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nmz-archiv
nmz 2003/09 | Seite 8
52. Jahrgang | September
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Neuer Nachbar
Dass das katholische Polen trotz päpstlicher Warnung im letzten Frühjahr
mit Pauken und Trompeten auf den Irak-Kurs von Bush und Rumsfeld eingeschwenkt
ist, hat in Westeuropa gehörige Irritationen ausgelöst. Doch der
realpolitische Schachzug hat seine historischen Gründe und an die erinnert
man sich hierzulande ungern. Da ist einmal der mit Stalin abgesprochene Überfall
der Deutschen auf Polen von 1939 und die anschließende Vernichtungspolitik,
die die Polen ebenso traf wie die dort lebenden Juden. Dann das Verhalten
westeuropäischer Regierungen während des Kalten Krieges: Damals
fühlten sich die Polen wie übrigens auch die Tschechen und anderen
Osteuropäer von Deutschland und Frankreich im Stich gelassen. Nicht aber
von den USA, die, aus welchen Interessen auch immer, sich stets kompromisslos
auf die Seite der von der Sowjetunion unterdrückten Völker stellten.
Die historischen Wurzeln dieses „special relationship“ reichen
aber noch weiter zurück. Im „Spiegel“ vom 11. August erinnerte
Ex-Bundespräsident Richard von Weizsäcker unmissverständlich
daran: „Polen wurde in einer Zeit geteilt, als Amerika gegründet
wurde. Seit Ende des 18. Jahrhunderts sind Hunderttausende von Polen in die
USA ausgewandert. Das Land hat seine Unabhängigkeit im Jahr 1918 wesentlich
dem amerikanischen Präsidenten Woodrow Wilson zu verdanken und während
des Kalten Krieges haben die Polen immer vom Land der Freiheit geträumt.
Das verbindet sie mit den USA und dafür danken sie den Amerikanern auch.
Wer ihnen deshalb eine schlechte Kinderstube vorwirft, ist historisch nicht
besonders gut bewandert.“
Auf einem andern Blatt steht freilich die aktuelle Instrumentalisierung
dieses geschichtlichen Erbes durch die Bush-Regierung mit dem Ziel, die Europäer
zu spalten. Auch darauf weist der frühere Bundespräsident hin. Aber
das ist ein anderes Problem und es hängt von den Europäern selbst
ab, die Spaltung zu vermeiden.
Einsichten wie die von Weizsäckers, das Verhältnis zu Polen betreffend,
waren bislang hierzulande nicht eben häufig zu hören; manche meinen
noch immer, das Nachbarland sei eine Art Verlängerung von Mecklenburg-Vorpommern.
Dass sich die polnischen Politiker seit einiger Zeit die Freiheit nehmen,
mit ihren Kollegen im Westen auf gleicher Augenhöhe zu verhandeln, muss
erst noch verdaut werden.
Von Weizsäcker hat das künftige Gewicht unseres östlichen
Nachbarn erkannt. Dem rückwärtsgewandten Konstrukt eines deutsch-französischen
„Kerneuropas“, wie es sich etwa Habermas vorstellt, setzt er die
zukunftsträchtigere Idee eines Kräftevierecks London-Paris-Berlin-Warschau
entgegen, von dem eine neue Dynamik für Gesamteuropa ausgehen könnte.
Im Musikbereich ist das Vorurteil vom unterentwickelten östlichen Nachbarn
ohnehin haltlos. 1956, als es in der Bundesrepublik außer der Wochenend-Veranstaltung
in Donaueschingen und den Darmstädter Ferienkursen kein nennenwertes
Festival für Neue Musik gab, wurde in Polen der Warschauer Herbst gegründet:
Ein zweiwöchiges Großereignis, das die internationale Entwicklung
der Neuen Musik in größtmöglicher Breite dokumentierte. Das
Festival hat sich nun fast ein halbes Jahrhundert lang gehalten, allem politischen
Auf und Ab, Kriegsrecht und Systemwechsel zum Trotz. Der Grund dafür
liegt nicht zuletzt im unermüdlichen Optimismus, gepaart mit Zähigkeit
und Begeisterung, mit denen die Verantwortlichen, nun bereits in der dritten
Generation, ihre politische Idee einer freien Musik in die Wirklichkeit umgesetzt
haben. Der Publikumsandrang war auch immer entsprechend riesig.
Vor diesem Hintergrund einer fünfzigjährigen erfolgreichen Veranstalterpraxis
muten die Besuche von Delegationen des Deutschen Musikrats beim Warschauer
Herbst in den letzten beiden Jahren auf den ersten Blick etwas kurios an.
War man doch mit der löblichen Absicht nach Warschau gefahren, mit den
Polen die Probleme des Überlebens in schwieriger Zeit zu diskutieren
– und das ausgerechnet in einer Zeit, da der Pleitegeier, von den meisten
noch unbemerkt, über der eigenen Organisation schwebte. Aber auch wenn
die Kommunikation bei diesen ersten Treffen vielleicht noch nicht immer nach
Wunsch verlief und sich die unterschiedlichen Gesprächskulturen erst
einmal aufeinander einstellen mussten – ein erster wichtiger Schritt
in Richtung einer gutnachbarlichen Zusammenarbeit wurde gemacht.
Nun laufen die konkreten Projekte an. Beim diesjährigen Warschauer Herbst
wird erstmals ein Konzert in Kooperation zwischen dem Deutschen Musikrat und
dem Festival durchgeführt. Ein junges deutsch-polnisches Ensemble wird
mit dem Dirigenten Rüdiger Bohn in einem einwöchigen Workshop neue
Stücke einstudieren und aufführen. Ziel ist die Gründung eines
festen Ensembles. Auch Österreich zeigt Interesse an einer Zusammenarbeit
und bereits jetzt stößt der deutsch-französische Kulturrat
dazu, womit das politische „Weimarer Dreieck“ der drei Staaten
Frankreich, Polen und Deutschland die dringend nötige kulturelle Unterfütterung
erfährt. Das bildet die organisatorische Basis für eine internationale
Festival-Zusammenarbeit, die Kosten spart und den Wirkungsradius der investierten
Kräfte vergrößern kann.
Auch der „Gegenverkehr“ wird vorangetrieben: In Zusammenarbeit
mit der Siemens-Musikstiftung lädt der DMR demnächst sechs junge
polnische Musikjournalisten zu mehrmonatigen Praktika in deutschen Redaktionen
ein, was für den noch etwas unterbelichteten Informationsaustausch zwischen
beiden Ländern nur fruchtbar sein kann.
Und auf Veranstalterebene, wo in Deutschland bislang ein schwer verständliches
Desinteresse gegenüber dem östlichen Nachbarn herrschte, wollen
als Erstes die Darmstädter Ferienkurse im nächsten Jahr ein Fenster
nach Polen öffnen. Vor Ort kann Solf Schäfer, der Programmverantwortliche,
auf die Mitwirkung eines hochkarätigen Partners zählen, des auf
Anregung von Karl Dedecius gegründeten Deutschen Polen-Instituts; auch
das Internationale Jazz-Institut macht mit.
In Deutschland, so scheint es, ist man dabei, das „Neue Europa“
zu entdecken – nicht das, von dem die Kriegsherren träumen, sondern
das wirkliche, kulturelle.