurde.
Bis dahin gab es eine Ungleichbehandlung: bestimmte Instrumente
– Klavier, Geige und viele andere – waren alle 2 Jahre
zur Solowertung eingeladen, weniger “etablierte” hatten
nur alle drei Jahre die Chance, etwa die Orgel. Wir haben dann einen
Dreijahresrhythmus für die Solowertung sämtlicher Instrumente
eingeführt. Dennoch kann man sich jedes Jahr mit jedem Instrument
bewerben, weil in den anderen Jahren Ensemblewertungen oder besondere
Bewertungskombinationen angeboten werden. Wir wollten damit eine
Demokratisierung der Instrumente erreichen, außerdem wollten
wir ein größeres Interesse für die Ensemblewertungen
hervorrufen. Heute ist diese Aufwertung des Ensemblespiels von allen
akzeptiert und sehr begrüßt.
Geißler: Es gab dann den Beschluss, das
Instrumentarium zu erweitern hin zu den so genannten besonderen
Besetzungen und zu Instrumenten Alter Musik…
Von Gutzeit: ...es ist noch ein Drittes hinzugekommen,
die Experimentelle Musik. Es gibt in der Neuen Musik viele Werke
mit ganz ungewöhnlichen Besetzungen. Diese Werke tauchten im
Wettbewerb nicht auf, weil Jugend musiziert die Auflage macht, dass
man Werke aus mindestens drei Epochen spielen muss. Die gibt es
aber für solche exotischen Besetzungen in der Regel nicht.
Die drei in Neuß beschlossenen Kategorien – Alte Musik,
Experimentelle Musik, Besondere Besetzungen - sind von den Teilnehmern
überwältigend aufgenommen worden und haben den Wettbewerb
enorm bereichert. In diesem Jahr ist eine Wertung Musical hinzugekommen
– ein inhaltlicher Quantensprung mit sehr ansprechenden Resultaten.
Geißler: Bleiben wir bei den Reformen von
Neuss. Existierten zu der Zeit Überlegungen, Instrumente, Stilrichtungen
aus dem „Paralleluniversum“, aus dem Rock- und Pop-Bereich
zu integrieren, vielleicht auch Überlegungen, Instrumente anderer
Kulturen einzubeziehen?
Von Gutzeit: Allenfalls am Rande. Wir waren uns
allerdings bewusst, dass sich mit der Ausschreibung für Neue,
experimentelle Musik, die zwangsläufig allen Instrumenten und
allen Möglichkeiten elektronischer Veränderung offen stehen
muss, auch eine Rockband angesprochen fühlen kann. Diese Bands
sind aber noch nicht bei Jumu aufgetaucht.
Paralleluniversum
Geißler: Springen wir direkt in das oben
zitierte „Paralleluniversum“. Seit vielen Jahren bauen
sich in der Welt des Rock und Pop scheinbar losgelöst vom „klassischen“
Musikbetrieb eigenständige Strukturen auf, Wettbewerbe, Fördermaßnahmen…
Jürgen Stark: Begonnen hat das in den 70er-Jahren
mit Musikinitiativen und Vereinen, die das Ziel hatten, im Bereich
der Infrastruktur zu wirken, und letzten Endes auch den Wettbewerbsgedanken
aufgriffen. In der Popkultur gab es Wettbewerbe schon zu den Zeiten
der Beatles (Stichwort: Band Battle oder Je-Ka-Mi = Jeder kann mitmachen).
In den 70er-Jahren begann man, sich organisatorisch quasi als Selbsthilfegruppe
zusammenzuschließen. Daraus resultierten dann wieder einige
Wettbewerbe und Vereinsgründungen, Anlehnungen an Medienpartnerschaften,
es gab das NDR-Hörfest oder das Ruhrrock-Festival, es gab ab
1990 den John-Lennon-Talent-Award, und es hat sich schon vor vier,
fünf Jahren abgezeichnet, dass es zu einem Wettbewerb der Wettbewerber
kommen müsste.
Den haben wir heute, den haben wir auch vor dem Hintergrund nicht
nur der knappen Kassen, sondern eigentlich auch vor dem Hintergrund,
dass sich hier ein historischer Schritt vollzieht, momentan ganz
deutlich abgebildet in der Gründung einer ersten Popakademie
in Mannheim und dem ebenfalls in Gründung befindlichen rock’n’popmuseum
in Gronau, welches ebenfalls Bildungsziele verfolgt. Die Popakademie
wird am Tag ihrer Eröffnung allerdings schon wieder ein Stück
Anachronismus sein wird, denn letztendlich geht es inzwischen immer
stärker um die Durchsetzung umfassender Professionalisierung
oder Ausbildung und das bedeutet, dass Popkultur endlich die gebührende
Anerkennung findet und – wie teils schon in der Weimarer Republik
– populäres Entertainment allseits kompetente und ganz
gewöhnliche Ausbildungs- und Förderangebote erhält.
Geißler: Wir haben also auf der Seite der
E-Musik eine gewachsene Förderungsstruktur, die sehr stark
auf ehrenamtlicher Initiative fußt, die sich andererseits
relativ wenig um die sogenannte Popularmusik gekümmert hat.
Dahinter stand mit Sicherheit eine Werteüberlegung und eine
Werteabwägung. Kann man die beschreiben um zu verstehen, warum
sich der Deutsche Musikrat mit dem „Paralleluniversum“
kaum befasste?
