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nmz-archiv
nmz 2003/7-8 | Seite 22
52. Jahrgang | Jul./Aug.
Forum Musikpädagogik
Mit Musik den Reichtum der Lebenswelten erschließen
Über das Wechselspiel zwischen Musik und Identität
· Von Michael Dartsch
Die beiden vorangegangenen Texte haben sich mit den Wirkungen
von Musik auf Denken und Persönlichkeit beschäftigt. Es
scheint gerechtfertigt, davon auszugehen, dass die Beschäftigung
mit Musik Entwicklungstendenzen bremsend oder fördernd beeinflussen
kann. Rechtfertigen solche Überlegungen nun auch die Rede vom
Bildungswert der Musik?
Von bildenden Einflüssen mag man eine gewisse Nachhaltigkeit
erwarten. Darüber hinaus sollen sie nach traditioneller Auffassung
zur Orientierung beitragen (Hentig, 1999, S. 55). Solche Orientierung
geschieht nach Schäfer (1995) als Eigenleistung des Subjekts
durch die Einordnung des jeweils Neuen in bereits Erfahrenes und
Getanes, durch sinnvolle Anordnung der Erfahrungen in individuellen
„Mustern“. Voraussetzung ist die Konfrontation mit „Gegenständen“,
die mit der ganzen sinnlich-emotionalen Palette des Menschen wahrgenommen
werden (S. 19f.). Solche Bildungsgegenstände wären demnach
weniger von sich aus prägend, sondern müssten eher als
je besondere Angebote verstanden werden, die jeder und jede Einzelne
individuell zur Orientierung verwenden kann. Was aber ist nun das
Besondere des Angebotes „Musik“, welche Orientierung
ermöglicht dieser Gegenstand?
Zunächst lernt man im Musikunterricht, sich im Bereich der
Musik zu orientieren: Wie klingt dies oder jenes, wie ist eine Tonleiter
aufgebaut, welche Komponisten haben wann gelebt, wohin muss ich
wie greifen, wenn dies oder jenes erklingen soll, welche Erfahrungen
und Möglichkeiten zum inneren Mitvollzug hält diese oder
jene Musik für mich bereit? Damit gerät wieder der Eigenwert
der Musik in den Blick, der hier allerdings Anlass zu der Frage
geben soll, warum der Mensch solcherlei Orientierung immer wieder
gesucht hat und sucht.
Unter einer solchen anthropologischen Perspektive wird in der Fachliteratur
auf den Aspekt der Kommunikation und Gemeinschaftsbildung verwiesen,
der etwa den evolutionären Ausschlag für die Ausbildung
von Musik gegeben haben könnte (vgl. Suppan, 1984; Jourdain,
2001). Tatsächlich mag in der „Melodie“ eines Schreis
sowohl beim Urmenschen als auch beim Säugling (vgl. Klausmeier,
1978) eine Vorform von kommunikativer Musik, von Musik als Ausdruck
gegeben sein. Musik bietet auch Möglichkeiten des psychischen
und körperlichen Mitvollzugs und Nachvollzugs, sie kann also
im Jargon der Sprachwissenschaft nicht nur „gesendet“,
sondern auch „empfangen“ werden. Neben der sprachlichen
Kommunikation mit ihren Charakteristika, zum Beispiel der angestrebten
Eindeutigkeit, hätte der Mensch also eine weitere Kommunikationsform
entwickelt, die anderes und auf andere Weise transportieren kann.
Der gemeinsame Code
Das erwähnte Gemeinschaftsgefühl, ja eine Gruppenidentität,
kann entstehen, wenn die spezifischen Zeichen der Musik zu einem
gemeinsamen Bezugssystem werden. Bezogen auf eine multinationale
Schulklasse führt Maria Spychiger aus: „Grundlegende
Konzepte des menschlichen Lebens und Zusammenlebens – Freude,
Trauer, Ruhe, Schönheit und so weiter – ebenso wie elementare
Kategorien der Wahrnehmung, zum Beispiel laut-leise, hoch-tief,
langsam-schnell und so weiter, können musikalisch erfahren
und repräsentiert werden [...].
