[an error occurred while processing this directive]
nmz-archiv
nmz 2003/7-8 | Seite 23
52. Jahrgang | Jul./Aug.
Rezensionen
Kurz vorgestellt
CDs
György Kurtág: Hölderlin-Gesänge;
Signs, Games and Messages; …pas à pas – nulle
part… Poèmes de Samuel Beckett; Kurt Widmer,
Bariton; Hiromi Kikuchi, Violine; Ken Hakii, Viola; Stefan Metz,
Cello; Mircea Ardeleanu, Schlagzeug
ECM 1730 (461 833-2)
Welche Weite der Welten! Es sind kleine Nomaden (in den drei
Werken insgesamt 59 Einzelstücke!), existenzielle Epigramme,
die kurz aufleuchten und von der Fremdartigkeit unseres Seins
erzählen. Welch ungeheuere Musikalität gehört zu
solcher Prägnaz, zu solcher Vielfalt! Es ist Kurtágs
Welt, die in ihrer Rätselhaftigkeit und niederdrückenden
Gebrochenheit ungebrochen bleibt.
Softer, besinnlicher Jazz, Monteverdi durch die Musikgeschichte
nachlauschend, immer wieder, wie von der Wendung besessen, zum
„Lasciate mi morire“ zurückkehrend, woran Bach,
Pergolesi, Schütz und andere wie Ausflugsorte teilhaben.
Feinheit der Durchgestaltung, stimmig im Klang. Beirach, Huebner
und Mraz im Einklang!
Klavierstücke von Beat Furrer, John Cage, Salvatore
Sciarrino, Roman Haubenstock-Ramati, Alvin Lucier, Georg-Friedrich
Haas; Marino Formenti, Klavier (u.a.)
col legno WWE 1CD 20223
Das Erdbeercover ist so synthetisch rot, dass der Titel der
CD „Nothing is real“ schon hier entgegenleuchtet.
Ein Geheimnisgang durch die Stücke, behutsam und elastisch
gespielt. Jedes wird in eigener Kontur, mit individueller Anschlagskultur
durchgestaltet. Fesselnd.
Walzer von Schubert, Brahms, Grieg, Hindemith und Wolfgang
Rihm; Andreas Grau, Götz Schumacher, Klavier
col legno WWE 1CD 20103
Ein wunderbares Ensemble von Walzern, duftig, forsch, hintergründig.
Der Walzer als Tanz der Morbidezza, der im eigenen Schwung den
Abgrund des Schwindels ahnen lässt. Das großartige
Duo Götz/Schumacher spielt das schlicht und schön; mit
nachdrücklichem Ton, der nichts zu demonstrieren hat, sondern
einfach blühen lässt. Eine Entdeckungsreise durch eineinhalb
Jahrhunderte.
Johann Sebastian Bach: Matthäuspassion; M.
Ullmann, K. Mertens, A. Korondi, A. Vondung, W. Güra, H.C.
Begemann, Gesang; Chorgemeinschaft Neubeuern, Tölzer Knabenchor,
Orchester der KlangVerwaltung, Enoch zu Guttenberg.
Farao B 108035 (3 CDs plus Sprach-CD mit Erläuterungen Guttenbergs)
Enoch zu Guttenberg ist ein bekennender Interpret. Musik ist
Offenbarung, Bachs Matthäuspassion die höchste. Auseinandersetzung
über historischen Klang und strukturelle Durchsichtigkeit
müssen da hintan stehen. Emotionale Prozesse, das Ringen
ums Menschsein prägen die Sicht und lasten schwer. Immerhin
wachsen der Interpretation dadurch Momente ringender Anteilnahme
zu. Diese Konsequenz, die dem eigenen Instinkt folgt, der von
der Sicherheit des Glaubens getragen ist, macht Guttenberg zum
Unikum.
Reinhard Schulz
DVD
Bach: Wohltemperiertes Klavier I & II; Andrei
Gawrilow u.a.; Regie: Karen Whiteside, Peter Mumford (2000)
Euroarts/Icestorm 1050309 69012
Ein mutiger Vorstoß in filmisches Neuland: Vier Pianisten
spielen an vier unterschiedlichen Orten je ein Viertel von „Bachs
48“, ein Regisseur übernimmt je einen Band. Musik und
Bild verschmelzen teilweise zu einer Einheit, die so noch selten
zu erleben war.
