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nmz-archiv
nmz 2003/7-8 | Seite 40
52. Jahrgang | Jul./Aug.
Jazz, Rock, Pop
Kreative Unruhe im Dunkelzelt
Wagnisse, Weltmusik und großer Jazz beim 32. Moers-Festival/Thema
Schweiz
Wenn der rasende, spontane Freejazz von Jacques Demierre, Barry
Guy und Lucas Niggli ein ganzes Festivalzelt zum Toben bringt, wenn
viele Musikinteressierte nach durchfeierten Nächten und vorangegangenen
Konzertmarathons scharenweise zu den improvisierten Sessions der
Moerser Vormittagsprojekte strömen, dann können ästhetische
Wagnisse keine Minderheitenangelegenheit sein. In Moers sowieso
nicht und das funktioniert auch ohne den WDR mindestens so gut!
Einmal mehr profilierte sich das Pfingstereignis am Niederrhein
als unkopierbarer, vor kreativer Unruhe vibrierender Organismus.
Zwar waren – nicht zuletzt wegen höherer Ticketpreise
– die Publikumszahlen eher rückläufig. Wer dennoch
kam, konnte ein Wahrnehmungsexperiment wagen. „Konzerte im
Dunkeln“ wollen auf Betreiben der „Aktion Mensch“
die Vorstellung der Sehenden für die Welt der Blinden sensibilisieren.
Wenn etwa zwei Schlagzeuger und ein Pianist im völlig abgedunkelten
Raum improvisieren, kann sich wirklich nichts mehr zwischen den
unmittelbaren Klang und das eigene Hörzentrum stellen. Das
Klangerlebnis wurde plastischer und vor allem bei strukturell freier
Musik beflügelte das direkte Ausgeliefertsein ans Hören
Fantasie und Assoziationskraft.
Ursubstanz im Mittelpunkt
Auf der Höhe der Zeit:
Charles Lloyd und Band. Foto: Stefan Pieper
Wo „Jazz“ in Moers zuweilen in Richtung Beiwerk tendierte,
rückte Burkhard Hennens Programmauswahl die eigentliche Ursubstanz
des Festivals wieder stärker ins Zentrum: Etwa als ein traumhaft
besetztes Charles Lloyd Quartett in vollendeter Reife die höchste
Kunst von modernem Jazz vorführte. Mehr noch: Ergreifend in
seiner Wirkung und frenetisch gefeiert lebte Lloyd sein von Spirituals
beeinflusstes Spiel als meditativen Zustand. Lloyds Spiel floss
aus dem Altsaxophon in einer emotionalen Direktheit, in der Worte
schnell an ihre Grenzen stoßen, um diesen Ton, dieses Spiel,
und dieses Klima zu beschreiben, das sich in den ausgiebigen Soli
entfaltete. Lloyds Band ist auf der Höhe der Zeit – mit
einer überirdischen Rhythmusgruppe und einer Geri Allen am
Piano, deren klangliche Finesse den Lloyd’ schen Kosmos respektvoll
weiter ausmalte, kontrastierte und verdichtete!
„The Sun Ra Arkestra“ zelebierte eine „Stern“-Stunde
im wörtlichen Sinne, entführte in ein Jazz-Märchen,
das in eine Zukunft blickt, die schon längst wieder Geschichte
ist, überzogen mit einer Patina, die so bunt und schillernd
wie die Kostüme der Musiker anmutet. Bei alldem agierten die
betagten Musiker würdevoll und überlegen. Für sein
letztes, großes, hymnisches Solo tauschte Bandleader Marshall
Allen sein Sax gegen einen seltsam anmutenden Analogsynthesizer
zum Hineinblasen – sollte so der Jazz seine glühenden
Botschaften in ferne Galaxien hinaustragen? Wo andere schnellebig
auf Streiflichter setzen, gehen die Moerser Schwerpunktthemen in
die Tiefe, um aktuelle Trends leben und wachsen zu lassen. Also
hatte die Schweizer Szene in Moers ihren richtig großen Auftritt:
Der junge Pianist Michel Wintsch führte vor, wie die „klassische“
Konstellation des Klaviertrios als Vehikel für neue Ideen in
Fahrt zu bringen ist. Im Trio schuf er ein mitreißendes Ideenfeuerwerk,
das mit staunenswertem Stilgefühl Experiment und Emotion vereinte
– vielleicht würde es Paul Bley, wenn er heute jung wäre,
so machen…
Lucas Niggli scheint zum neuen Moerser „Artist in Residence“
zu werden. Sein „Steamboat Switzerland Extended Ensemble“
lieferte einen der wirkungsstärksten Beiträge des Festivals:
Schwere Orgelsounds eröffneten David Dramms 60-minütige
Komposition „Orange Slice“, die von erbarmungslos wiederholten
Rhythmusimpulsen vorangetrieben, immer mehr und unaufhaltsam einen
überkochenden Höhepunkt anvisierte – Minimalismus
traf hier auf eine Rock-Dramaturgie, die Berge versetzte!
Andres versetzte regelrecht in Trance: Aus der französischen
Schweiz kam Pierre Audetat, in dessen Band ein Sampling-Keyboard
an die Stelle der Rhythmusgruppe getreten ist. Dessen Beats und
Loops entfalteten erstaunliche hypnotische Texturen, auf deren Grundlage
Gitarre, Posaune und Altsax ihre Licks abfeuerten – ein futuristischer
Spacefunk mal diesseits und mal jenseits der Grenze zur ironischen
Brechung des Bestehenden.
Erstarrte Schablonen
Ermüdungserscheinungen zeigt das Thema Japan in Moers: Rock
und Jazz wollte Kazetoki Umezus „Kiki Band“ verbinden,
blieb dabei aber – wenn auch mit viel Druck und solistischer
Akrobatik – in halbwegs erstarrten Stilschablonen stehen.
Für so etwas gab es zu spannende Konkurrenz: Etwa das niederländisch/britische
Duo aus Michel Borstlap, Piano und dem Ex-King Crimson-Drummer Bill
Bruford, das in erfrischend lockerem pointenreichen Spielfluss zu
gewitzten Dialogen aufspielten.
Im Abschlusskonzert machte der türkische DJ Mercan Dede vor,
wie sich die eigene Musiktradition mit den Tanzbeats der Clubs vereinen
lässt, wenn man nur das übergreifende Bindeglied erkennt
– und den Mut zum Kompromisslosen nicht verliert: Trance findet
in der religiösen Versenkung der Sufi-Derwische statt und ist
das zentrale Element beim Rave-Erlebnis. So etwas gab es in Moers
noch nie: Ein Tanztrio, dass in den wallenden Gewändern der
Sufi-Derwische in prächtigen, märchenhaften Drehbewegungen
aufging, während Beats und Percussions pulsierten…