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nmz-archiv
nmz 2003/7-8 | Seite 5
52. Jahrgang | Jul./Aug.
Feature
Musik als Studium generale am Golf von Mexiko
Über ein Beispiel musischer Bildung für Hörer
aller Fakultäten berichtet · Gerta Stecher
Xalapa, Hauptstadt des mexikanischen Bundesstaates Veracruz, Haupteingang
der staatlichen Universität: Gleich fünf Plakate werben
für Konzerte mit Barockmusik, Jazz und traditioneller mexikanischer
Folklore. Seit jeher verstehen sich die Universitäten Lateinamerikas
auch als Kulturzentren mit Angeboten für Studierende und Bevölkerung
– zumal es an entsprechenden staatlichen und kommunalen Infrastrukturen
oft mangelt. Doch diese Uni ist in Sachen Kultur absoluter Spitzenreiter.
Denn alle auf den Plakaten genannten Instrumentalisten sind Universitätsangehörige.
Die Universität Xalapa verfügt über eigene professionelle
Schauspieler, Tänzer, Maler, Bildhauer. An keiner weiteren
Hochschule Mexikos gibt es fest angestellte Künstler. „Für
uns ist es undenkbar, dass Ingenieure, Juristen oder Ärzte
die Universität absolvieren, ohne dass sie Kontakt mit Kunst
hatten. Wir wollen keine Fachidioten.“ Fernando Vilchis sagt
es, als verstünde es sich von selbst. Er ist Maler und gehörte
1967 zu den Initiatoren dieses universitären Kultur-Konzepts:
„Es ist eine Ergänzung zur Ausbildung. Das Geld, das
uns die Kultur kostet, ist keine Geldausgabe, sondern eine Investition.“
Universität mit eigenem
Label: Die Abbildung zeigt ein Cover aus der CD-Reihe der
Universidad Veracruzana
Das sieht Rafael Jiménez, ein Meister der klassischen Gitarre,
genauso. Auf den Plakaten wird er mit der Chaconne aus der Partita
in D-Moll von J. S. Bach in der Transkription von Andrés
Segovia angekündigt. „Wo in der Welt tauchen im Stellenplan
einer Universität Musiker auf? Das ist für uns eine Art
Lebensgrundlage.“ Für das Geld, das ihnen die Universität
zahlt, sind die Künstler zu zweierlei verpflichtet: zum einen
bei den diversen Veranstaltungen der verschiedenen Fakultäten
zu musizieren und darüber hinaus Konzerte anzubieten und zum
anderen an der Musikfakultät zu unterrichten. Von den Honoraren,
die sie bei Auftritten im In- und Ausland einstreichen, verlangt
die Universität keinen Pfennig. Trotz vieler Einladungen und
Ehrungen könnte Jiménez nur schlecht von Honoraren existieren.
Mit der finanziellen Grundsicherung durch die Uni sind alle Musiker
der verschiedenen Klangkörper der Hochschule ausgestattet,
vom Symphonieorchester über die Jazzgruppe bis zum klassischen
Gitarrenensemble.
Rafael Jiménez leitet seit sechs Jahren die Gitarristen,
zu denen auch ein Altmeister der klassischen Gitarre, Alfonso Moreno,
gehört. Der hatte vor drei Jahrzehnten das Ensemble gegründet
und vor sechs Jahren die Leitung an Jiménez übergeben.
Moreno war nicht nur Jiménez’ Vorgänger, sondern
auch dessen Lehrer. Mit ihm begann überhaupt erst die Ära
der klassischen Gitarre in Xalapa. „Als ich mich an der Musikfakultät
von Xalapa bewarb und fragte, ob man hier klassische Gitarre studieren
könne, da war der Direktor ganz erstaunt, dass man die Gitarre
auch so spielen können soll“. Moreno lacht. Er war sich
seiner Sache sicher, hatte er doch im Radio den Spanier Andrés
Segovia, den klassischen Gitarristen, gehört. In Mexiko aber
kannte man die Gitarre nur als Begleitinstrument für Folkloregesang.
