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nmz-archiv
nmz 2003/09 | Seite 37-38
52. Jahrgang | September
Oper & Konzert
Auf dem Grünen Hügel der Kammermusik
Sommerliche Musiktage Hitzacker 2003 – Deutschlands ältestes
Kammermusikfestival wird jung
Sommerliche Musiktage im Elbestädtchen Hitzacker – das verwunschene
Kleinod, das einst höchstens wegen des schönsten DDR-Grenzblicks
und im vergangenen Jahr mit seiner dramatischen Hochwassersituation Schlagzeilen
machte, blüht nun zu Festspielzeiten auf und findet mit neuen Strukturen
auch breite überregionale Beachtung. Und das liegt an den geballten Potentialen
der neuen hochsensiblen, intelligenten und nachdenklichen Musiker-Generation
um die Dreißig, allen voran Intendant Markus Fein. Vor drei Jahren wurde
er künstlerischer und organisatorischer Leiter der Musiktage und spielt
seither bravourös auf der Klaviatur der visionären Möglichkeiten,
die zu Wirklichkeiten werden: Denn viele, die Rang und Namen haben in der
jungen Klassik-Szene, tummelten sich in diesem Jahr auf dem „Grünen
Hügel der Kammermusik“: Da war der 32-Jährige Matthias Pintscher
als Composer in Residence, der als 20-Jähriger den wichtigen Kompositionspreis
hier erhalten hatte; sein Werk aus einer bis zum Zerreißen gespannten
Stille wurde vom Ensemble Modern und mit dem ganz unverzichtbaren Teodoro
Anzelotti am Knopf-Akkordeon unter stringenter Führung der britischen
Dirigentin Sian Edwards tief ausgelotet, fand aber in seiner Hermetik nicht
immer die ungeteilte Zustimmung des Publikums.
Das Keller-Quartett aus Ungarn gab sein facettenreiches Portrait mit einem
weit gespannten Programm von Haydn über Brahms und Tschaikowsky bis zur
Uraufführung des Choral-Quartetts von Jörg Widmann, einer auf Haydns
„Letzte Worte“ bezogenen tief ausgeloteten Auftragskomposition
der Musiktage; Widmann beeindruckte darüber hinaus als glänzender
Klarinettist: herausragend seine Brahms- und Kurtág-Interpretationen.
Der international gefragte Bariton Dietrich Henschel dramatisierte im Team
mit Pianist Burkhard Kehring einen Schubert-Beethoven-Mahler-Liederabend der
Spitzenklasse; die zauberhafte Sopranistin Susanne Rydén und das Ensemble
Bell’Arte mit historischen Instrumenten entführten in barocke Welten.
Überraschende Entdeckungen waren die exzellente Sopranistin Claudia Barainsky
und der phänomenal sensible Kurtág-Schüler Dénes Várjon
mit der ganzen pianistischen Bandbreite der Festival-Aufgaben.
Gemeinsam mit den „Nestoren“, dem Pianisten Anatol Ugorski und
dem Hilliard-Ensemble waren sie Garanten der Avantgarde auf der Basis von
Tradition – die wird in Hitzacker auch weiter liebevoll gepflegt, nach
dem Motto: „Ehrfurcht vor dem Erbe, Lust auf Neues“. Im dichten
Programm unter dem Motto „Von Traumstädten und Phantasiewelten“
folgte ein Highlight nach dem anderen, alle dramaturgisch bedacht in den weiten
thematischen Bogen einkomponiert, ein Kunstwerk für sich. Da hinein passten
nahtlos die Rahmenangebote von hochkarätiger Hörerakademie, Festival-Fellows-Programm,
Deutsch-Ungarischem Masterclass-Jugend-Projekt und ARD-Preisträgerkonzert.
Mehr Jugend in das Festival, dazu mehr gehaltvolle Nahrung für Erklärungshunger
und Wissensdurst in abwechslungsreicher didaktisch-methodischer Aufbereitung,
das ist unverwechselbare Hitzacker-Handschrift geworden. Nicht ohne Grund
wurde ja das Publikum an den ersten beiden Tagen auf „Grand Tour“,
auf eine Bildungsreise im Sinne des 18. Jahrhunderts, nach Venedig, Paris
und Budapest geschickt.
Mit Erfolg: Die Auslastung lag in diesem Jahr im Schnitt bei 80 Prozent,
viele Veranstaltungen und die Hörerakademie waren komplett ausgebucht.
Kein Zweifel – die musikalische Reise von Hitzacker aus durch „Traumstädte
und Phantasiewelten“ fand im Salonwagen Erster Klasse statt. Angekommen!
Und der Zug für weitere Jahre steht schon unter Dampf: In seiner Festrede
zur Eröffnung versprach Niedersachsens Arbeitsminister Walter Hirche
in seiner Eigenschaft als derzeit amtierender Ministerpräsident, trotz
leerer Kassen für die Zukunft eine Landesförderung in der Größenordnung
wie in den vergangenen Jahren bereit zu stellen. „Denn“, so Hirche,
„das Musikland Niedersachsen muss auf diese Weise weiter gestärkt
werden.“ Sollten hier Traumorte und Phantasiewelten Wirklichkeit werden?