Christian Höppner: Ich bin da eigentlich
der falsche Ansprechpartner, weil ich in einer Zeit zum Musikrat
kam, in der wir im Präsidium merkten, dass manche Themenstellungen
zu eng fokussiert waren. Wir trugen immer stolz vor uns her, dass
wir acht Millionen Menschen in dieser Republik vertreten. Ich stellte
damals die Frage: „Was ist mit den Übrigen?“ Welche
Möglichkeiten gibt es nun, diesen Rest zu erreichen? Wenn ich
diese Fragestellung auf „Jugend musiziert“ herunterbreche,
dann wird auch durch das, was Reinhart von Gutzeit gesagt hat, deutlich,
was für eine innovative Kraft dieser Wettbewerb in den 40 Jahren
seines Bestehens entwickelt hat. Wie er sich vernetzt hat und wie
geschaut wurde, „was gibt es noch um uns herum?“ Das
Musical ist so ein Beispiel. Wenn man allerdings von dem Namen „Jugend
musiziert“ ausgeht, dann ist ja noch nicht definiert welche
Jugend und welche Musik gemeint ist, und als Drittes ist noch nicht
vorgegeben, in welcher Form das stattfinden soll. Wir haben also
einen wunderbaren Begriff, der Programm sein kann für Bildungs-
und Kulturpolitik, der sich aber zu einer Marke entwickelt hat,
die sagt, es handelt sich hier um den Wettbewerb. Für mich
ergibt sich daraus die Aufgabe, darüber nachzudenken, wie wir
den Blick weiten und neue Fenster öffnen können, ohne
die Qualitäten der „Marke“ „Jugend musiziert“
zu beeinträchtigen. Wie können wir es aber gleichzeitig
schaffen, den Markenbegriff durch einen Überbau zu erweitern,
der auch die anderen Projekte des Musikrates in den Zusammenhang
„Jugend musiziert“ stellt. Dann könnte „Jugend
musiziert“ zu einer Botschaft werden, die der fach- und musikpolitischen
Arbeit des DMR neue Schubkraft und Wirksamkeit verleiht.
Geißler: Bevor wir das Fenster weiter öffnen, noch ein
Blick auf die vorhandenen Institutionen der Rock- und Popmusik…
Stark: Fangen wir mal bei der Musikindustrie
an. Die ist eigentlich ein ganz gutes Beispiel: Denn bei der Musikindustrie
beziehungsweise ihrem Kulturinstitut, der Deutschen Phono-Akademie,
da macht man Echo-Klassik und Echo-Pop, und da hat man im Katalogbereich
die Klassiker, Jazz, Hip Hop, also alle Musikstile der Welt. Da
gibt es diese Unterschiede und diese Problematik doch gar nicht.
Wenn man in die Szenen geht und sich Richtung Popkultur bewegt,
dann hat es zum Beispiel immer schon Formen der Zusammenarbeit mit
Landesmusikräten und den Alibi-Minietat-Verwaltern in Städten
und Ländern gegeben. Eines sollte man aber nicht länger
verschweigen: Es sollte doch eigentlich allen Beteiligten klar sein,
dass da ein ziemlich brutaler Etikettenschwindel über Jahre
betrieben worden ist, mit einem geschmacksfaschistischen Majorisierungsanspruch.
DMR minus Popkultur
Wenn man sagt Deutscher Musikrat minus Popkultur, dann ist das
wie Deutscher Sportbund ohne Fußball. Wer hier von „Rest“,
„Rand“ und „Exotenkultur“ spricht, der entlarvt
eine fast schon antikünstlerische, aber mindestens antiliberale
Haltung, die mehr mit Ideologieersatz als mit Musikliebhaberei zu
tun hat. Wenn man sagt „Jugend musiziert“ und dann eigentlich
gar nicht ausweist, welche Form von Musik dort auf die Bühne
kommt, dann finde ich das einfach dreist.
Und diese Marke suggeriert natürlich ganz hinterhältig
gegenüber den Kulturverwaltern der Fördertöpfe, dass
bei diesem Wettbewerb „die“ Jugend die Musik macht.
Wir kommen auch nicht weiter, wenn wir die Dinge nicht so benennen,
wie sie sind, und das heißt für mich: Die „Reichskulturkammer“
muss endgültig aus Deutschland verschwinden, denn was wir nach
1945 als Zäsur erlebten, war vielfach ein Hinüberretten
extremster konservativster Auffassungen bildungsbürgerlicher
Eliten, die ihre Abneigung gegen die „Negermusik“ im
Unterhaltungsbereich munter weiter und deutlich artikulierten. Nur
so wird der katastrophale Zustand des Musikunterrichts an deutschen
Schulen erklärbar, wo man ihn für die Kinder der unteren
Schichten an den Grund- und Hauptschulen inzwischen fast flächendeckend
ganz abgeschafft hat, während er dort, wo es ihn noch gibt,
mindestens unmodern, altmodisch und nur in Ausnahmen von pädagogischen
Einzelkämpfern attraktiv und zeitgemäss gestaltet wird.
Die Klassik ist weitgehend stur weitermarschiert und hat sich an
vielen wichtigen Diskursen der letzten Jahrzehnte gar nicht beteiligt,
sie hat sich gesellschaftlich isoliert, funktioniert aber als elitäre
Waffe gewisser Kreise immer noch ganz prächtig. Damit wird
man der Klassik überhaupt nicht gerecht, dieses Erbe gehört
demokratisiert und Volksnähe darf man nicht allein André
Rieu und den Drei oder Zehn Tenören überlassen.
Geißler: Welche Diskurse waren das denn?
Wer hat sich woran nicht beteiligt?
