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nmz-archiv
nmz 2003/7-8 | Seite 16
52. Jahrgang | Jul./Aug.
Portrait
Lust auf eine Uraufführung
Die Regisseurin Katharina Wagner
Plötzlich ist da diese frühe Erinnerung: Als hätte
er sich aus einem anderen Jahrhundert herverirrt, starrte der riesige
Drache mit zornigen, vielleicht ein wenig hilflosen Augen über
den Bretterboden von Bayreuth… Ein Mädchen, das vorüberkam,
fand ihn abstoßend, wollte fortlaufen – aber ihr Vater,
der seit Menschengedenken jeden Wurzelstock, jede Falle und jeden
Abgrund im Bühnenwald kennt, meinte, man müsse sich vor
dem Wurm Fafner nicht fürchten; und als er die Misstrauische
hinführte, staunte sie, dass das Monstrum hohl und inwendig
mit Zeitungspapier ausgekleidet war. Was groß und drohend
daherkommt, muss man von innen kennen, um die Scheu abzustreifen:
Das war die erste Lehre aus dem Theaterbetrieb. Im Fluidum szenischer
Gegenwart, im allmählich zu enträtselnden Spiel von Farbe,
Bewegung und Klang, im Gefüge von Interpretation und Organisation
kann man so aufwachsen, wie man atmen, gehen, schwimmen lernt –
bis man herausgefunden hat, was diese Welt für’s eigene
Leben bedeutet.
Will Menschen auf die Bühnen
stellen – Katharina Wagner. Foto: Roggenthin
Als sie achtzehn wird, entscheidet sich Katharina Wagner dafür,
am Theater zu arbeiten. Sie weiß, was sie will: Menschen auf
die Bühne stellen, Regie führen. Von der Pike auf erwirbt
sie sich ein Rüstzeug von Fertigkeiten, schult ihr Auge für
sprechende Zeichen und nichtfixierbare, im Fluss befindliche Proportionen;
es macht ihr Spaß, Kräfte zu bündeln und Menschen
zu motivieren. Um sich weiter auszubilden, übersiedelt sie
in eine Theatermetropole voller Kontraste – sie erlebt die
Freundlichkeit und die Haifischblicke von Berlin, den freien Geist
und die Zerrbilder des Extremismus; Zirkusgrellheit sieht sie, buntbemalte
Schattenschluchten und mittendrin die fruchtbare Konkurrenz und
den Überlebenskampf der Opernhäuser. Polarisierenden Fragen
weicht man hier nicht aus: „Angesichts von immer geringeren
Sozialleistungen mag es musisch nicht so interessierten Leuten nahezu
dekadent vorkommen, Kultur zu subventionieren. Nur: Sie ist Teil
der Bildung, und wohin führt es, wenn dieser Teil vernachlässigt
wird?“ Auch dafür kann Regie die Augen öffnen.
Liest man unverhofft in Gesichtern und Straßenszenen, was
Menschen bei vollem Bewusstsein einander antun, dann brechen Assoziationen
wie Wunden auf und Geschichten, die man mit sich trägt und
zu kennen glaubte, reagieren unwillkürlich, indem sie –
als veränderliche Lebewesen – ihre schlimmstmögliche
Wendung durchspielen. Manchmal entlädt sich das wie ein Schrei.
In ihrer ersten eigenen Produktion, dem „Fliegenden Holländer“
in Würzburg, zog die Regisseurin Katharina Wagner unerwartete
Konsequenzen aus einem romantischen Widerstreit: Die Leute des Holländers
kommen als Davidsbündler daher und werden, ehe sie gegen die
Philister aufbegehren können, mit Knüppeln erschlagen.
In den Lüften singt etwas unerklärt anderes – aber
die sichtbare Gespensterbrut wohnt mitten unter uns.
