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nmz-archiv
nmz 2003/7-8 | Seite 41
52. Jahrgang | Jul./Aug.
Jazz, Rock, Pop
Nachschub
As Time Goes By
Alles hat seine Zeit. Das gilt auch für Pop-Karrieren. Neil
Young wurde in den 70er-Jahren vom Chef seiner Plattenfirma wegen
„absichtlicher Unkommerzialität“ verklagt. Prince
verärgerte die Major Companies durch ungebremste und Markwert
schädigende Produktivität.
Thom Yorke scheint solche Probleme nicht zu kennen. All sein Pop-Bemühen
läuft seit Jahren darauf hinaus, die Erwartungen von Produzent
und Publikum zu enttäuschen – und doch landen die verquer-avantgardistischen
Song/Sound-Collagen seiner Band Radiohead regelmäßig
auf den vorderen Plätzen der internationalen Charts. Seine
Lieder sind düster, künden nicht von Sonnenstudio, sondern
von Sonnenfinsternis in der Welt und in den Herzen. Aber das scheint
Thom Yorkes immer zahlreicher werdende Fans genauso wenig zu stören
wie die Tatsache, dass er die „Ästhetik des geringsten
Widerstands“, die für FAZ-Autor Richard Kämmerlings
das Geheimnis von Stromlinien-Pop ist, konsequent meidet und es
lieber mit der Erhöhung des Schwierigkeitsgrads versucht. Mit
„Radiohead“ wurde spätestens seit den zermürbend-katastrophischen
Milleniums-Sessions, die schließlich in die kultigen Kommerz-Alben
„Kid A“ und „Amnesiac“ mündeten, der
Anti-Hedonismus zum Mainstream glückseliger Dechiffrier-Syndikate,
die in Thom Yorkes komplexen Sound-und-Semantik-Universen Erfüllung
und Erleuchtung suchten. „Hail to the Thief“ (bei EMI),
das neueste Radiohead-Album, dessen Titel auf George W. Bushs Stimm-„Diebstahl“
bei den umstrittenen US-Präsidentschafts-Wahlen 2000 anspielt,
wurde schon vor Erscheinen vielberaunt: Es sollte „back to
the roots“ gehen, roher, wüster Gitarrenrock mit klarer
politischer Aussage sein. Quelle solcher Vermutungen war ein Internet-Auftritt
der Band, der sie bei der Arbeit im Studio zeigte. Tatsächlich
wurde „Hail to the Thief“ verhältnismäßig
rasch in nur acht Wochen produziert. Das Album enthält außerdem
einige Songs, die wie Wiedergänger funktionieren: Man glaubt
sie schon immer zu kennen und sich bereits beim ersten Hören
an sie zu erinnern. Und auch die Klänge sind diesmal, scheinbar
zumindest, weniger synthetisch. Bereits der Opener mit dem paradoxen
Titel „2 + 2 = 5“ beginnt mit dem Ur-Geräusch des
Rock, das durch das Einstöpseln der Gitarren entsteht. Aber
Thom Yorke hat nicht reduziert; er ist nicht simpler geworden, ganz
im Gegenteil: er bietet alles auf, das vollständige „Radiohead“-Labyrinth,
in dem weniger reale Gefahren als vielmehr diffuse Ängste und
Hirngespinste aller Art lauern. „Hail“ ist beides: pure
Apokalypse und zugleich auf eine euphorisierende Weise romantisch,
auf der Suche nach Szenarien jenseits der vertrauten Bilder und
Architekturen und nach Tönen, Soundscapes, die man unerhört
nennen müsste, wenn das nicht für Thom Yorkes Anliegen
zu bieder und konventionell klänge. Thom Yorke ist längst
eine Art Jorge Luis Borges des Pop, der Groß-Klangmeister
eines berückenden Sound-Kosmos, von dessen Details man oft
nicht sagen kann, ob er sie „nur“ zitiert oder gerade
erzeugt. Thom Yorke scheint sich seiner Identität so sicher,
dass er sie permanent zerfetzt und verschleudert – und doch
in jeder Maske und hinter jeder Rolle stets als der erkennbar bleibt,
der an einem phantastischen Pop-Entwicklungsroman strickt, in dem
das Neue, die Erfindung als Gedächtnisfunktion erscheint: „as
time goes by“.
Dave Gahan hat ein anderes Problem. Mehr als 20 Jahre stand er
in Leder, mit Tattoos und großen Gesten im Scheinwerferlicht;
Millionen verehrten ihn als Vorsänger des Pathos-Pop und doch
kam er sich bei Depeche Mode immer nur als „his master’s
voice“ vor, als Stimm-Puppe des Sound-Tüftlers Martin
Gore, als glänzende Entertainment-Maschine ohne eigene Identität.
Dave Gahan hatte alles, was andere sich wünschen, er selbst
aber vermisste so sehr das Elementarste: ein bisschen Respekt, wie
er das nennt, Anerkennung, Gehörtwerden, Dasein, dass seine
leere Popstar-Existenz vor ein paar Jahren beinahe im ultimaten
Flash einer Überdosis implodiert wäre. Jetzt rächt
er sich an Martin Gore für dessen Verweigerung durch ein Solo-Album
(„Paper Monsters“ bei Mute), das bekenntnishaft ein
großes Thema variiert: den Wunsch, wahrgenommen zu werden;
und die Rettung durch eigene Kreativität. Das Album, das Sigur
Ros-Produzent Ken Thomas mitdesignt hat, ist nie peinlich. Es handelt
wie die längst legendären Depeche-Mode-Produktionen von
großen Gefühlen, aber nicht als Mythos oder Messe, sondern
als sehr persönliche Suche.
Martin Gore, der als Pop-Überich, als stummer, das Gehör
verweigernder Partner durch Dave Gahans Album und alle seine Interviews
gespenstert, hat fast zeitgleich ebenfalls sein erstes Solo-Album
(nach einer EP vor vielen Jahren) vorgelegt, das auch mit Identität
zu tun hat, aber ganz anders als bei Thom Yorke und bei Dave Gahan.
Martin Gore sucht nach den Spuren seines Selbst in den Songs, die
er im Lauf seines Lebens gehört hat. „Counterfeit“
nennt er sein Album mit elf Coverversionen (ebenfalls bei Mute),
also Nachahmung oder Täuschung. Dieser Titel ist irreführend.
Denn es gelingt Gore zwar, den Gestus der anderen Sänger zu
imitieren, täuschend bei David Bowies „Tiny Girls“,
so betörend, dass nur die Repeat-Taste einem weiterhilft, bei
Lou Reeds „Candy Says“, aber seine Annäherung an
die verehrten Lieder und Sounds hat mit Fake oder Pose gar nichts
zu tun, sie ist mimetisch im besten Sinn. Gore erforscht den Sinn
des Originals, die identitätsstiftende Kraft, die er selbst
erfahren hat, aber er wiederholt nicht, was war, sondern er schafft
neue Originale. „Counterfeit“ ist eine sehr demütige
und eine sehr selbstbewusste Platte, sicher einer der Höhepunkte
des Pop-Jahrgangs 2003. Mit dabei: Julee Cruise, David Lynchs düstere
Fee, Nick Cave mit seinem Loverman oder John Lennon & Yoko Ono
mit einem Liebes-Duett.