Stark: Es gibt gerade in der Klassik an der praktizierenden
Basis hervorragende Modelle mit denen wie zum Beispiel an der Hamburger
Opera Stabile Jugendliche für Klassik sehr modern animiert
werden, gleichzeitig wird bei diesem Projekt mit Unterstützung
der Deutschen Phono-Akademie das Thema Musikunterricht an allgemein
bildenden Schulen aufgegriffen und inhaltlich für die Medien
und die Politik aufbereitet. Da bilden letztlich Künstler dann
den Bezugsrahmen für wichtige kulturpolitische Forderungen,
bei denen im Umkehrschluss nicht mehr zwischen Klassik und Pop unterschieden
wird. Doch die Diskurse hierzu kommen hauptsächlich aus der
Popszene, es war Udo Dahmen, der unlängst forderte, dass die
Ausbildung unserer Musikpädagogen revolutioniert wird und der
Klassik nicht mehr diese Bedeutung gegeben werden darf, sie ist
wichtiger Part, aber nicht mehr für eine Federführung
geeignet, oder wie Udo Dahmen sagt: „Das heißt nicht
keine Klassik mehr, aber – bitte schön – alles
an seinen Platz!“ Wir haben noch ganz andere Diskussionen
in der Jugendkultur erlebt: darf ich, kann ich überhaupt deutsch
singen. Heute ist es ein Anachronismus, wenn diese Frage hinlänglich
beantwortet wird durch Einwandererkinder der dritten Generation,
die oft besser deutsch sprechen als so mancher Deutsche. Die Frage
ist also, wie wir die Gräben der Vergangenheit endgültig
zuschütten können und die fatalen Folgen der NS-Kulturdiktatur
beseitigen. Mir geht es darum, die Brücken zu bauen, über
die alle Beteiligten gehen können, das heißt zum Beispiel
auch, dass wir das Hobby und den Musikamateur dringend aufwerten
müssen.
Höppner: Ich habe ja gerade von der Notwendigkeit
gesprochen, den Blick auf die gesamte Gesellschaft zu erweitern.
Da gibt es, auch bei „Jugend musiziert“, Nachholbedarf.
Wenn man mitgestalten will, ist Teilnahme an Gremien, das Sich-Beteiligen
bei den Aktivitäten, der richtige Weg und nicht eine beleidigte
Verweigerungshaltung.
Martin Hufner: Reinhart von Gutzeit ließ
durchblicken, dass in den Gremien von „Jugend musiziert“
Bedenken vorherrschen, das Profil unscharf werden zu lassen. Drückt
sich da nicht eine ganz bestimmte Form von Angst aus: Woran orientiert
sich „Jugend musiziert“? Am aktuellen gesellschaftlichen
Umfeld oder an dem Profil, das bei „Jugend musiziert“
als Institution und Organisation in vierzig Jahren gewachsen ist?
Marke „Jugend musiziert“
Von Gutzeit: Dieses Profil hat sich ja nicht
ohne wichtige inhaltliche Gründe ergeben! Wir haben über
Jugend musiziert als “Marke” gesprochen, und ich behaupte,
dass sich kein Popmusiker unter dem Begriff “musizieren”
wiederfinden will. Schon daran zeigt sich, dass hier unterschiedliche
Welten aufeinandertreffen.
Wir müssten also entweder eine Konstruktion finden, wo unter
einem Dach eigenständige, auf die jeweiligen Zielgruppen zugeschnittene
Wettbewerbe miteinander kooperieren, oder wir müssten Jugend
musiziert radikal verändern. Dabei würden wir allerdings
Qualitäten aufs Spiel setzen, deren Wert sehr hoch veranschlagt
werden muss.
Höppner: Ich glaube, dass wir im Moment in
eine Sackgasse laufen. Die Provokation von Jürgen Stark kann
zwar Nachdenken bewirken, aber es bewirkt auch eine Abwehrdiskussion,
wie wir sie im Moment führen. Da bauen wir keine Brücken.
Die Frage, wie wir das verkaufen, wer sich unter der Marke „Jugend
musiziert“ wiederfindet, die wird sich durch das praktische
Tun ergeben. Aber das kann keine Blockade einer Öffnung sein.
Wir beobachten, was im Moment in der Gesellschaft passiert: Wir
haben eine zunehmende Virtualisierung der Lebenswelten, wir haben
ein unheimliches Bedürfnis nach sinnlicher Erfahrung. Musik
ist – da sind wir uns alle einig – eine der besten Möglichkeiten
sinnlicher Erfahrung von Lebenswelt. Wir haben eine unglaubliche
Ausdifferenzierung jugendlicher Teilkulturen. Viele davon kenne
ich gar nicht. Wir können nicht alles omnipräsent bedienen.
Aber wir können uns öffnen und versuchen, diese Welten
sich begegnen zu lassen. Sonst werden wir irgendwann den Scheitelpunkt
überschreiten und bei „Jugend musiziert“ sinkende
Teilnehmerzahlen haben, zu einer Randerscheinung werden. Im Übrigen
ist das Beispiel von der Reichsmusikkammer ein unpassendes Klischee,
das längst überholt ist.
Barbara Haack: Ich würde strengstens davor
warnen, „Jugend musiziert“ einen anderen Titel zu geben.
Wer sich unter diesem Titel nicht wiederfindet, der soll auch nicht
mitmachen. Es geht doch um die Musik, egal ob „musizieren“
vielleicht antiquarisch klingt oder nicht – es geht darum,
dass die Jugend musiziert. Egal ob Pop, Rock, Musical oder Klassik.
Jüngste Erfahrungen
Es sollte außerdem immer darum gehen, auf beiden Seiten
des Parallel-Universums eine Qualitätssteigerung herbeizuführen.
Die jüngste Erfahrung mit dem Preisträgerkonzert in Erfurt
hat uns gezeigt, wie wichtig neben dem eigentlichen Musizieren das
Umfeld ist: die Bühne, das Licht, die Performance. Da können
wir von der „U-Musik“ lernen. Ich habe die Wertungen
beim Musical-Wettbewerb miterlebt. Da hat sich gezeigt, dass diese
jungen Künstler viel mehr davon verstehen, wie man auf die
Bühne kommt, wie man sich bewegt, wie man ein Publikum mit
einbezieht, wie man kommuniziert. Aber sie verstehen vielleicht
weniger davon, dass man auf einem hohen Niveau musizieren sollte,
dass man seine Stimme ausbilden lassen muss. Da kann man viel voneinander
lernen. Unabhängig davon, ob es Rock, Pop oder Klassik ist:
In Zukunft wird es doch für uns alle ein ganz wichtiges Thema
sein, wie man die musikalische Qualität, die man zu bieten
hat, seinem Publikum vermittelt, damit es motiviert ist, wieder
ins Konzert zu gehen.
