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nmz-archiv
nmz 2003/7-8 | Seite 1-2
52. Jahrgang | Jul./Aug.
Leitartikel
Musik bewegt und sie braucht viel Platz
Über Sonntagsreden, Montagshandeln und Analyseräusche
· Von Christian Höppner
Bundespräsident Johannes Rau will mit dem Projekttag „Kinder
und Musik“ am 9. September in Berlin den Startschuss für
ein breites gesellschaftliches Engagement für musisch-kulturelle
Jugendbildung setzen. Am Montag, den 8. September, wird der Deutsche
Musikrat unter Bezug auf diesen Projekttag den Kongress „Musik
bewegt“ in Berlin veranstalten. Zur aktuellen musikpolitischen
Situation im Vorfeld dieser Veranstaltungen nimmt Vizemusikratspräsident
Christian Höppner Stellung.
Meine mit reicher Lebenserfahrung gesegnete Gemüsehändlerin
auf einem Berliner Markt empfing mich beim letzen Einkauf mit der
Frage, „Wat brauchen wir drei Opernhäuser, wenn der Botanische
Garten geschlossen werden soll?“ Unabhängig von den Berlinspezifischen
Problemen mangelnder Profilbildung und Vernetzung im Kulturbereich
hat sie damit auf den Punkt gebracht, wie wir den Blick in dem gesellschaftlichen
Diskurs um Prioritäten weiten müssen. Mit dem Standardrepertoire
wohlformulierter Überzeugungen und Begründungen allein
werden wir diese Fragestellung wohl nicht mehr beantworten können,
zumal das Engagement für Bildung und Kultur fälschlicherweise
mehr und mehr mit Lobbyistentum gleichgesetzt wird. Dabei haben
wir den großen Standortvorteil, von der Position einer gesamtgesellschaftlichen
Verantwortung her argumentieren zu können, die Bildung und
Kultur einvernehmlich als grundlegende Lebenselemente unserer Gesellschaft
definiert. In diesem Sinne ist Musikpolitik Gesellschaftspolitik,
weil sie das Ganze über die Vertretung von Einzelinteressen
stellt und sich ausschließlich an der Frage „was nutzt
es unserer Gesellschaft“ zu orientieren hat. Selbst die Vertretung
von Einzelinteressen, etwa durch die Fachverbände, kann und
sollte – mehr als bisher – in diesen Zusammenhang gestellt
werden. Damit wächst unter der Prämisse, dass das Ganze
mehr als die Summe seiner Teile ist, ein erweitertes Verantwortungsbewusstsein
für unser Gemeinwesen, das der Legitimation unserer Arbeit
eine neue Qualität verschafft.
Natürlich wird über Inhalte und Umsetzungsformen gestritten,
aber ich kenne niemanden, der die Bedeutung einer fundierten Bildung
für die Zukunftsfähigkeit unserer Gesellschaft in Frage
stellen würde. Gerade in einer Zeit, in der sich das Menetekel
einer gesellschaftlichen Krise, die nicht nur ökonomisch zu
begründen ist, abzeichnet, gibt es den Konsens, in Bildung
zu investieren. Wenn sich aber diese Gesellschaft einig ist, warum
setzen wir dann diese Erkenntnisse und Überzeugungen nicht
um?
Zum einen bestimmt die Vertretung von Partikularinteressen noch
immer das politische Alltagsgeschäft und behindert damit den
Blick auf das Ganze. Die vorläufig gescheiterte Fusion der
Kulturstiftungen des Bundes und der Länder ist zwar kein Beinbruch
und eröffnet noch einmal die Chance, gravierende Geburtsfehler
für einen neuen Anlauf zu korrigieren, belegt aber auch beispielhaft
die Fokussierung auf die Durchsetzung von Partikularinteressen.
Zum anderen verstärkt sich seit geraumer Zeit die Tendenz,
dass Themen und die daraus gewonnenen Erkenntnisse, die in unserer
Gesellschaft nicht strittig sind, immer neu analysiert werden und
– wo möglich – wissenschaftlich bewiesen werden.
Die Wirkungen von musischer Bildung auf die Persönlichkeitsbildung
insbesondere von Kindern und Jugendlichen sind seit der Antike bekannt.