Die Wahl des ersten Stückes war wohlüberlegt: „Es
gab mehrere Anfragen, bevor ich den ,Holländer‘ inszeniert
habe; aber ich lehnte sie ab, da mir die Ideen, die ich für
die angebotenen Werke hatte, noch nicht reif erschienen… Ich
muss mich im Spiegel ansehen und mir sagen können, dass ich
von meinem Konzept hundertprozentig überzeugt bin und dem Publikum
keine halbherzige Lösung präsentiere.“ Deshalb nimmt
sie sich Zeit und ist im Interpretieren hartnäckig. Unbeteiligte
Nebenfiguren kennt sie ebensowenig wie lendenlahme Schüchternheit
beim Befragen von Charakteren und Motiven; sie ist sich auch nicht
zu schade, spöttisch grobe Konturen ins Kampf-Tableau von Adam
und Eva einzuzeichnen: „Jedes Geschlecht hat so genannte typische
Verhaltensweisen, die manchmal auf den ersten Blick dumm erscheinen
mögen, aber sich beim zweiten Blick als Raffinesse entpuppen
können… Oft wird so etwas angedeutet, aber nicht bis
ins Letzte gezeigt. Das ist für mich keine Lösung –
entweder ich bediene mich bewusst in der Klischeekiste, weil ich
etwas aussagen will, oder ich bin konsequent und lasse es gleich
sein. Man kann natürlich als Frau leichter mit diesen Dingen
spielen, ohne gleich die Rüge der Frauenfeindlichkeit einzustecken…“
Daraus resultierte in ihrem Debüt ein Moment ironischer Selbstverteidigung.
Sie führte das voreilige Bild, das man sich von ihr gemacht
hatte, auf der Bühne ad absurdum und mancher Invektivenritter,
der Richard Wagners jüngster Urenkelin eine schillernde Prominenz,
aber kein Künstlertum gönnte, war düpiert. Indem
sie in ein Wespennest von Erwartungen stieß, legte sie ihre
Fragen zum Stück überhaupt erst frei – doch vielleicht
wird man sich im Mai 2004, wenn ihre Inszenierung des „Lohengrin“
in Budapest Premiere hat, rascher, unmittelbarer auf die Rätsel
einlassen, über die sie jetzt mit dem Finger fährt, um
Spalten und Risse zu ertasten: Was bedeutet das Helle, Gute innerhalb
der Grausamkeit des Märchens? Was ist das: dieses Flirren,
diese gleißende Kälte um Lohengrin, die ihn zum begehrten,
einsamen Menschen macht? Wo lösen sich Grautöne vom Rabenschwarz
der Gegenspieler? Welche Erkenntnis bietet Ortruds schneidender
Witz? Und was für ein Mensch war Telramund, ehe er diese Heidin
traf?
Katharina Wagner notiert Gedankensplitter, verändert sie
stetig; sie bilden ein Muster und natürlich reicht die Beschäftigung
weit zurück. „Bei manchem Werk ist ein Konzept sozusagen
schon inszenierungsreif, es wartet nur auf eine Anfrage“,
sagt sie mit einem Augenzwinkern, das die Sorge, sie könne
sich mit einem Abhaken von Plänen begnügen, zerstreut.
Was sie vorhat, ist lebendig, beweglich, vielfältig. Gewiss
will sie ihre Haut mit Lesarten von Werken der Vergangenheit zu
Markte tragen und geduldig alle Belehrungen über nichtnachprüfbare
Autor-Intentionen anhören – aber zum wachen Leben in
der Gegenwart gehört für sie auch der Wunsch, eines Tages
eine Uraufführung zu inszenieren: „Dies ist eine der
reizvollsten Vorstellungen überhaupt. Heute wird so oft über
den Begriff der Werktreue diskutiert und spekuliert… In solch
einem Fall aber könnten sich alle Beteiligten an einen Tisch
setzen und sich mit vielleicht sehr unterschiedlichen Sehweisen
überraschen. Die Diskussion über die Werktreue fiele vollkommen
weg, da alle Beteiligten lebendig über das Werk sprechen.“
Wenn man gemeinsam eine Geschichte erzählt, dann ist Regietheater
zugleich Autorentheater und Komponistentheater. Und es besteht ja
kein Zwang, sich auf Bayreuth als Uraufführungsort zu kaprizieren
– plausibler ist es, die anderen Theater an ihre Pflicht zu
erinnern. Man kann mit Katharina Wagner nur hoffen, dass es weiterhin
genug Freiräume für aufwändige, alle Kräfte
eines Hauses bindende neue Projekte gibt: nicht nur im separierten
Studio, sondern unbedingt auch auf der großen Bühne,
deren Wirkungskraft von jeder Generation vorurteilslos erprobt werden
muss – angesichts enormer, teils brachliegender Talente unter
jungen Komponisten stünden gegenwärtig die Aussichten
dafür gar nicht schlecht.