Stark: Ich denke wir sollten uns jetzt erst einmal
darauf beschränken, über Institutionen zu sprechen und
über eine Marke, über „Jugend musiziert“.
Ich möchte da einmal ein bisschen vorgreifen. Ich denke, der
Anachronismus, so er denn einer ist, mit der Formulierung „musiziert“
ist in einem Zeitalter der Affirmation ja eher schon lustig. Ich
könnte mir durchaus vorstellen, dass es heißt „Udo
Lindenberg musiziert“ oder „Fünf Sterne de luxe
musizieren“. Ich denke, die Meinungsbildungsprozesse sind
mittlerweile so dynamisch und so unorthodox, die sind so weit entfernt
von einem culture clash wie 1968, dass wir eigentlich heute jede
Menge Chancen haben, Aufgaben gemeinsam zu bewältigen. Das
kann allerdings tatsächlich nicht laufen, wenn immer noch diese
Barrieren da sind, und die sollte man auch offener benennen. Der
konventionelle Klassiker sagt am Stammtisch: „Oh Gott, Rock/Pop,
das tue ich doch meinen Ohren nicht an“, und diejenigen der
vermeintlichen Jugendkulturen sagen „classical old farts“
– wobei sich aber am anderen Ende diese alten Vorurteilsebenen
eher aufzulösen beginnen, denn heute gilt das Motto „Alles
ist Pop – alles ist erlaubt“.
Chancen, die sich bieten
Und da möchte ich auf die Chancen hinweisen die sich bieten,
denn in der heutigen Jugendkultur gibt es eine Zersplitterung in
viele Musikstile und Fraktionen, aber es gibt auch relativ wenig
Ideologien – die findet man im Feuilleton bei den Musikkritikern
eher als bei den Musikern und den Fankulturen selber. Wir stellen
fest, dass bei diesen ganzen Casting-TV-soap-operas immer häufiger
junge Nachwuchstalente nach vorne kommen, die ihren Weg schon im
Musicalbereich gemacht haben. Ich persönlich finde es aber
unsäglich, dass solche Talente sich vor einem Dieter Bohlen
präsentieren in dieser oft beleidigenden und Anpassung erzwingenden
Dramaturgie. Um einen Vergleich zu wagen: Man stelle sich vor, es
gebe einen neuen grossen Contest für junge Köche in Deutschland,
ein Wettbewerb mit dem der Deutsche Hotel- und Gaststättenverband
gemeinsam mit dem Bundesernährungsministerium zur französischen
Küche aufschließen will, also gastronomische Standortpolitik
für Deutschland gemacht werden soll – da würde man
die Leitung dieses Wettbewerbs doch nicht den Marketing-Managern
von McDonald‘s Deutschland überlassen. Aber genau das
passiert derzeit: Popkultur wird von Idealen abgekoppelt, verramscht,
im Internet geklaut und Dieter Bohlen, der seit Jahren mit Modern
Talking Pop lediglich mit raffiniertem Einsatz von Geschmacksverstärkern
simuliert, gilt als größter Pop-Entertainer, dem die
Medien auch noch die Zurichtung und Desorientierung junger Musiktalente
übereignen. Bohlen setzt die falsche Massstäbe, hurra,
wir verblöden.
Haack: Wie Sie reden, Herr Stark, hat man das
Gefühl, dass die Mauern auf der Rock- und Popseite mindestens
so hoch sind wie auf der Klassikseite. Das drückt sich schon
in der Wortwahl aus – von Reichskulturkammer hat bei „Jugend
musiziert“ bisher sicherlich niemand gesprochen. Da bekomme
ich Zweifel, ob eine Annäherung so leicht wird…
Stark: Nun, keine Sorge, ich habe gar kein Mandat,
für die gesamte Popkultur zu sprechen, einen derartigen Sprecher
gibt es auch gar nicht. Und da geht es schon los: Wer repräsentiert
eigentlich was? In dieser Frage bildet sich für mich ganz deutlich
das Kernproblem mit den Vorurteilen ab: Im Moment, in dem ich bestimmte
Ausführungen gemacht habe, scheint es hier schon allen klar
zu sein, dass ich niemals „Jugend musiziert“ besucht
habe, niemals im Klassikkonzert war, ich stehe nur für Rock
und Pop. Ich habe aber schon im Alter von 14 Jahren Sibelius gehört,
und ich fand Dvorak gut und auch Tschaikowsky – neben Jimi
Hendrix, José Feliciano und Jim Morrison. Wenn wir jetzt
hier sehen, wie in Deutschland Diskussionen verlaufen, dann ist
das doch wohl eher ein Fall für den Arzt, weil man das alles
zusammen eher gar nicht gut finden darf. Genau da setzt meine Kritik
an. Wir haben zu viele geschmäcklerische Diskussionen und Stilpolizei,
viel zu viele Ebenen – in der Vergangenheit mit Sicherheit,
das können Sie nicht bestreiten – auch der gegenseitigen
Verachtung. Wir müssen uns deshalb doch einmal klar machen,
was historisch passiert ist. Allein wenn man jetzt mit Begrifflichkeiten
wie Jazz, Rock, Pop argumentiert, sagen die Jugendlichen schon wieder,
was ist das denn. Diese alten Etiketten sind schon wieder überholt.
Wir brauchen doch ganz andere Prozesse der offenen Kommunikation
und der Kulturpolitik, die aus sich heraus nachweisen, dass man
in der aktuellen Entwicklung von Musikszenen und Musikszenarien
auf der Höhe der Zeit ist. Wir wissen doch, wie lang es gedauert
hat, bis etwa ein Dieter Gorny und ein Udo Dahmen im Präsidium
des Musikrates angekommen sind.
