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nmz-archiv
nmz 2003/7-8 | Seite 30
52. Jahrgang | Jul./Aug.
ver.die
Fachgruppe Musik
Bass vor’m Bauch und Treppe rauf
Die Orchesterwarte an der Deutschen Staatsoper Berlin ·
Von Gerta Stecher
Das Foyer im Intendanzgebäude: 26 mannshohe silbergraue Leichtmetall-Transportkästen
mit zwei Harfen, vier Becken, zehn Bässen und zehn Bassstühlen.
26 schwere Teile. Für Orchesterwarte gerade schwer genug, sind
halbe Möbelpacker. Einfach Bass vor’m Bauch und losgeschleppt.
Vom Intendanz- ins Operngebäude durch unterirdische Tunnel
und drei Brandschutztüren, über Unterbühne und 34
Stufen, vorbei an Ecken, Kanten und Kurven. 120 Meter. 26 Mal unbepackt
hin, 26 Mal bepackt zurück. Zwischen 15 und 50 Kilo jedes Teil.
Rückgeliefert aus der Philharmonie, wo das Orchester des Opernhauses,
die Staatskapelle, mit Strawinsky, Schubert und Mozart konzertiert
hatte. Schweiß von den Männerstirnen und dann weggestellt:
Becken in den Schlagzeug- und zwei Bässe mit Stühlen in
den Basskeller. Aber acht der Bässe und Bassstühle sowie
die Harfen gleich in den Vorraum zum Orchestergraben für Wagners
Tannhäuser. Vorstellungsbeginn in zweieinhalb Stunden.
Schleppen für den Tannhäuser:
mit einem Vierzigpfünder auf dem Weg in den Orchestergraben
Foto: Kunst und Kultur
Im Orchestergraben wird das Dirigentenpodest zehn Zentimeter Richtung
Charlottenburg geschoben, nach rechts also, vom Zuschauersaal aus
gesehen (links liegt Berlin und wäre die Berliner Richtung).
„Der Dirigentenpodest steht bei Tannhäuser immer außermittig,
sonst passen nicht alle Bässe in den Graben.“ Michael
Frohloff arbeitet seit 17 Jahren als Orchesterwart. „Manchmal
geht’s um zwei Zentimeter.“ Nicht nur bei den großen
Wagner-Besetzungen, auch bei modernen Inszenierungen: „Es
gibt Bühnenbildner, die den Graben szenisch mitbespielen. Da
ragen dann Bühnenteile bis tief ins Orchester und man muss
zentimetergenau bauen, um auch Musiker reinzukriegen.“
Gebaut wird jetzt bei Tannhäuser. Für erste und zweite
Geigen und Bratschen in drei verschiedenen Höhen 20 Podeste
aus schweren Holzunterlagen. Im Halbkreis um das höchste, das
Dirigentenpodest. „Die sitzen so dicht am Dirigenten, dass
sie ihn nicht sehen könnten, säßen sie ebenerdig.“
Dann landen auf den Podesten Stühle und davor Pulte. Das geht
ruck zuck. Zwei Stühle, ein Pult, zwei Stühle, ein Pult.
Für zwei Streicher immer ein Notenpult. Vor sich vergrößert
Frohloff die Bestuhlungsfläche, hinter sich verkleinert er
gleichzeitig einen Stapel zusammengeschobener, übereinandergestellter
Stühle und Pulte. Rudiment der Cosí fan tutte-Besetzung,
die zuletzt gespielte Oper.
Von der Mitte aus wächst der Halbkreis ebenerdig weiter nach
links: Mit den restlichen Stühlen für die 16 ersten und
14 zweiten Geigen, die zwölf Bratschen, acht Celli und acht
Bässe. Frohloff baut die Barenboim-Variante. Eben: Mitte und
links Streicher. „Jeder Dirigent möchte einen anderen
Orchesteraufbau. Der eine will in der Mitte die Holzbläser,
Barenboim will sie rechts. Der eine will die Bässe rechts,
Barenboim will sie links.“ Dem Orchesterwart ist’s egal,
nur wissen muss er es. Was wo und wie viel hingehört, hat er
bei Tannhäuser im Kopf, hat die Besetzung schon mehrmals aufgebaut,
erst letzte Woche wieder. Doch zu klein ist der Cosí fan
tutte-Stapel für’s Tannhäuserorchester. Mehr Stühle
müssen her. Aus dem Vorraum vom Orchestergraben und dem anschließenden
Flur. Frohloff flitzt, schleppt, zählt, stellt. Immer schön
dicht bei dicht. Überschlägt den Platz und entscheidet:
alle Celli noch dichter zusammen. Passen sonst die Bässe nicht
rein. Neu ausrichten. Dann weitere vier Stühle ran, zwischen
die Bassstühle als Ablagen für Putztuch und Kolophonium.