Die Kinder bauen damit einen gemeinsamen Code auf, der weit über
den sprachlichen hinausreicht, und sie müssen in ihren Interaktionen
nicht ständig über ihre unterschiedlichen gesellschaftlichen,
familiären und religiösen Konzepte stolpern, sondern haben
die Möglichkeit, sich auf ihre gemeinsam aufgebauten musikalischen
Referenzen zu beziehen“ (2001, S. 34). Musik bietet solche
Referenzen und Identitätsangebote – wie Volksmusik und
aktuelle Charts zeigen – auch für Regionen, Nationen
und Generationen an.Mit wem jedoch kommuniziert der zu Hause allein
für sich selbst Klavier spielende Mensch, um welche Identität
geht es in diesem Fall? Es liegt nahe, hier von einer „Kommunikation
mit sich selbst“ auszugehen, die die eigene Identität
zum Thema hat. Auch für den Begriff der „Identität“
findet sich keine einheitliche Sichtweise oder gar Definition in
den Sozialwissenschaften und der Psychologie. Schon die Übersetzung
des Begriffs als „Sich-selbst-gleich-Sein“ macht deutlich,
dass es um ein Verhältnis zu sich selbst geht.
Haftet auch dem Identitätsbegriff die Assoziation der inneren
Harmonie und wiederum der Konstanz an, so ist doch Zweifel daran
laut geworden, ob – vor dem Hintergrund einer komplexen Gesellschaft
ohne verbindliche Lebensform und Wertorientierung – eine stabile
und eindeutige Identität heute überhaupt möglich
ist. So ist die Rede von „multiplen Realitäten“
(Schütz, 1962a; 1962b, S. 340ff.) und Identitäten, „Patchwork-Identität“
(Keupp, 1988; 1989), „pluralen Identitäten“ oder
Identitäts-Übergängen (Welsch, 1998); vermehrte „Identitätsarbeit“
(Cohen, Taylor, 1980, S. 96) scheint notwendig. Wo ein Sich-gleich-Sein
thematisiert wird, wird der Blick zugleich auf mögliche Divergenzen
gelenkt: Divergieren können etwa mein Ideal und meine Selbstwahrnehmung,
meine bewussten Gedanken und das untergründig Gefühlte,
die verinnerlichten Erwartungen anderer und die eigenen tiefen Bedürfnisse,
schließlich auch meine Selbstkonzepte in verschiedenen sozialen
Zusammenhängen. Als negativ empfunden werden Divergenzen, sobald
sie den Wunsch nach Veränderung mit sich bringen – und
wo es um Divergenzen in mir selbst geht, müssen also Veränderungen
in mir selbst angestrebt werden. Möglicherweise könnte
in solchen Veränderungen der tiefere Grund für die Ausbildung
der Künste liegen. Auch hier wieder ist an ein Kontinuum von
oberflächlichen bis tief greifenden, von kurzfristigen bis
lang anhaltenden Veränderungen zu denken. Auf der eine Seite
steht hier die Stimmungsmodulation für die Zeit des Hörens
von Musik, des Lesens eines Textes oder des Betrachtens eines Bildes.
Das Radio beim Spülen oder Rasieren ist sicher in vielen Fällen
ein treffendes Beispiel. Länger und eindringlicher wirkt für
manchen der Besuch einer Opernaufführung oder Ausstellung.
Wird die Beschäftigung mit Kunst, das eigene Malen, Musizieren
oder Dichten zum längerfristigen Interesse oder gar zur „Passion“,
dann kann das als „Arbeit an sich selbst“ empfunden
werden, wie auch Bastians Befragung der erfolgreichen jungen Musiker
belegt (1991, S. 155ff.).
Musik kann gewissermaßen wie ein großes Sandförmchen
in den Sand unserer Psyche hineingreifen und dort seine Spuren hinterlassen.