Höppner: Wir bewegen uns immer in der Vergangenheit.
Wir wollen aufarbeiten. Dass da Emotionen frei werden, ist ja gut,
die sollen auch nicht weggebügelt werden. Aber ich habe ja
das Glück als Frischling im DMR auch mit einer naiven Sicht
in die Themen einsteigen zu können. Unsere Klientel, die Kinder
und Jugendlichen, leben ganz unterschiedliche Kulturen. Da ist der
Klassiker, der rappt oder HipHop hört, oder was auch immer.
Da gibt es keine Dogmen und Scheuklappen. Die letzte Generalversammlung
hat zum Beispiel mit der Wahl von Udo Dahmen und Dieter Gorny Signale
gesetzt. Das sind Botschaften, den Blick unserer inhaltlichen Arbeit
zu weiten und die strategische Ausrichtung zu überdenken. Wir
sollten die Zeit jetzt nutzen, offen miteinander zu reden und vielleicht
hier und heute noch zu der Überlegung zu kommen, wie der erste
Schritt aussehen könnte.
Geißler: Ist es, um Martin Hufners Frage
noch mal aufzugreifen, nicht tatsächlich so, dass sich „Jugend
musiziert“ zum Klassik-Schutzverein entwickelt hat über
die letzten vierzig Jahre?
Von Gutzeit: Selbst wenn es so wäre, würde
ich das nicht unbedingt als Fehler betrachten, weil die Klassik
dieses Schutzes und dieser Pflege bedarf. Ich halte überhaupt
nichts von einer Kultur, die die Brücken in die Vergangenheit
nicht mehr ganz bewusst pflegt. Ich glaube, dass wir da eine richtige
Aufgabe wahrnehmen. Ich muss noch ein paar Klischees ansprechen,
die diese Diskussion bestimmen: „Jugend jazzt“ ist nicht
ausgegrenzt und weggebissen worden, sondern die Jazzer haben gesagt,
wir machen unseren eigenen Laden, weil der seine eigenen Gesetze
hat, und wir innerhalb dieser Gesetze vernünftig leben wollen.
Das ist genauso akzeptiert im DMR wie „Jugend musiziert“.
Es hat nicht diese Dimensionen, weil der Jazz im Grunde genommen
ein zu hütendes sehr kleines Pflänzchen ist. Die Jazz-Interessenten
sind meist auch ältere Musiker, man wächst da nicht wie
in die Klassik sehr früh hinein.
Wie geht man mit dieser Popkultur um? – Sie haben die Schule
angesprochen. Es ist so, dass die Schulmusiker sich in den letzten
Jahrzehnten der Popmusik sehr stark angenähert haben. Es hat
sich allerdings als unglaublich schwierig herausgestellt. Aus zwei
Gründen: Einmal haben Schulmusiker in diesen Bereichen sehr
wenige Qualifikationen. Es gibt aber noch einen zweiten Grund: vielfach
stellt diese Musik für die Jugendlichen eine Gegenwelt dar,
die sie gar nicht unbedingt in der schulischen Welt drin haben wollen.
Sie möchten nicht unbedingt mit ihrem Musiklehrer diese Musik
so auseinandernehmen, wie man eine Fuge auseinandernimmt. Der Lehrer
soll sich aus dieser Welt raushalten, weil er ihr nicht angehört.
Dieses Problem würden wir auch haben. Es gibt keine Abwehrhaltung
gegen den Pop. Es gibt nur die Frage des Findens der richtigen Formen
für eine bessere Förderung von Qualität im Bereich
der Popmusik. Kann ich das in „Jugend musiziert“ überhaupt
integrieren oder stellt man es daneben – wie macht man das
richtig, damit nicht alles verwässert und durch die gemeinsame
Anwendung von Kulturen, die nicht passen, nachher etwas Unprofiliertes
herauskommt.
Lebensraum definieren
Stark: An der Stelle muss ich entschieden widersprechen,
und zwar was die Rezeption der Jugendlichen betrifft. Es ist klar,
dass Jugendliche gerade mit Musik versuchen, ihren eigenen Lebensraum
zu definieren, sich gegen Ältere abgrenzen – auf der
anderen Seite haben wir mit der SchoolTour und den Projekten, die
ich seit drei Jahren für die Deutsche Phono-Akademie betreue,
ganz erstaunliche Erfahrungen gemacht, was das Arbeiten mit der
Popmusik in der Schule betrifft. Es ist durchaus möglich, mit
den ganz populären Ansätzen in der Schule für Musik
zu werben, das beinhaltet auch die Klassik, für die man ebenfalls
neue Konzepte braucht, denn das Modell Klavierunterricht mit dem
Charme von „Einzelhaft“ ist doch wohl überholt.
Die Programme der Phono-Akademie reichen von Pop bis Klassik, das
heißt ich würde hier auch gerade an der Stelle dafür
werben, gemeinsam über dieses Feld nachzudenken und die Chancen
zu sehen, die das gemeinsame Auftreten bieten. Wenn wir jetzt in
die Gesellschaft übergehen, dann ist es doch ohnehin so, dass
wir teilweise ähnliche Problemlagen haben. Es kann nicht richtig
sein, dass man diskutiert, welche Musik in der Schule die herausragende
sein soll, sondern wie bekommt man heute überhaupt noch bei
der starken Konkurrenz der Freizeitindustrie und ihrer Produkte
Interesse für Musik zustande. Wie schafft man Interesse für
das Lernen von Instrumenten. Da möchte ich auf einen entscheidenden
Punkt kommen – und das klärt vielleicht, warum ich historisch
und mit einigen scharfen Worten begonnen habe: Es ist so, dass ein
gemeinsamer Traditionsbegriff fehlt, wir haben keine gemeinsame
Definition über das, was eigentlich Musikleben sein soll. Es
gibt die Anfeindungen aus dem, was sich volkstümlich nennt
gegenüber Pop, es gibt Anfeindungen aus dem Pop über das
Volkstümliche, es gibt diverse Barrieren. Es gibt Künstler
wie Haindling, es gibt die Drei Tenöre, es gibt die Stereo
MCs, aber im konkreten Detail bedeutet das schon, dass es sehr viele
Künstler gibt, die den Crossover erkennen und nutzen wollen
und uns da vorangehen.
