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nmz-archiv
nmz 2003/09 | Seite 35
52. Jahrgang | September
Oper & Konzert
Ganz und gar Unprovinzelles aus der gehobenen Provinz
Mutiges Programm: Der 18. Kissinger Musiksommer blickte nach Osten
Gibt es in der Musik, der Kultur im Allgemeinen, so etwas wie den Anspruch
auf eine Wiederholung des Erfolgs? Wenn die Rahmenbedingungen stimmen und
das Konzept passt, sind dann Kreativität und kulturelles Schaffen planbar?
Geht es nach den für Kultur in Stadt und Land Verantwortlichen, soll,
ja muss es so sein, damit sich die eingesetzten Steuermittel rechnen, sie
vor dem imaginären Steuerzahler zu rechtfertigen sind. Also beherrschen
Faktoren wie Auslastungsquote, eingespielte Geldmittel, Sponsoringanteile
die kulturelle Debatte, weniger aber die Frage nach der künstlerischen
Qualität des Ergebnisses.
Der Kissinger Sommer, vor nunmehr siebzehn Jahren ins Leben gerufen, verstand
sich von Anfang an auch als ein Festival, das sich selbst bespiegelnd und
reflektierend mit den Rahmenbedingungen kulturellen Schaffens auseinander
gesetzt hat. Und so sind Diskussionsrunden neben allen musikalischen Veranstaltungen
dort ein weiterer Schwerpunkt. In diesem Jahr standen zwei Themen zur Diskussion:
„Die Rolle von Sponsoren und privaten Mäzenen für den Kulturbetrieb“
(Leitung: Peter Ruzicka) und „Der Stellenwert von Kultur in Deutschland“
(Leitung: Volker Hassemer, ehemaliger Kultursenator des Landes Berlin). Letzerer
appellierte leidenschaftlich für mehr bürgerschaftliches Engagement
in der Kultur, forderte ein Netzwerk, das die politischen Entscheidungsträger
kompetent fordert und kontrolliert.
Dass Kultur in der Provinz nicht provinziell sein muss, beweisen die musikalischen
Highlights des Kissinger Sommers, der charmant mit seinem natürlichen
Umfeld einer kleinen unterfränkischen Kurstadt spielt. Noch mehr als
in den Großkapitalen der Kultur kommt es hier darauf an, Jahr für
Jahr Überzeugungsarbeit zu leisten: beim Publikum, den Politikern und
vor allem bei den Kissinger Bürgerinnen und Bürgern, die –
der Provinz sei´s gedankt – mit ihrer Meinung noch niemals hinter
dem Berg gehalten haben. Kompromisslos auf ihre Art ist freilich auch die
Intendantin des Musikfestivals, Karin Kahl-Wolfsjäger.
In Bad Kissingen wurde überzeugend belegt, dass auch Traditionelles
neue Wege beschreiten kann. Und so präsentierte sich dort erstmals auf
dem Kontinent das BBC Symphony Orchestra unter der Leitung von Sir Andrew
Davis mit einer originalen Last Night of the Proms. Mit einem Programm wie
sommerliche Mixed Pickles: Sibelius’ „Finnlandia“, Berlioz
Ouvertüre „Le Corsaire“, eine Arie der Oper „Béatrice
et Bénédict“ (Isa Gericke, Sopran); aber auch –
in Anwesenheit des Komponisten – die meisterlich gefügten zwei
Tangos nach Albeniz und von Davis durchscheinend genau angelegt, „Le
tombeau de Couperin“ von Maurice Ravel. Einen besonderen Genuss bereitete
Jean Yves Thibaudet (Klavier), der sich an das viel geschmähte Grieg´sche
Klavierkonzert wagte und es von allem süßlichen Schmelz befreite.
In einer Stadt, in der sogar der Förderverein des Festivals mehr zeitgenössische
Musik fordert, gehört eine Veranstaltungsreihe wie die „Lange Komponistennacht“
mittlerweile zu einer festen und geschätzten Größe des Programms.
In diesem Jahr war es das Minguet Quartett, das sich zu mitternächtlicher
Stunde mit Werken von Ruzicka (3. Streichquartett über ein Verschwinden),
Penderecki (Streichquartett, 1986) und Rihm („Im Innersten“) einem
jungen, neugierigen Publikum stellte.
Neben der neueren zeitgenössischen Musik ist weiterer Schwerpunkt die
Förderung des musikalischen Nachwuchses, der – ex oriente lux –
im Zusammenhang mit dem 300. Geburtstag von St. Petersburg vornehmlich aus
der russischen Kulturmetropole kam. Staunen macht immer wieder die bedingungslose
Hingabe dieser jungen Menschen an die Musik. Nicht die Frage nach dem Warum
und Wieso, sondern die Einsicht, dass dem Müssen ein Können folgt,
ist Garant für eine lebendige Musikkultur. Wenn dann der siebzehnjährige
Miroslav Kultyschev, der seit elf Jahren öffentlich auftritt, mit einer
Chopin Matinee begeistert, mit der Polonaise-Fantaisie As-Dur, zwei Nocturnes
(Fis-Dur opus 15 Nr. 2 und c-moll op.48 Nr.1), vier Mazurken, der g-moll Ballade
und der äußerst anspruchsvollen h-moll Sonate, wenn dann dieser
junge Virtuose als Zugabe neben einer Liszt-Etüde die Prokofieff Toccata
spielt, ja dann kann man nur hoffen, dass er im nächsten Jahr wieder
im Westen auftreten darf und nicht dem russischen Militärdienst in die
Hände fällt.
Und wie wird es weitergehen? Im September startet die erste Kissinger Klavierolympiade,
für die ohne staatliche Hilfe ein fünfstelliger Eurobetrag aufgebracht
wurde. Damit wird Bad Kissingen für sechs junge Preisträger im Fach
Klavier Podium und Sprungbrett für eine internationale Karriere sein.
Nimmt man den Kissinger Musiksommer als Maßstab, kann man den deutschen
Kulturmetropolen nach diesem erfolgreichen Festival nur von Herzen mehr Provinz,
mehr Einfallsreichtum, mehr Mut und künstlerischen Erfolg wünschen.