Dabei können alte Muster noch einmal befestigt werden oder
auch ganz neue Formen entstehen. Es kann sich um mit anderen geteilte
oder um ganz individuelle Muster handeln. Und schließlich
können die Förmchen mehr oder weniger tief in den Sand
hineinreichen, können die Oberfläche tangieren, die der
Wind des Alltags schon bald wieder anders formt, oder können
nach einigem Graben ungekannte Tiefen zu Tage fördern.
Einige Förmchen werden als industrielle Massenware produziert,
beworben und konsumiert, andere sind in mühevoller Handarbeit
als Frucht langen Kämpfens und Suchens entstanden. Einige schwimmen
auf den Wellen wechselnder Moden, andere sind Ausdruck einer langen
Zeitspanne gesellschaftlichen Lebens, so dass sich durch das Kennenlernen
und Nacherleben die Wurzeln und der Entwicklungsgang einer Kultur
sozusagen „aus der Innenperspektive“ erschließen
lassen. Außerdem gibt es auch hier die Antiquitäten und
ihre Liebhaber ...
Sobald der Mensch als freies Einzelwesen in Abgrenzung zu anderen,
und sobald die Gruppe von Menschen in Abgrenzung zu anderen Gruppen
sich erleben konnten, bedurfte es eines Verhältnisses zu sich
selbst, einer „Selbst-Orientierung“, „Selbstdefinition“
und Selbstformung, die vielleicht die Herausbildung von Kunst notwendig
machte. Und auch hier zeigt sich deren Eigenständigkeit in
ihrer Verflochtenheit mit anderen Lebensbereichen, etwa mit Religion,
Arbeit, Recht, Kampf und Feier (vgl. Suppan, 1984), die jeweils
von der speziellen Potenz der Kunst profitierten und so in ein Selbstbild
integriert werden konnten. Dass der Rhythmus einer Musik auch als
„Gebrauchsgegenstand“ (Suppan, 1984) zur Arbeitserleichterung
eingesetzt werden konnte, tut keinen Abbruch. In dem Augenblick,
wo sie dabei auch ästhetisch wahrgenommen wird, kommt der spezielle
Kunstaspekt der „Arbeit an Identität“ zum Tragen.
Dabei wohnen den verschiedenen Künsten je spezifische Potenzen
inne. Je nach Ausdrucksmedium sprechen sie die Körperlichkeit
des Menschen auf charakteristische Weise an, beziehen das Verbale,
Klangliche oder Visuelle mit ein, laufen in der Zeit ab oder führen
zu zeitunabhängigen materiellen Ergebnissen. In allen aber
geht es um den psychischen Mitvollzug und um Strukturen und Formen,
was noch einmal das Bild des „Sand-Förmchens“ rechtfertigt.
Was aber speziell die Musik kann, kann in diesem Sinne tatsächlich
nur die Musik.
Lebensentwürfe zur Probe
Dabei stellt Musik verschiedener Zeiten, Gattungen und Idiome
je besondere Verbindungen zu kulturellen Wurzeln her, repräsentiert
auf ihre Weise je unterschiedliche Welt- und Lebensentwürfe
und bietet sie zum „Anprobieren“ an: klösterliche
Kontemplation; ritterlichen Minnedienst; aristokratische Feinsinnigkeit;
gelehrte Raffinesse; höfische Prachtentfaltung; Ornament, Affekt
und Pathos; Regionalstil, „goût“ und Nationalgefühl;
Lust und Selbstinszenierung des Virtuosen; tragische und komische
Bühnenfiguren; Tanz, Witz und Spiel; fromme Bibelausdeutung;
Zuflucht und Trost; Ekstase und Gotteslob; Protest und Aufbegehren;
die Suche nach Erlösung und Wahrheit; Impulsivität und
komplexe Konstruktion; Mystik, Zufall und Ironie ... Letztlich können
jedes einzelne Musikstück und jede Art, sich dazu zu verhalten
jeweils Einzigartiges „anbieten“, womit sich gewissermaßen
Welten an möglichen Erfahrungen auftun.
Den Reichtum dieser Welten in eine Beziehung zu sich selbst zu
setzen und davon für sich zu profitieren, – das soll
Musikerziehung ermöglichen helfen.