Wir bilden den Crossover viel zu wenig in Projekten ab. Ich finde
es sehr spannend zu erleben, wenn so ein paar junge Verrückte
Metallica mit Cello und Geige interpretieren. Es gab immer schon
sehr viele klassisch ausgebildetete Popkünstler, die die Klassik
hier und da haben aufblitzen lassen wie zum Beispiel Keith Emerson
und Deep Purple, es gibt aber auch Techno-DJs, die mit Geige und
Klavier begonnen haben und heute ihren Informationsvorsprung überhaupt
nicht mehr bereuen, auch wenn sie sich damit ungern schmücken,
denn es ist – noch! – nicht hip und cool in der Szene.
Es wäre schön, wir würden da zu einem gemeinsamen
Traditionsbegriff finden, der dann auch die Vokabel Qualität
ins rechte Licht rückt. Anders gesagt: Der gemeine Deutsche
erfreut sich im Urlaub im Ausland an lebendigen, vitalen Musikkulturen
wie in Griechenland, Irland oder Ägypten. Bei uns traut sich
kaum noch ein Mensch in der Kneipe ein Instrument hervorzuholen
und zum gemeinsamen Singen oder Musikmachen zu animieren –
auch das ist ein Teil unseres historischen Erbes der NS-Elitekultur.
Höppner: Crossover ist ja nur eine Möglichkeit.
Nehmen wir das Beispiel Singen: Wir haben heute die Situation, dass
in Kindergärten nicht mehr gesungen wird, weil es die Kinder
nicht angeboten bekommen. Ich bin sicher, dass Kinder singen wollen,
wir müssen nur das Angebot machen – egal welche Stilrichtung.
Wir müssen uns nicht so sehr die Gedanken über Attraktivität
der einen oder anderen Vermittlungsform machen, sondern wir müssen
uns Gedanken darüber machen, es als Gesamtkunstwerk anzubieten.
Ich sehe gar keinen Widerspruch, bei dem Thema kulturelle Identität
zu unseren Wurzeln zurückzukommen und das klassische Erbe,
mit dem, was wir heute an Ausdrucksformen haben, zu verbinden. Beide
Möglichkeiten gehören dazu, und deshalb mein Appell, nicht
zu sehr in die Vergangenheit zu sehen, sondern konkret und pragmatisch
eine Gesprächsebene suchen.
Haack: Von jungen Leuten, die bei „Jugend
musiziert“ mitmachen, wird es nur einen minimalen Bruchteil
geben, die sich nicht auch für Rock- und Popmusik interessieren
und dafür offen sind. Andererseits gibt es viele Jugendliche,
die sagen „Klassik ist Mist“. Deswegen ist auf dieser
Seite ebenso so viel zu tun wie auf der anderen, denn was nicht
passieren darf – obwohl ich auch für eine Öffnung
bin – ist, dass die Klassik langsam entschwindet, und dass
das eine das andere ersetzt.
Höppner: Man könnte ja auch fragen,
warum sich der John-Lennon-Talent-Award nicht für die klassische
Musik öffnet…
Traumatisiert durch Rock
Stark: Diese Beschränkung hat es doch nie
gegeben. Wenn sich Klassiker beworben hätten und neue Titel,
die noch nicht bei einem Label unter Vertrag sind, angeboten hätten,
hätten sie ihre Chance gehabt. Ich habe eher das Gefühl,
dass durch das Aufkommen des Rock’n’Roll einige Menschen
schwerstens traumatisiert wurden, und seitdem immer noch Angst haben,
die Tür könnte wirklich aufgehen. So wie Sie das darstellen,
drehen Sie das auf den Kopf: als hätten in der Gesellschaft
Rock und Pop die Macht und würden die Musik diktieren. Nur
in den ehrenwerten Zonen der Musikverbände würde man eben
die hehren Ziele der Klassik und des Qualitätslevels verteidigen
und auch ein traditionelles Erbe. Da muss man aufpassen, dass nicht
Gestalten durch die Tür kommen, die all dies niederreißen.
Ich bin der Meinung, wir bräuchten so etwas wie eine nationale
Musikgala junger Talente aus allen Sparten. Ein wirkliches Ereignis,
in dem alle Formen junger Musik auf die Bühne kommen, eine
junge Talentshow, die nicht die Frage stellt, was dort gemacht wird
– ob Klassik, Pop, HipHop – sondern wo man sich mit
den beteiligten Kräften, die ihre Kompetenz in den Sparten
aufgebaut haben, zusammentut – es könnte einen Block
geben, der wird von „Jugend musiziert“ gemacht und einen,
der wird vom JLT-Award gemacht, und einer von Jazzern, das könnte
ein Weg sein.
Von Gutzeit: Ich möchte noch einmal sagen,
dass Jugend musiziert in den letzten zehn Jahren inhaltlich sehr
viel bewegt hat und der Wettbewerb dadurch sehr an Lebendigkeit
gewonnen hat. Was ihr jetzt einfordert ist ein Quantensprung. Wenn
wir über die Chancen und die Sinnhaftigkeit miteinander sprechen
wollen, müsst ihr euch bitte auch mit diesem in 40 Jahren gewachsenen
Phänomen “Jugend musiziert” vorurteilsfrei beschäftigen
und Verständnis für seine Eigenarten entwickeln –
sonst wird kein Gespräch möglich sein. Ein Markenzeichen
von Jugend musiziert ist der hohe Qualitätsanspruch in der
Auseinandersetzung mit vielfältigen musikalischen Genres. .
