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nmz-archiv
nmz 2003/7-8 | Seite 21
52. Jahrgang | Jul./Aug.
Bücher
Der Horizont war die Gaskammer
Biografie eines Wiener Walzermädels: Alma Rosé
Richard Newman, Karen Kirtley: Alma Rosé,
Wien 1906 - Auschwitz 1944, Weidle Verlag 2003, 480 S., Abb., €
34,-
Sie war die hoch begabte emanzipierte Tochter von Arnold Rosé,
dem Leiter des weltberühmten Rosé-Quartetts, und die
Nichte von Gustav Mahler: die Violin-Virtuosin Alma Rosé.
„Sie war streng, gerecht, niemals unterwürfig und unbeirrbar.“
So beschreibt sie eine, die sie in den vierziger Jahren als Dirigentin
noch kennen gelernt hat: die Cellistin Anita Lasker-Wallfisch. Und
sie fügt hinzu: „Ohne sie hätte niemand von uns
überlebt.“ In einem besonders merkwürdigen Kapitel
deutscher Musikgeschichte hatten sich ihre Wege gekreuzt: Alma Rosé
war die Leiterin des sogenannten „Mädchenorchesters“
von Auschwitz-Birkenau gewesen.
60 Jahre „after the event“ erinnert sich Lasker-Wallfisch
an ihre erste Begegnung mit Alma Rosé: „Als ich Alma
zum erstenmal gegenüberstand, war ich nackt, kahlgeschoren,
und meine Identität war die tätowierte Nummer auf meinem
Arm. Sie selbst sah durchaus „normal’ aus… Sie
stellte sich vor, und ich wusste, wer sie war und wer Gustav Mahler
war, aber
ich glaube nicht, dass mich dies besonders beeindruckt hat. Dort
waren die Spielregeln anders. Der Horizont war die Gaskammer. Jeder
war in seine eigene Misère verstrickt. Gefühle waren
der Luxus, den man sich in der ,normalen‘ Welt erlauben kann,
und Gustav Mahler gehörte zu dieser Welt. Wir gehörten
nicht mehr dazu.“
Der kanadische Musikkritiker Richard Newman hat Alma Rosés
durch und durch musikalisches Vor-Leben in der „normalen“
Welt akribisch rekonstruiert, basierend auf der Korrespondenz der
Familien Mahler und Rosé. In dieser Welt von Musik und Macht
spielte ein anderer Zeitgenosse beiläufig seine ganz eigene
Rolle, wie Newman erzählt: „In Almas Geburtsjahr 1906,
dem letzten Jahr der Ära Mahler in Wien, faszinierten die prunkvollen
Bauwerke der Reichshauptstadt und Mahlers künstlerisches Ringen
um die Werke Wagners auch einen 16-jährigen Besucher aus Linz.
Man konnte ihn häufig im Stehparterre der Hofoper sehen. Sein
Name war Adolf Hitler: ein orientierungsloser junger Mann auf seinem
ersten, zweimonatigen Besuch in Wien, wo er sich als bildender Künstler
zu etablieren trachtete… In den von Hitler in den folgenden
Jahren häufig besuchten ,Tristan‘-Aufführungen konnte
er im dritten Akt gewöhnlich Konzertmeister Arnold Rosés
bezauberndes Violinsolo hören.“ 1940 wird ein Nazi-Kumpane
Hitlers, Dr. Herbert Gerigk, Gustav Mahler und Arnold & Alma
Rosé auf eine sehr eigene Weise würdigen, im „Lexikon
der Juden in der Musik“. Es klingt bizarr, aber fast die ganze
Personnage dieses Lebensromans findet sich dort wieder: eines Romans,
der so leichtfüßig begann in der „guten musikalischen
Kinderstube“ in der Wiener Pyrkergasse.
1932 gründete Alma Rosé ihr eigenes Orchester „Wiener
Walzermädeln“. Das Repertoire bestand aus den Gassenhauern
der gehobenen Unterhaltungsmusik: „Wiener Blut“, „Wien,
Stadt meiner Träume“ oder „Geschichten aus dem
Wienerwald“. Mit ihren „Mädeln“ zog Alma
durch ganz Europa.
Dabei war es nicht leicht, ein Walzermädel zu sein, besonders
wenn sie Teil eines Varieté-Programms waren, wie sich Caroline
Rostal erinnert: „Ich hatte die schwierige dritte Geigenstimme,
die sich ganz allein, in Harmonie und doch in Gegenbewegung zu den
anderen Streichern bewegte. Es war wie Kammermusik. Gleichzeitig
mußten wir Teil einer Choreographie werden, die sich auf die
Musik bezog, sich mit ihr bewegte. Bei unserem Engagement im Apollo
wurden wir mittags geschminkt und kostümiert und mussten hinter
der Bühne oder in unserer Garderobe fast den ganzen Tag lang
warten, bis im Show-Programm die Reihe an uns kam.“
Nach dem „Anschluss“ emigrierte die Rosé-Familie
nach London. Weil Alma Rosé dort aber keine Arbeitsmöglichkeiten
fand, nahm sie Ende 1939 ein Engagement in Holland an. Als die Deutschen
im Mai 1940 Holland besetzt hatten, saß sie in der Falle.
Im Dezember 1942 versuchte Alma Rosé zu fliehen, doch sie
wurde festgenommen. In Auschwitz-Birkenau führte sie schließlich
mit viel Perfektionismus und Strenge eine Ersatzexistenz: als „Chefin“
des „Mädchenorchesters“. Anita Lasker-Wallfisch
im Rückblick auf diese Zeit, die mit dem Tode Alma Rosés
im April 1944 endete: „Ich bin mir nicht darüber im Klaren,
ob Alma mit ihrer Härte irgendwelche Absichten verfolgt hat
oder ob sie rein instinktiv handelte. Eines aber weiß ich:
Mit der eisernen Disziplin, die sie uns aufzwang, gelang es ihr,
uns von dem abzulenken, was um uns im Lager geschah – von
den rauchenden Schornsteinen und dem Elend des Lageralltags zu einem
;f‘, das hätte ein ;fis‘ sein sollen.
Vielleicht war dies für sie selbst die einzige Möglichkeit,
nicht den Verstand zu verlieren. Sie zog uns alle in den Bann ihres
Wahns, aus dem Repertoire, das wir spielten, etwas Perfektes zu
machen – und gerade damit half sie uns, dass auch wir nicht
den Verstand verloren.“ Sie sei von Mahlers Geist besessen
gewesen, hatte ihr Vater über Alma gesagt.