„Es gab dieses Fach damals also nicht. So studierte ich Violine,
war Geiger im Symphonieorchester von Xalapa, hing aber immer der
Gitarre nach. Da lernte ich den argentinischen Maestro des Gitarrespiels
Manuel Lope Ramos kennen. Ich glaube, Gott hatte ihn nach Mexiko
geschickt, um mich im Fach Konzertgitarre auszubilden.“
Danach wurde Moreno als erster Lehrer für Klassische Gitarre
an der Universität in Xalapa angestellt. Trotz seiner internationalen
Engagements und erster Plätze in Wettbewerben ist er sich nicht
zu schade, auch heute noch als festangestellter Hochschullehrer
zu wirken. Er hat im Verlauf von drei Jahrzehnten unzählige
Studenten aus aller Welt ausgebildet, die nun selber wie Rafael
Jiménez als Gitarristen und Lehrer arbeiten. Doch das ist
ihm nicht der Erwähnung wert, weil das so oder ähnlich
an allen Musikhochschulen der Fall ist.
Auch er will den Beitrag zur Förderung der Musikkultur aller
Studenten an dieser Universität besonders gewürdigt wissen.
„Fast täglich spielen wir in irgendeiner Fakultuät
und versuchen, die Jugendlichen mit unseren Konzerten musikalisch
zu bilden. Es geht doch nicht an, dass Hochschulstudenten, die schon
dabei sind, ihr Examen in Natur- oder Geisteswissenschaften zu machen,
nichts von klassischer Musik wissen, absolut nichts.“
Interesse für klassische Musik zu wecken gelingt den Konzertgitarristen
leichter als anderen Instrumentalisten, meint Alfonso Moreno: „Die
Gitarre ist ein sehr populäres Instrument in Mexiko. Fast jeder
Haushalt hat eins und sei es nur als Wandschmuck. Wenn ein Gitarrenkonzert
angekündigt wird, kommt immer Publikum, das aber erwartet,
dass wir zur Gitarre singen. Da wir das nicht tun, verlassen einige
den Saal. Aber andere bleiben und kommen auch wieder. Über
die Jahre haben wir ein beachtliches Publikum für klassische
Musik gewonnen.“ Zu diesem Stammpublikum gehören nicht
nur Studenten, auch Schüler der der Universität angeschlossenen
Musikschule und zahlreiche Einwohner Xalapas.
Zu den Verpflichtungen der von der Universität besoldeten
Künstler gehört ebenfalls, auf Veranstaltungen der Stadt
im Theatersaal, im Anthropologischen Museum, in der Stadtbibliothek,
sogar im Krankenhaus oder Gefängnis und außerhalb Xalapas
selbst in kleinsten Orten aufzutreten. „Als wir einmal in
einem Dorf musizierten, in dem nur Indios leben und in dem es nie
zuvor eine Konzertveranstaltung gegeben hatte, spielten wir Vivaldi.
Einige Zuhörer bekamen feuchte Augen und sagten: Es ist unglaublich,
dass es so etwas Schönes gibt, das wir nie in unserem Leben
gehört haben.“
Diese Geschichte berichten selbst Musiker, die sich nicht dem Klassischen
Genre widmen wie Alberto de la Rosa, Interpret von traditioneller
mexikanischer Musik. Dieses Musikgenre hat es bei den Studenten
einfacher, akzeptiert zu werden, wird die eigene Folkloremusik bei
den Mexikanern doch noch immer geschätzt. Aber de la Rosa warnt:
„Auch die Folklore leidet unter dem Bombardements auf die
Seele der Menschen von Seiten der modernen Massenmedien mit ihrer
ferngesteuerten Musik. Wir werden nur bestehen können, wenn
wir unsere Traditionen zu bewahren wissen: Wir müssen sie zu
Gehör bringen, damit sie von jungen Menschen überhaupt
gekannt werden.“
Auf den Plakaten am Eingang der Uni ist de la Rosa als Harfenist
und Arrangeur angekündigt. Nach einer akademischen Musikausbildung
an der Universität in Xalapa bewarb er sich um den Lehrstuhl
für traditionelle Musik. Er gehört zu den bekanntesten
Folklore-Harfenisten Mexikos und ist zugleich musikalischer Leiter
des Folkloreballetts der Universität.