Bei allen Öffnungen der letzten Jahre haben wir darauf geachtet,
diesen Qualitätsanspruch fortzuschreiben. Wie ließe sich
dieses Prinzip bei einer Öffnung zur Popkultur anwenden? Darüber
müssen wir eine sehr gründliche, qualifizierte Diskussion
führen. Dabei möchte nicht, dass die Einen als Bewahrer
an die Wand genagelt werden, die Anderen als die Bilderstürmer,
und dabei letztlich die Qualität einer Veranstaltung geopfert
wird, die in dieser Weise absolut einmalig ist.
Hufner: Ich hätte da noch ganz andere Vorstellungen.
Qualität ist für mich nicht das Kennzeichen von Jugend
musiziert, sondern es ist vor allem ein Wettbewerb, in dem eine
Musikkultur, eine musikalische Entwicklung bei Jugendlichen und
Kindern auf eine faszinierende und liebevolle Art und Weise gefördert
wird. Es kommt doch nicht darauf an, dass der Saxofonist mit 12
Jahren ein Solo wie Charlie Parker bläst, sondern dass er überhaupt
irgendwie ein Solo bläst und sich entwickeln und werden kann.
Dass man ihm die Chance gibt, werden zu dürfen, und nicht schon
gleich an der Spitze sein zu müssen.
Nicht „wir“ und „ihr“
Haack: Ich wünsche mir erstens, dass in
zehn Jahren nicht mehr von „wir“ und „ihr“
die Rede sein wird, wenn man von Rock und klassischer Musik redet.
Auch in zehn Jahren soll „Jugend musiziert“ noch durch
ein hohes Qualitätsbewusstsein gekennzeichnet sein, und dieses
soll auch nach außen vermittelt werden. Ich denke, das ist
auch eine Aufgabe von „Jugend musiziert“. Eine Gefahr
ist doch, dass dieses Gefühl für die Qualität verloren
geht. Aus diesem Grund wünsche ich mir noch, dass infolge dessen
nicht mehr Dieter Bohlen und Thomas Stein abends primetime „Deutschland
sucht den Superstar“ prämieren, sondern dass solche Veranstaltungen
eher von „Jugend musiziert“ gestaltet werden.
Von Gutzeit: Jugend musiziert hat eine enorme
Kraft: sobald der Wettbewerb seinen Inhalt um eine neue Variante
ergänzt, löst dies Aktivitäten in der Musikschule,
in den allgemeinbildenden Schulen und im Privatunterricht aus. In
diesem Jahr haben wir das wieder am Beispiel Musical erlebt. Diese
Kraft können und müssen wir ausnützen. Aber sie geht
nicht so weit, dass wir die Musikgesellschaft in ihren Grundzügen
verändern könnten. Jugend musiziert ist nicht der Hebel,
die großen Probleme, die Sie beschrieben haben, zu verändern.
Noch einmal: wir wollen uns mit Ihnen Gedanken darüber machen,
wie man die Qualität im Rock-/Pop-Bereich verbessern kann,
Wir können sicher etwas beitragen, aber wir können nicht
die Hauptverantwortlichen dafür sein, dass ein riesiger Bereich,
von dem wir sehr wenig verstehen, jetzt seine adäquaten Formen
findet.
Geißler: Die deutsche Musikpädagogik,
die einst gewissermaßen den Geist von „Jugend musiziert“
definierte, hat viele Jahre nicht auf musikalische Entwicklungen
in der Gesellschaft reagiert…
Von Gutzeit: Da will ich gar nicht widersprechen.
Natürlich hat die Musikpädagogik manches versäumt,
aber sie hat es auch unvorstellbar schwer. Die Situation der Musiklehrer
als einsame Exoten in ihrem Lehrerkollegium wird sich auch mit anderen
Inhalten nicht verändern.
Stark: Doch, das geht. An vielen Schulen habe
ich das erlebt, dass Einzelkämpfer eine Big Band gründen
und einen Gospelchor, ein Musical an der Schule machen, und die
sind hoch geachtet, auch im Kollegium. Wer sich aber in die Rolle
ergibt, die ihm von den Kultusministerkonferenzen zugewiesen wird,
wer sich nur in die Lehrpläne fallen lässt und Dienst
nach Vorschrift macht, der findet sich am äußersten Ende
wieder.
Von Gutzeit: Sie jonglieren mit Klischees. Der
Musiklehrertyp, den sie als Ideal beschreiben, ist längst der
Regelfall. In den Schulen werden so viele Musicals und andere tolle
Sachen gemacht. Ein Schulorchester, das nur noch Telemann spielt,
gibt es nicht mehr!
Stark: Ich spreche jetzt hauptsächlich vom
Grund- und Hauptschulbereich. Da ist es die Ausnahme. Meine Frage
ist eigentlich: Wie können wir Vergangenes, Gegenwärtiges
und Zukünftiges gemeinsam bewältigen: dass der DMR quasi
Managementaufgaben übernimmt hinsichtlich der Zusammenführung
unterschiedlichster Aktivitäten, zum Beispiel im Schulbereich.
Warum kann der DMR nicht ein Crossover-Ressort mit Praktikern unterscheidlichster
Bereiche ins Leben rufen, mit Menschen, denen die Trennung von U-
und E-Musik als das erscheint, was sie ist: eine Beleidigung für
jeden aufgeklärten Zeitgenossen, der die Wahrheit kennt. Und
die lautet schlicht: Es gibt nur gute oder schlechte Musik und Menschen,
die leider auf beiden Seiten dieser Wahrnehmung mit Zustimmung zu
finden sind.
