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nmz-archiv
nmz 2003/7-8 | Seite 3
52. Jahrgang | Jul./Aug.
Zukunftswerkstatt
Agenda 2009 – ein Gegenentwurf
Eine Welt voller Musik löst grassierende Probleme
Mit der „Agenda 2009“ hat ein führendes Team anerkannter
Musiksoziologen am 13. März 2003 ein umfassendes Programm zur
Reform des Musikmarkts, zum Umbau der musikalischen Versorgungsdichte
und für ein bislang unerhörtes Crescendo vorgelegt. Wir
stellen Ihnen im Folgenden die einzelnen Maßnahmen vor, an
deren Umsetzung derzeit intensiv gearbeitet wird. Ziel der „Agenda
2009“ ist es, die klangliche Dynamik in Deutschland kurz-
und mittelfristig zu stärken, neue Kompositionen, Happenings,
Events et cetera zu schaffen und die Kommunikationssysteme zu modernisieren,
um das musikalische Leben langfristig zu sichern und die Rezeptionsschwierigkeiten
zu senken.
Musikmarkt/Musikrecht
Es darf nicht sein, dass
auch nur ein Individuum nicht die Möglichkeit zur permanenten
Musikversorgung und Musikausübung bekommt. Foto: Martin
Hufner
Mit dem fortlaufenden Schwachsinn von Orchesterstellenstreichungen,
Mittelkürzungen für Projekte oder gar Liquidierungen von
Musiktheatern ist unverzüglich Schluss zu machen. Erfahrungen
der letzten Jahre haben gezeigt, dass auf solche Art anstellungslos
gewordene Musiker sich ungestüm in der freien Musikszene bewegen,
was zu schwerwiegenden Ungleichgewichten in der jedem Bürger
grundrechtlich verbrieften Versorgung mit Musik führt. Kündigungen
im öffentlichen Musikleben sind per Dekret zu untersagen. Realistisch
anzustreben ist derzeit ein Hörer-Festmusiker-Freimusiker-Verhältnis
von 1:1:1, also auf ein Drittel der Gesamtbevölkerung, das
noch nicht den Weg zu aktiver musikalischer Betätigung gefunden
hat fällt ein Drittel fest angestellter und ein Drittel freier
Musiker. Um dieses Verhältnis weiter zu verbessern (Zielvision
muss das rundum musizierende Volk sein), sind Musiker, die ihren
Beruf auch unterrichtend ausüben mit allen Mitteln zu unterstützen.
Auch an milde handzuhabende Zwangsmaßnahmen ist hier zu denken,
etwa die Kürzung des Musiklosengeldes auf ein Jahr, die Erklärung
von Nicht-Musik-Ausübenden zu Sozialfällen. Die weiteren
Maßnahmen übernimmt ein im Effizienzsinne zu reformierendes
Musikamt. Regionen in Deutschland, wo die Zahl der Nicht-Musikausübenden
überproportional hoch ist (es sind im wesentlichen Gebiete,
in denen noch mittels verkrusteter Denkstrukturen das Primat der
Ökonomie über die Kultur postuliert wird) sind öffentlich
verstärkt zu unterstützen. Ost-West- oder Nord-Süd-Gefälle
sind behutsam aber entschieden abzutragen.
Musikalische Sicherungssysteme
Ergebnisse von lang angelegten Forschungen haben bewiesen, dass
Lebenserwartung und Gesundheit in direkt proportionalem Verhältnis
zur Lebensmusikleistung stehen. Hier muss auch an den demografischen
Faktor gedacht werden. Ein Nachlassen der musikalischen Aktivität
im höheren Alter ist radikal zu bekämpfen. Bei der ständig
steigenden Lebenserwartung und zugleich bei dem derzeit zu verzeichnenden
Rückgang von Geburten ist an eine Verlängerung des aktiven
Musizieralters zu denken. Vor allem müssen Maßnahmen,
die Personen vor dem gesetzlichen Rentenalter in eine vorgezogene
Musizierlosigkeit (aus fadenscheinigen Schalldruckargumenten oder
ähnlichem) versetzen, nachhaltig zurückgewiesen werden.
Unter diese Unsitte ist unverzüglich ein Schlussstrich zu setzen.
Um Zuständen dieser Art oder auch von chronischen Amusikalitäts-Erkrankungen
effektiv vorzubeugen, ist auch, ein Präventionsgesetz ins Auge
zu fassen. Das Wissenschaftsgremium führte diesbezüglich
aus: „Durchsetzen muss sich schließlich die Erkenntnis,
dass sich Musikpolitik nicht nur auf die Heilung von unmusikalisch
Kranken beschränken darf, sondern dass der Prävention
Vorrang eingeräumt werden muss ... Wir sollten uns dabei am
Vorbild der skandinavischen Länder orientieren, die durch systematische
Förderung musikbewussten Verhaltens wichtige Beiträge
zur Kostensenkung im Gesundheitswesen erzielt haben.“ Amusikalität
ist nachgewiesenermaßen nicht angeboren, sondern entsteht
im Laufe eines kulturlos verbrachten Lebens. Durch Effektive Prävention,
schon dreißig Minuten Üben täglich reichen hierfür
aus, hat jeder die Chance, den Zustand der trostlosen Amusikalität
zu vermeiden oder wenigstens auf lange Zeit hinauszuzögern.