Lucio Sánchez, als Bassist und Komponist auf den Plakaten
annonciert, ist Jazzmusiker und Jazzprofessor an der Universität,
an der auch er zuvor ein akademisches Musikstudium absolvierte.
„Was uns als Jazzleute auszeichnet, ist, dass wir alle eine
klassische Ausbildung haben.“ Doch nicht nur das prägt
ihren Stil. „Unser Jazz hat lateinamerikanische Rhythmen.
Wir verwenden zudem Afro-Instrumente wie Congas und mexikanische
wie Maracas und Marimbas.“ Jazzveranstaltungen werden von
Studenten am meisten gefragt. Besonders angenommen sind die kleineren
Formationen, die sich zeitweilig aus der Jazzgruppe von Lucio Sánchez
heraus gründen. Das haben die Jazzer von den Gitarristen gelernt,
wo sich Duos, Trios, Quartette und Quintette für ein bestimmtes
Programm bilden.
Die Konzertplakate kleben nicht nur an den Universitätseingängen,
sondern überall in Xalapa. Auf Schritt und Tritt kündigen
die Universitätsmusiker neue Programme und veränderte
Klangkörper an. Die Vertreter der verschiedenen Musikgenres
lehren nicht nur Seite an Seite, sie musizieren auch oft gemeinsam.
So holt sich der Chor mit seinen 80 Sängern instrumentelle
Unterstützung beim Symphonieorchester mit seinen 110 Musikern
oder ein Geiger des Symphonieorchesters gewinnt Solisten des Gitarrenensembles
mit seinen 35 Mitgliedern sowie einen Jazz-Trompeter, um eine Mariachi-Gruppe
zu bilden. Nur für eine bestimmte Zeit. Dann verlangen neue
Ideen neue Gruppierungen. In den verschiedenen Formationen konzertierten
die Künstler nicht nur an der Uni, in Xalapa und Umgebung,
sondern auch weltweit in 60 Ländern.
Wie die Musiker wirken auch alle anderen Künstler sowohl
innerhalb als auch außerhalb der Universität. Fernando
Vilchis, der Maler und Mitinitiator dieses Konzepts, stellt seine
Werke außer in Galerien auch in der Universität aus.
Vier farbenprächtige Ölgemälde seiner Serie „Bäume“
hängen im Verwaltungstrakt. Vilchis setzt auf die Unumkehrbarkeit
der universitären Kulturarbeit, die vom Staat Mexiko, der Regierung
des Bundesstaates Veracruz und einigen Stiftungen finanziert wird.
Er fürchtet auch in globalisierten Zeiten keine Streichorgien
am Kulturetat seitens der Politiker, zumal einige von ihnen Studenten,
und ein Gouverneur des Bundesstaates Veracruz, sogar Rektor der
Universität war.
Dass er da ein Fantast sein könnte, weist Vilchis zurück.
Er führt als Beweis für seinen Glauben folgendes Exempel
an: Vor Jahren wollte ein Gouverneur das Symphonieorchester auflösen,
weil es das meiste Geld kostet. Da kam es zu Protesten der Studenten
und der Bevölkerung und das Orchester blieb. „Bis jetzt
scheint unser Kulturbudget nicht bedroht zu sein. Aber sollte der
Augenblick kommen, ich hoffe, er kommt nie, dann wird es Widerstand
geben von allen Seiten der Gesellschaft.“ Natürlich setzt
er dabei auf die Universitäts-Absolventen, die in großer
Zahl musisch gebildeten Akademiker welchen Berufszweigs auch immer.