Geißler: Das ist ein Management-Anspruch
an eine Struktur, von der man sagen kann, dass sie in ihrem hauptamtlichen
Bereich über Strecken nicht so gearbeitet hat, wie man es hätte
erwarten dürfen.
Hufner: Es gibt keinen U- und E-Musikrat, sondern
es ist eben DER Musikrat.
Von Gutzeit: Natürlich. Aber so etwas läuft
immer über Personen. Wir haben jetzt erstmalig ein Präsidium,
in dem nicht nur “Klassiker” repräsentiert sind
und von daher wird sich bestimmt etwas bewegen. Aber auch hier gilt,
dass Initiativen nicht nur von oben erwartet werden dürfen.
Geißler: Es gibt eine hauptamtliche Organisationsstruktur
beim Musikrat, an der sich im Moment wenig ändert. Für
einen zusätzlichen Wettbewerb im Schülerband-Bereich namens
„School-Jam“ wird eine weitere Stelle geschaffen. Dagegen
wäre ja nichts einzuwenden. Aber gerade der ganze Wettbewerbs-Bereich
ist personell opulent besetzt. Jeder werkelt da in seinem vermeintlichen
Fachbereich. Blicke über den Tellerrand sind selten. Hier gäbe
es jede Menge Synergien. Da liegt ein grundsätzlicher Management-Fehler.
Hier könnte man Kräfte zum Segen eines spartenübergreifenden
Verständnissers bündeln
Strukturen müssen wachsen
Hufner: Reinhart von Gutzeit hat vollkommen Recht,
wenn er sagt, dass so eine Struktur wachsen muss, dass sie aus dem
Boden herauskommen muss, um irgendwo hingeführt zu werden.
Sonst ist das wie im Zentralkomitee der UdSSR, die entscheidet jetzt
in Plan fünf, wir brauchen jetzt einen Popmusik-Wettbewerb
in „Jugend musiziert“, den stülpen wir jetzt drauf,
egal ob es Strukturen dafür gibt, wir haben das so entschieden,
das ist gut und kulturell notwendig. Dann hat man diese diktatorische
Musikplanwirtschaft, die wahrscheinlich mehr kaputtmacht als nützt.
Stark: Wenn man hier mal versucht, etwas aufzuarbeiten,
und man spürt noch dieses Nachbeben der ganzen desaströsen
Entwicklung beim DMR, finde ich es nicht verkehrt, auch mal über
die Fehler der Vergangenheit nachzudenken. Das sehe ich nicht als
Schwarzen Peter, sondern das sehe ich als eine sinnvolle Kontroverse
an. Natürlich ist der DMR in der neuen Konstellation eine Chance,
aber nur, wenn der Geist dabei auch bewegt und das Ende der Nischengesellschaft
dort glaubwürdig proklamiert wird.
Von Gutzeit: In der Diskussion um die neuen Strukturen
des Musikrates hat genau das eine Rolle gespielt. Meine Sorge ist,
dass sich der Musikrat im Moment in einem zu umfassenden Verantwortungsanspruch
überheben könnte. Auch zukünftig wird seine Arbeit
im wesentlichen darin bestehen, gezielt Impulse zu setzen und im
übrigen die Aktivitäten seiner Mitglieder bestmöglich
zu vernetzen. Bezogen auf unser Thema könnte ich mir als einen
konstruktiven Schritt ein Begegnungsforum der Wettbewerbe und Förderprojekte
vorstellen, wo wir unsere Konzepte, Strategien, Organisations- und
Finanzierungsmodelle vergleichen und uns über mögliche
Anknüpfungspunkte Gedanken machen.
Pilotprojekt Rock
Haack: Eine Idee wäre doch, wie beim Musical
ein Pilotprojekt zu starten. Der Landesmusikrat Niedersachsen zum
Beispiel leistet sich seit elf Jahren einen hauptamtlichen Rockreferenten.
Auch dort hat es bisher im Rahmen von „Jugend musiziert“
keine Annäherung gegeben. Warum fängt man nicht dort –
oder in einem anderen Bundesland – einfach einmal an? Das
wäre auch ein Modell für den DMR, so etwas personell mittelfristig
zu planen.
Geißler: Gibt es im Hauptausschuss „Jugend musiziert“
eine solche task-force-Überlegung? Da hat man im Rock-Bereich
einen Wettbewerb, der hochkompetent ausgerichtet wird: den JLT-Award,
der sich auch in der Häutung befindet, und es gibt im Paralleluniversum
„Jugend musiziert“. Ist das nicht eine Chance, aufeinander
zuzugehen, auch mal Nägel mit Köpfen zu machen?
Hufner: Die Rocker sind da aber in einer gewissen
Bringschuld.
Stark: Dann müssen die Türen auch aufgemacht
werden und wirklich über eine gemeinsame Musikkultur mit all
ihren Facetten nachgedacht werden. Wenn sie die Krümel der
Kulturetats kennen, die vom Tellerrand der Hochkultur zum Beispiel
in Hamburg in die Förderung der Clubszene hinabfallen, dann
sollten Sie das mit der Bringschuld mal ganz schnell wieder vergessen,
denn das ist keine Polemik, das ist Zynismus.
Ist es realistisch, dass es eine Projekt-Begegnungsstätte
gibt? Das ist etwas, was von einem Musikrat von der Einladung, von
der Ansprache ausgehen müsste. Gerade auch um alle Unwägbarkeiten
auf ein sachliches seriöses Niveau zu bringen. Jeder stellt
sein Projekt vor und berichtet davon – ich kann mir vorstellen,
dass das sehr fruchtbar wäre.
Wie gesagt, ich würde das Abteilung für Crossover nennen,
das klingt lustig und kreativ, das könnte nebenher auch mit
Diskursen dem neuen Pop-Beauftragten der Bundesregierung den Weg
weisen, denn dessen erste Äußerungen lassen ebenfalls
großen inhaltlichen Nachhol- und Schulungsbedarf erkennen.