Dennoch wiederholen wir gebetsmühlenartig die alten Argumente
in immer neuen Variationen. In diesem Analyserausch aus stets neuesten
Untersuchungen, Studien, Gutachten und Prognosen verlieren wir den
Blick für das Ganze und vernetzen nur unzureichend die Datenflut
der soziokulturellen Entwicklung. So befinden wir uns in der Endlosschleife
einer dauerhaften Analyse- und Begründungsphase. Daraus entsteht
eine merkwürdige Diskrepanz zwischen Sonntagsreden und Montagshandeln.
Der vielzitierte Satz von Otto Schily „Wer Musikschulen schließt,
gefährdet die innere Sicherheit“ und der dennoch dramatische
Rückbau musischer Bildung in allgemein bildenden Schulen und
Musikschulen ist symptomatisch für unsere gegenwärtige
Situation. Es ist unerlässlich, Verantwortung für Überzeugungen
zu übernehmen, dass heißt, nicht nur diese Position öffentlich
zu äußern, sondern gemeinsam mit den relevanten Partnern
nach Mitteln und Wegen zu suchen, diese Überzeugung mit Leben
zu füllen. Die Gemeindefinanzreform ist ein weiterer Prüfstein
gemeinsam getragener Verantwortung, um die Voraussetzung für
den Erhalt kommunaler Infrastrukturen im Bildungs- und Kulturbereich
zu schaffen. Die Finanzierung der Sachkosten zur Einführung
der Ganztagsschulen durch den Bund ist ein Baustein, kann aber keine
Wirkung entfalten, wenn die Frage, woher das zusätzlich benötigte
Fachpersonal kommen und wer es bezahlen soll, mit dem Hinweis auf
die Kulturhoheit der Länder in der Sackgasse landet. Wenn aber
das föderative System zum Pingpong-Spiel versammelter Verantwortungslosigkeit
degeneriert, weil immer der andere Schuld ist, dass ich nicht handeln
kann, führen wir das Prinzip einer partnerschaftlichen Gesamtverantwortung
für unser Gemeinwesen ad absurdum.
In dieser Situation wächst allen, die im Kultur- und Bildungsbereich
Verantwortung tragen, seien es Kulturschaffende, bürgerschaftlich
Engagierte oder Politiker, die Aufgabe zu, Zusammenhänge deutlich
zu machen. Die politische Kraft der 68er-Generation kann dabei in
ihrer Wirksamkeit durchaus Vorbild für die Bürger sein,
die den Mehltau orientierungsloser Scheinaktivitäten durch
den Mut zu Prioritäten im politischen Alltag ersetzen wollen.
Der Bundespräsident hat an vielen Orten sehr deutlich zum
Thema Bildung und Kultur Stellung bezogen. Ohne den Geschichtsschreibern
vorgreifen zu wollen, lässt sich jetzt schon sagen, dass wir
mit Johannes Rau einen Kulturbundespräsidenten haben, der mit
seinem Engagement für Bildung und Kultur Brücken gebaut
und Wege in die Zukunft aufgezeigt hat. Damit ist die Berufungsinstanz
für politisches Handeln, von der Kommune bis zum Bund, geschaffen.
Seine Idee, mit einem Projekttag „Kinder und Musik“
am 9. September an seinem Berliner Amtssitz den Startschuss für
ein breites gesellschaftliches Engagement für musisch-kulturelle
Jugendbildung zu setzen, ist eine einmalige Chance. Der Deutsche
Musikrat wird unter Bezug auf diesen Projekttag am Montag, den 8.
September einen Kongress zu diesem Thema unter dem Titel „Musik
bewegt“ in Berlin veranstalten. Mit einer Podiumsdiskussion
und vier Panels zu den Themenbereichen musikalische Bildung, Musikvermittlung,
Musikforschung und musikpolitische Handlungsfelder sollen Zusammenhänge
deutlich und Wege aus der Krise sichtbar werden – getragen
von der Erfahrung namhafter Persönlichkeiten aus Politik, Wirtschaft
und Kultur. Angesprochen ist jeder, der sich für diesen Bereich
verantwortlich fühlt.
Der Blick für das Ganze eröffnet die Chance einer politisch
aktiven Bürgergesellschaft im Sinne von Teilhabe und gemeinsamer
Verantwortung – eine wahrhafte Perspektive, sich jetzt einzumischen.
Christian Höppner, Vizepräsident des Deutschen
Musikrates