Erich Wolfgang Korngold – Die Abenteuer eines Wunderkinds:
Porträt und Konzert; Regie: Barrie Gavin (2001)
Arthaus/Naxos DVD 100 362
Viel wurde darüber diskutiert: Wissensvermittlung mit den
neuen Möglichkeiten der DVD. Hier wird ein konkreter Schritt
getan: Dokumentation und Konzert liefern ein schlüssiges
Bild Korngolds, wobei der Film noch überzeugender geriet
als der Musik-Teil.
Bernstein: Trouble in Tahiti; Stephanie Novacek,
Karl Daymond, Tom Randle u.a.; City of London Sinfonia, Paul Daniel;
Regie: Tom Cairns (2001)
BBC/Naxos DVD OA 0838 D
Wer junge Leute für Oper begeistern will, dem sollte diese
DVD einen Blick wert sein: Bernsteins Einakter mit den neuesten
Mitteln der Video-Ästhetik im Retro-Design überschattet
vokale Mängel der Protagonisten bei weitem. Extra-Features
liefern zusätzlich Hintergrund-Infos.
The Coltrane Legacy: So what, Impressions, My Favorite
Things, Afro Blue, Alabama, Every Time We Say Goodbye;
Regie: Burrill Crohn (1985)
VAI/Codaex DVD 4220
Ein Film mit O-Tönen von Coltranes Weggefährten, vor
allem aber eine rare Sammlung von Fernseh-Auftritten: Auch optisch
transportieren der Saxophon-Metaphysiker Coltrane und sein legendäres
Quartett eine Intensität, die selbst die desaströse
Bild-Qualität zur Nebensache werden lässt.
Oliver Wazola
Bücher
Otto Brusatti: Wien. Musik. Eros und Thanatos. 18 Wege,
Böhlau Verlag, Wien 2003, 240 S., Abb., E 24,90, ISBN 3-205-77098-6
„Mit der ,Unvollendeten‘ durch’s nächtliche
Wien zum Würstelstand“ – Brusatti treibt mit
uns in einem Heißluftballon über der Musikmetropole
und landet mal im schillernden Ambiente der „Hochkultur“,
mal auf einer Pawlatschn in einem düsteren Hinterhof, auf
den Textfetzen und Musik von einer Wirtshausbühne dringen.
Ein wunderbar arrangiertes und bebildertes Lesebuch, in vielen
Stimmungslagen geleitet von Musik.
Winfried Lüdemann: Hugo Distler. Eine musikalische
Biographie (Collectanea musicologica Bd. 10), Augsburg,
Wißner 2002, 502 S., Abb. u. Notenbeispiele, E 45,00, ISBN
3-89639-353-7
Erneuerer protestantischer Kirchenmusik, Komponist völkischer
Vokalwerke, Opfer des Nationalsozialismus und opportunistischer
Karrierist? Ein kurzes, zerrissenes Leben, das wenig erforscht
ist. Auch ein weitgehend unbekanntes Werk, dem nun erstmals eine
umfassende Monografie gewidmet ist. Ohne biografische Details
vertiefen zu wollen, zeichnet Lüdemann detailliert Distlers
kompositorische Entwicklung nach und diskutiert ausführlich
seinen Kompositionsstil.
Martin Geck: Die Bach-Söhne, Rowohlt Monographie,
Reinbek 2003, 159 S., E 8,50, ISBN 3-499-50654-8
Publikationen über die „Musikerfamilie Bach“
und speziell „Die Bach-Söhne“ – so zwei
einschlägige Titel von Karl Geiringer (1958) und Marc Vigal
(1999) – haben eine mehr als 100-jährige Tradition.
Martin Geck bietet in der Rowohlt-Monografie neben biografischen
Skizzen der vier Brüder auch vergleichende Wertungen ihres
kompositorischen Werkes zusammen mit einer musikhistorischen Einordnung.
Schlaglichter auf die „zwei Mütter“ und zwei
der Enkel runden das Bändchen ab.
Michael Wackerbauer
Noten
Lothar Graap (*1933): Kleine Tänze für drei Sopranblockflöten.
