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nmz-archiv
nmz 2003/7-8 | Seite 40
52. Jahrgang | Jul./Aug.
Jazz, Rock, Pop
Der neue Nestor der Jiddisch-Szene
Der Sänger und Akkordeonist Aaron Eckstaedt: Klezmer in
Deutschland
Was ist Klezmer-Musik und was ist Klezmer-Musik in Deutschland?
Eine eindeutige Antwort gibt es nicht; dazu ist die „neue
deutsche Klezmer-Szene“ zu bunt und zu vielseitig. Dennoch
hat ein (Klezmer-) musikalischer Tausendsassa vor kurzem eine Beschreibung
in Buchform vorgelegt, die auch Widersprüchlichkeiten und Problemen
nicht aus dem Weg geht und für Laien wie für Fachleute
auf lange Zeit ein Standardwerk bleiben wird.
Aaron Eckstaedt, Jahrgang 1968, steht mit seinem Akkordeon allein
auf der Bühne – und die Bühne ist voll. Spielt er
nicht gerade ein funkensprühendes Klezmer-Stück, so singt
er „a jiddish Lidele“, das unter die Haut geht. Oder
er sitzt auf der Bühnenkante und erzählt Haarsträubendes,
so etwa die jüdische Weltgeschichte in wenigen Minuten –
auf Jiddisch. Das Publikum liegt ihm staunend und lachend zu Füßen
und wagt erste Zwischenrufe. Eckstaedt kontert gleichermaßen
schlagfertig wie humorvoll – auf Jiddisch.
Eckstaedt ist promovierter Musikwissenschaftler, Mitglied der
Jüdischen Gemeinde Berlin, gewann mit seinem Akkordeon diverse
Preise, spielt darauf auch Experimentelles und Bach und Tango, und
als Schauspieler stand er auf verschiedenen Bühnen. Teile seines
Solo-Programms sind zu hören auf der CD „nischt kejn
konzert. klesmer, jiddische lieder, geschichten“ (Westpark-music
Köln). Ja: Eckstaedt schreibt „klesmer“ mit S,
weil die Leute das Z der amerikanischen Schreibweise nicht als stimmhaftes
S (wie in „Seil“) erkennen wollen…
Koscher muss das Essen für ihn nicht sein, da ist Eckstaedt
genau so ungezwungen wie bei der Auseinandersetzung seiner vielen
Talente mit einem zentralen Anliegen, dem Judentum. Doch bei allem
Humor und aller Virtuosität: Wie fühlt man sich als musizierender
junger Jude in Deutschland? Gehört man wie selbstverständlich
dazu oder ist man Außenseiter?
Auf solche Fragen gibt es immer
nur individuelle Antworten. Vielleicht auch, um der eigenen Antwort
näher zu kommen, hat Eckstaedt eine Art Enquete der deutschen
Klezmer-Szene durchgeführt und veröffentlicht: „Klaus
mit der Fiedel, Heike mit dem Bass…“ Jiddische Musik
in Deutschland; Philo Berlin/Wien 2003, circa 350 S., 25,- Euro,
ISBN 3-8757-0302-9. Einleitend gibt der Autor einen Überblick
über jiddische Musik in Deutschland nach 1945, nennt Namen
und Zusammenhänge.
Ursprünge und zentrale Einflüsse der deutschen Klezmer-Szene
sind vielfältig und recht unterschiedlich, sie reichen von
Giora Feidman einerseits und den jüngeren amerikanischen Juden
wie Andy Statman und Gruppen wie den Klezmatics andererseits bis
hin zu ersten Berührungen mit jüdischer/jiddischer Musik
in Jugendgruppen, bei Straßenmusik oder auf dem (reizvollen)
Umweg über osteuropäische Folklore. Doch Eckstaedt wollte
es genauer wissen. Um persönlichen Motiven und Bewertungen
der jungen deutschen Klezmer-Szene nahe zu kommen, hat er 14 Musikerinnen
und Musiker eingehend interviewt, wobei unklar bleibt, weshalb die
Auswertungen – quasi Klezmer-Biografien – anonymisiert
wurden. Immerhin äußern sich alle, wie unterschiedlich
auch immer, ausgesprochen selbstbewusst und reflektiert, sind zum
großen Teil professionell aktiv auf der Bühne und haben
keinen Grund, sich ihrer Tätigkeit zu schämen.
Die Darstellungen sind gegliedert in jiddisches Lied, in Klezmer-Musik
und – was einen Goj, einen Nichtjuden, besonders interessieren
mag – in jiddische Musik im ursprünglichen Sinn, nämlich
als Musik deutscher Juden. Während letztere häufig über
die Musik ihre Geschichte und Religion wieder entdecken, fällt
bei den anderen auf, dass sie das Echte schätzen, das Urwüchsige,
halb Vertraute und halb Fremde, eben Dinge, die man im deutschen
Volksgut nicht (mehr) zu finden vermeint. Philosemitismus und „HBB“,
der Holocaust-Betroffenheitsblick, den viele Musiker beim Publikum
empfinden, spielen genau so eine Rolle wie ernsthafte Auseinandersetzung
mit Geschichte und Religion. Am Ende versucht der Autor, eine tendenzielle
Bewertung der derzeitigen Situation zu formulieren und spart damit
nicht an kritischen Bemerkungen in allen Richtungen, was ausgesprochen
spannend zu lesen ist und abschnittsweise auch auf andere Nischen
der Folkszene zutrifft. Ein Anhang von Bibliografie bis hin zu Web-Adressen
macht die Veröffentlichung obendrein wertvoll.
Im Übrigen taucht ein unerwarteter zusätzlicher roten
Faden auf, der bedenklich stimmen sollte: Die Mehrzahl von Eckstaedts
Interviewpartnern äußert nichts Gutes über die etablierte
„klassische“ Musikausbildung, weil sie bei dieser Ungemach
bis hin zur Ablehnung erfuhr, sich extrem eingeengt fühlte
und/oder genau das nicht lernen konnte oder durfte, wonach ihr der
Sinn stand. Man muss froh sein, dass diese Personen trotz rigidester
Musikpädagogik praktisch in der freien Wildbahn zu dem wurden,
was sie sind: zu einem Teil der lebhaften deutschen Klezmer- beziehungsweise
Jiddisch-Szene. Deren neuen Nestor erreichen Sie unter: a.eckstaedt@gmx.net