Musikwirtschaft
Die Musikwirtschaft ist gegenwärtig mit knapp 70 Prozent
des Bruttosozialprodukts (was in etwa der Prozentzahl der Musikausübenden
entspricht) der wesentlichste Sockel der heimischen Gesamtwirtschaft.
Alle nur erdenklichen Maßnahmen sind zu ergreifen, um diese
Führungsposition zu untermauern, ja zu stärken. Jedes
auch nur minimale Einbrechen auf diesem Sektor führt, wie schon
einfache rechnerische Eventualitätskalkulationen beweisen,
zu schweren bis schwersten Verwerfungen im gesamten wirtschaftlichen
Versorgungssektor. Nachhaltig zu stützen und zu fördern
ist deshalb das musikalische Handwerk, der Instrumentenbau, das
Verlagswesen, die Wissenschaft, die Reproduktionsindustrie, die
auf Musikvermittlung spezialisierten Neuen Medien et cetera. Musikalische
Existenzgründungen, die Gründung einer Ich-AG und die
damit verbundene Suche nach einer musikalischen Idee ist nachdrücklich
zu unterstützen.
Gedacht werden muss auch an die mittleren Lagen. Sie führten
aufgrund verfehlter Hörpolitik in den letzten Jahrzehnten ein
Schattendasein. Diesem Zustand ist ein Ende zu setzen. Gedacht werden
kann an Verstärkungssysteme, die vor allem in mittleren Frequenzen
wirken, aber auch an direkte Entlastungen der mittleren Lagen etwa
von Brillenbässen, Tremolos oder langen Haltenoten, die die
musikalische Präsenz zu unterminieren drohen. Der Abbau von
bürokratischen Kompositionsstrukturen wäre in diesem Sinne
eine wichtige flankierende Maßnahme.
Musikalische Finanzsysteme
Gezielt sind Mittel einzusetzen, die ältere und erprobte
Musikwerke, in denen die musikalischen Personen Formen eigener Heimat
gefunden haben, effektiv renovieren und modernisieren. Die Kompositionswirtschaft
hätte hier ein breites, heute noch viel zu wenig beachtetes
Expansionsfeld. Ihrem berechtigten Streben nach ständig neuen
klanglichen Mitteln, worauf auch breite Kreise der Bevölkerung
nicht verzichten möchten, wäre wirksam zu ergänzen
durch Maßnahmen moderner Zurechtrückungen alter und erhaltungswürdiger
Substanz. Musikleben ruht auf zwei Sockeln: Aus dem Blick auf das
Vergangene formt sich der Blick in die Zukunft. Verlage, die bislang
diese erhaltenden Maßnahmen betrieben, sind steuermäßig
in großem Umfang zu entlasten. Existenzgründer, die ihr
Tun musikkonservatorisch einzusetzen gedenken, sind für die
ersten Jahre von sämtlichen Abgaben zu befreien. Dazu soll
eine eigene Kreditbank ins Leben gerufen werden, die diese Maßnahmen
von Musikverwaltungs- und Musikbewahrungsunternehmungen in Milliardenhöhe
entlasten.
Musikalische Bildung, Ausbildung und Klanginnovation
Es versteht sich von selbst, dass diesen Punkten die allerhöchste
Priorität zukommt. Wenn man bedenkt, dass in Deutschland immer
noch ein Drittel amusischer Personen existiert (mit dieser Zahl
liegt Deutschland im hinteren Mittelfeld einer kürzlich über
Testreihen erstellten Musikkoeffizienten-Tabelle, was als beschämend
gewertet werden muss), dass bei Nachlassen der Aktivitäten
diese Zahl sogar wieder anzuwachsen droht, dann ist die Notwendigkeit
schleunigst getroffener Maßnahmen offensichtlich. Eine musikalische
Ausbildungsoffensive ist zu starten, die von pränataler Bildung
(es wäre zum Beispiel an sanfte musikalische Bestrahlungen
der Mutterbauches, wenn nicht gar des männlichen Gliedes vor
der Zeugung zu denken) über frühkindliche Bildungsaktivitäten
(hier kann das Prinzip einer dann im Unterbewussten gespeicherten
Überforderung des kindlichen Hörers durch exzessive avantgardistische
Musik durchaus ins Auge oder ins Ohr gefasst werden), Schule, Universität,
musikalische Fortbildungsmaßnahmen während des Berufslebens
(im Idealfall ein Musikberuf) bis hin zu musikalischen Events und
Aktionen in Seniorenheimen und sogar zur stimmungsvollen musikalischen
Ausstattung des Sterbezimmers reicht. Ziel ist musikalische Flächendeckung.
Es darf im Sinne eines gedeihenden Gesamtsystems nicht sein, dass
auch nur ein Individuum der Gesellschaft nicht die Möglichkeit
zur permanenten Musikversorgung, Musikunterstützung, Musikausübung
bekommt. Die Maßnahmen, die in der „Agenda 2009“
vorgeschlagen werden, sind unverzüglich zu ergreifen und in
die Tat umzusetzen. Denn nur ein umfassend verwirklichter Musikstaat
kann letztlich den Fortbestand und das Gedeihen unserer Existenz
sichern.