Moeck ZfSp 755/756 (2002)
Keine Avantgarde, harmlos im technischen, nicht überzogen
im musikalischen Anspruch, gerade recht für die Spielgruppe,
die zu dritt ihren Spaß daran ausdrücken kann.
Johann Michael Bach: Concerto III op. 1 pour le Clavecin,
herausgegeben von Walter Opp (mit Kadenzvorschlägen für
die beiden Sätze Allegro-Adagio). Ed. Merseburger 2102 (2002)
Das von Streichern und ad lib. zwei Hörnern begleitete
Cembalokonzert des so genannten Schmalkaldener oder Tanner Bach,
1767 in Amsterdam verlegt, geschrieben noch in Generalbassmanier,
weist in die Frühklassik und klingt in seiner lustvollen
heiteren Melodik sicher am besten auf dem voluminöseren Hammerklavier.
Mit dem witzigen Schlussrondo über „Wenn ich ein Vöglein
wär“ offensichtlich eine populäre Musik damaliger
Zeit.
John Eccles: Sonate für Trompete, Streicher und B.c.
D-Dur, herausgegeben von Carolyn I. Sanders. Ausgabe für
Trompete in C und Piano von Ann Knipschild (Stimmen für Trompete
auch in B und D) Musica Rara MR 2263, Breitkopf & Härtel
(2002)
Als eines der besten Trompetenwerke damaliger Zeit schätzte
man im alten England diese Eröffnungsmusik zum „Urteil
des Paris” aus dem Jahre 1701. Als eine für den Solisten
nicht allzu anspruchsvolle Sonata hat sie ihren dankbaren Repertoirewert.
François Devienne: Duo D-Dur op. 3 Nr. 2 für
zwei Flöten, hrsg. von Christoph Dohr. Spielpartitur
Ed. Dohr 20762
Zwei leichte Musizier-Duette für die Traversflöte
des französischen Flöten-Virtuosen. Reizvoll, sich selbst
die Artikulation zurechtzulegen, interessant ist der Vergleich
der Druckfassung mit dem beigegebenen Faksimile des als Vorlage
dienenden Kopisten-Manuskripts.
Eckart Rohlfs
Soundtracks
Something Wild
Varèse/ Colosseum VSD 6469
Eine Sensation: die Erstveröffentlichung des Original Soundtracks
zu „Something Wild“, komponiert und dirigiert von
Aaron Copland. Weil das New Yorker Melo mit „Baby Doll“
Carroll Baker sich 1961 als Flop erwies, blieb das Soundtrack-Album
unveröffentlicht – bis heute. Coplands letzter sehr
jazziger sinfonischer Score beweist auf eindrucksvolle Weise seine
Stellung als „Vater“ der modernen amerikanischen Filmmusik.
Unverzichtbar.
Schwabenkinder
Wergo ALC 5402 2
Relativ selten erscheinen in den letzten Jahren in Deutschland
Scores zu TV-Produktionen und das ist auch gut so. Umso erfreulicher
ist die Veröffentlichung von Enjott Schneiders Musik zu Jo
Baiers „Schwabenkinder“. Für den Score zu einem
anderen Jo-Baier-Film, „Wildfeuer“, hatte Schneider
1992 zu Recht das Bundesfilmband in Gold bekommen. Mit „Schwabenkinder“
hat sich Schneider aber nun selbst übertroffen: Baiers Kreuzweg-Drama
dient ihm als Vorlage zu einer sehr innigen „italienischen
Bauernmesse“ – zwischen Bach und Morricone –
die weit mehr ist als nur „Begleitungsmusik zu einer Lichtspielszene“.
Inzwischen hat Schneider seinen passionierten Score tatsächlich
in eine Messe verwandelt, die am 20. Juli im Münchner Dom
uraufgeführt wird.
Bollywood Hollywood
BMG 8287652860-2
Musikalische Komödie aus „Bollywood“, die nun
im Fahrwasser von „My Big Fat Greek Wedding“ auch
in deutschen Kinos zu sehen ist. Vor einigen Jahren galten indische
Musicals & Melos hierzulande als absoluter Geheimtipp. Und
jetzt nach Panjabi MCs Disco-Ohrwurm wird der Markt mit indischer
Musik überschwemmt. Leider schielen die meisten Songs dieses
Soundtracks zu sehr nach Westen.