Zum Schluss die Bässe selber. Hievt die Vierzigpfünder
her, packt sie seitlich mit dem Hals auf die Bassstuhllehne und
mit der Hüfte auf die Stuhlsitzkante. Eineinhalb Stunden sind
‘rum. Und zugestellt sind Mitte und linke Grabenseite einschließlich
Türrahmen vom Orchestergraben: zwei Bassstühle, riesig
wie ihr Instrument, finden nur dort Platz. „Acht Bässe
ist das Limit für den Graben.“ Frohloff kann sich nur
noch seitlich durchs Gestühl drängen, um Probe zu sitzen.
Auf jedem einzelnen Stuhl. Mal mit ausgestreckten Armen, mal mit
vorgestreckten Beinen. Entsprechend Pult einen Hauch weg- oder zurück-
und Stuhl hin- oder hergerückt. Feinarbeit. „Das Cello
spielt zur Seite, die Geige nach oben, der Bass braucht vor sich
Platz.“ Letzteres weiß Frohloff aus eigener Erfahrung.
Ist Freizeitbassist. Spielt U-Musik. Für E-Musik reicht es
nicht. „Dazu bin ich zu schlecht.“ Wenn ein Orchesterwart
nicht selber mitkriegt, wieviel Minimalraum ein Instrument braucht,
dann bringen es ihnen die Musiker bei. „Die sagen dir: Siehst
du nicht, dass du mich behinderst. Ich habe eine Posaune, die zieht
nach vorn.“
Zum Abschluss Auslegen der Tannhäuser-Noten. Hellgrüner
Packen, geordnet nach Instrumenten, Stimmen und Pulten. Von den
Orchesterwarten selber sortiert. Zuerst die Partitur auf’s
Dirigentenpult, danach die Noten auf die Musikerpulte. „Wir
sind dafür da, dass die Musiker kommen, sich hinsetzen, der
Dirigent den Taktstock hebt, und los geht’s.“
Die ersten sind schon da, zwei Geiger. Lachen, Scherzen, herzliche
Begrüßung. „Ich arbeite gern mit Leuten. Das muss
man schon können, man hat 120 Musiker.“ Die zwei schieben
sich seitlich zwischen Stühle und Pulte zu ihren Plätzen,
Instrumente in Kopfhöhe. Bloß nirgends an- und nichts
umstoßen. Und los geht’s: mit dem Einspielen. Andere
stimmen in den Stimmzimmern. Es gibt drei für Streicher, Holz-
und Blechbläser drüben im Intendanzgebäude. 120 Meter
samt Tunnel, Treppen und Türen entfernt. Frohloff ‘rüber,
Kopf in die Stimmzimmer wo’s quietscht, schrapt, kreischt
und quäkt. „Ist alles Musik für meine Ohren.“
Aber kein Musiker braucht ihn. 120 Meter zurück und hin zu
Dietmar Höft. Der dritte Kollege baut die Bühnenmusiken:
auf der Charlottenburger und der Berliner Seitenbühne, der
Hinterbühne, vor der Intendanten- und der Barenboim-Loge. Auch
alles fertig: nur Notenständer, nirgends Stühle, die kurzen
Zuspielungen zum Orchester werden im Stehen absolviert.
Die Stimmzimmer leeren, Orchestergraben und Zuschauersaal füllen
sich. Über der Orchesterbrüstung hängt interessiertes
Publikum. Es kann losgehen, das Bereitschaftslämpchen blinkt.
Frohloff hin zum Dirigentenzimmer auf der Charlottenburger Seite,
den Dirigenten abholen, ihn begleiten zur Orchestergrabentür
Berliner Seite, sie ihm öffnen, warten, bis er sich seitlich
durch die Musiker geschoben, sein Podest bestiegen, sich verbeugt
hat und die Arme hebt. Dann schließt der Orchesterwart geräuschlos
die Tür. Luftholen. Bis Ouvertürenende. Schnell einen
Kantinenkaffee drüben, 120 Meter hin, 120 Meter zurück.
Beginn erster Akt. Hin zu den Seitenbühnen zur Bühnenmusik:
ein Orchesterwart nach Charlottenburg, einer nach Berlin. Spiel
abwarten, dann Notenpulte greifen, in Charlottenburg einen neben
dem Bühnenvorhang stellen für die Hirtenmelodie, die restlichen
zur Seite räumen, sind erst im dritten Akt wieder dran. Der
dritte Mann hoch zur Bühnenmusik vor der Intendantenloge. Dort
Spiel abwarten und alle Pulte mitnehmen. Hier findet heute nichts
mehr statt.
