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nmz-archiv
nmz 2003/7-8 | Seite 19
52. Jahrgang | Jul./Aug.
Bücher
Musikalische Reflexionen als spekulative Theologie
Berührungspunkte: Religion, Philosophie und Komposition
in der musikalischen Moderne
Clytus Gottwald: Neue Musik als spekulative Theologie.
Religion und Avantgarde im 20. Jahrhundert, Metzler Musik,
Stuttgart, 2003, 178 S.,
€ 49,95, ISBN 3-476-01945-4
„Die musikalische Moderne wird mit Begriffen wie Aufklärung,
Rationalität, Exklusivität, negativ mit Begriffen wie
Dogmatik, Gefühlskälte oder Traditionsfeindschaft zusammengedacht,
nicht jedoch mit dem Begriff Religion.“ Im Gegenteil –
Religion galt in Kreisen der Kritiker eher als Zeichen gesellschaftlicher
Zurückgebliebenheit. Religiöse Ambitionen moderner Komponisten
sah man als private Marotte und Konservatismus, welcher mit den
Zielen der Moderne nicht zu vereinbaren war.
Historisch hatte die Dogmatisierung des Palestrinastils im 19.
Jahrhundert zum Austritt der zeitgenössischen Musik aus der
Kirche geführt. Neukompositionen, die nicht den Geist der Restauration
atmeten, erübrigten sich. Trotz, oder gerade wegen dieser Kündigung
der Musik an liturgische Vorgaben, brachte jedoch die emanzipierte
Kunstmusik des 19. Jahrhunderts, mit Beethovens „Missa solemnis“,
Mendelssohns und Spohrs Oratorien, Liszts „Christus“,
Brahms „Deutsches Requiem“ und Bruckners Sinfonien,
zahlreiche geistliche Werke hervor.
Diese Tradition setzte sich im 20. Jahrhundert ungebrochen fort,
ergriff die Väter der Moderne (Arnold Schönberg, Anton
Webern, Igor Strawinsky, Oliver Messiaen) ebenso wie die Komponisten
der Zeit nach 1945.Von Webern ausgehend, der nach Meinung seiner
Verehrer nur geistliche Musik komponierte, war es zunächst
Karlheinz Stockhausen, der mit dem „Gesang der Jünglinge“
das Geistliche der neuen Musik erneut einsetzte. Es folgten Komponisten
wie György Ligeti und Dietmar Schnebel, Klaus Huber, Heinz
Holliger und Mauricio Kagel.
Clytus Gottwald, Gründer und Leiter des Vokalensembles Schola
Cantorum Stuttgart, Mitglied des IRCAM, Paris und vor allem durch
seine Ur- und Erstaufführungen Neuer Musik bekannt, beleuchtet
in einem aufschlussreichen Querschnitt zwischen Religion, Philosophie
und Komposition die Komplexität geistlicher, oder geistlich
reflektierender Werke des 20. Jahrhunderts. Entgegen der Meinung,
Musik bringe lediglich tautologisch zum Vorschein, was ohnehin im
Text schon vorhanden ist, verweist Gottwald auf die wachsende Rationalität
in der Musik des 20. Jahrhunderts, durch die das reflexive Moment
grundlegend in den Kompositionsprozess einfloss. Das Religiöse
in der Musik versteht er so als Teil eines Reflexionsprozesses,
durch den sich das Werk musikalisch definiert.
Folgende Zitate geben dem Leser einen Vorgeschmack auf die verschiedensten
Ansätze der Komponisten, durch die bis in das Paradoxon hinein
geistliche Musik überkonfessionell zur spekulativen Theologie
wird.
„Du bist Gott, ich bin Gott, ein jeder ist Gott. [...]
Gott ist das ICH des ganzen Universums; [...] wo immer also aus
den Klangzeichen der Musik für einen Augenblick Sprache wird,
lobt sie Gott.“ (Karlheinz Stockhausen)
„Gelobt seist Du, Niemand. Zunächst muß ich
betonen, daß das keine geistlichen Werke sind. Psalm ist
ein Negativ geistlicher Musik. Selbstverständlich könnte
man sagen, dass Atheismus auch religiös sei, denn man kann
nicht abstreiten, was es nicht gibt.“ (Heinz Holliger)
„Es mag sein, daß nicht alle Musiker an Gott glauben,
an Bach glauben sie alle.“ (Mauricio Kagel)