Bis Ende erster Akt Leerzeit für die Orchesterwarte. Alle
drei ‘rüber ins Intendanzgebäude, bei Tannhäuser
Übertragung Noten sortieren. Die vom Konzertieren: Strawinsky
hellblau, Schubert ocker und Mozart weiß. Ordnen auf großen
Tischen im Blechbläser-Stimmzimmer nach Instrumenten, Stimmen
und Pulten. Verschwinden fast die Tische unter hellblau, ocker und
weiß. Im Notenarchivkeller ist´s noch bunter, dort stapelt
sich Farbe neben Farbe: Schwanensee-Blau, Ariadne auf Naxos-Gelb,
Salome-Grau, Tristan und Isolde-Tiefdunkelblau und so fort. Blick
auf die Uhr und Michael Frohloff nimmt die 120 Meter Tunnel, Türen
und Treppen ins Operngebäude: Ende erster Akt, Ende Applaus,
Orchestergrabentür öffnen, Dirigenten rauslassen und begleiten
bis ins Dirigentenzimmer. In der Opernpause 120 Meter zurück
und Noten fertigordnen. Ende erste Pause: 120 Meter und den Dirigenten
wieder reinlassen. „Egal, ob es ein hauseigener Dirigent oder
ein Gast ist, ob er berühmt oder weniger bekannt ist, es hat
was, derjenige zu sein, der ihn begleitet.“
Beginn zweiter Akt. Nichts zu tun in diesem Akt für Orchesterwarte.
Dafür allerhand auf der Probebühne, zweite Etage, Intendanzgebäude:
Bei Tannhäuser-Musik Beginn Orchesteraufbau La Bohème
für die Sitzprobe am nächsten Vormittag. Frohloff schlägt
die Kladde auf. La Bohéme hat er nicht im Kopf, wurde ewig
nicht gespielt, aber in der Kladde, selber handgeschrieben. Jede
Seite eine Oper, die am Haus inszeniert wurde. Also nach Blatt:
Pulte, Stühle und sieben Extrastühle und -pulte für
die Sänger.
„Nur die kleinen Instrumente haben die Musiker bei sich und
transportieren sie selber. Wie sollte ein Pauker seine Pauke schleppen
und sie dann auch noch ordentlich spielen können!“ Michael
Frohloff findet nichts Besonderes an seinem Beruf. Der bedarf nicht
mal einer Ausbildung. Nur in der Zeit zwischen Abitur und Studium
wollte er Instrumente-Schleppen mit Musik-Hören verbinden.
Musik von der Staatskapelle, versteht sich. Erst unter Suitner,
dann unter Barenboim. Möglichst Salome, Wozzeck und Die Nase.
„Meine erste Oper, die ich als junger Mensch sah, war Cosí
fan tutte. Und ich fand es so langweilig, dass ich mich nur für
Symphonien und Konzerte interessierte. Das hat sich gründlich
geändert.“ Wie sein Berufswunsch. Damals wollte er Schauspieler
werden. Heute ist er als Orchesterwart glücklich. „Die
Gastspielreisen sind überhaupt das Beste“. Seit Jahren
geht’s nach Madrid und Tokio, davor ging’s nach Paris.
Genug für heute. Morgen, zwei Stunden vor Probenbeginn, wird
Manfred Ketzler den Aufbau mit Frohloff beenden. Ketzler ist der
vierte Orchesterwart, ehemals Hornist in einem Blasorchester. Die
beiden anderen waren zuvor Tänzer und Pförtner am Haus.
Vor dem Personalabbau waren sie zu sechst. Schwieriges Unterfangen,
zu viert alle Proben und Vorstellungen und die 40-Stunden-Woche
unter einen Hut zu kriegen.
Ende zweiter Akt: rüber und Dirigenten rauslassen. Beginn
zweite Pause. Auf dem Rückweg vorbei an der Kantine, Schrippe
auf die Hand und dann zum Wunschtisch vor dem Stimmzimmer Holzbläser:
Um welche Noten bittet welcher Musiker, weil er üben will?
Die Liste ist lang: Lulu für’n zweiten Hornisten, Cosi
fan tutte für’n dritten Bassisten, Zauberflöte für’n
zweiten Oboisten, Nussknacker für’n Bassklarinettisten
und so weiter. Also, bis Ende zweite Pause in den Notenarchivkeller,
Wunschnoten zusammensuchen. Dann Dirigenten wieder reinlassen.
Dritter Akt. Mit Bühnenmusik. Auf Charlottenburger Seitenbühne
die beiseitegeräumten Pulte wieder aufstellen. Dann Abwarten
und Musik genießen bis Durchruf: dritter Akt Bühnenmusik
Venusberg! Hoch zur Barenboim-Loge, Spiel abwarten, anschließend
sofort ‘runter zur Seitenbühne, Spiel abwarten, anschließend
sofort ganz nach unten, Orchestergrabentür für den Dirigenten
öffnen. Schluss der Vorstellung. Frohloff lehnt an der Orchesterbrüstung,
blickt hoch zur Bühne, beobachtet Sänger und Dirigenten,
die sich beim Publikum für den Jubel bedanken. „Man freut
sich mit, ist doch ganz klar.“
Sobald sich die Zuschauer aus den Rängen entfernt haben,
beginnt der Orchesterabbau: er dauert eine Stunde.