Jörg Widmanns Opernerstling „Das Gesicht im Spiegel“ bei
den Münchner Opernfestspielen
„Das konnte ich nicht wissen: Dass sie so wird, wie du es einmal warst“,
sagt Bruno zu seiner Frau Patrizia über das Klongeschöpf Justine,
die der Wissenschaftler Milton aus Stammzellen Justines geschaffen hatte.
Hiermit ist alles umrissen. Vier Protagonisten, drei davon denken in kapitalistischen
Karrierekategorien, die vierte ist geklonte Unschuld. Der Komponist Jörg
Widmann und der Librettist Roland Schimmelpfennig, beide in den Dreißigern,
planten eine Oper, der die Gegenwart (oder die der Gegenwart) auf den Nägeln
brennt. Ein großer Anspruch ist das, keineswegs klappte alles. Jörg
Widmann ist gewiss einer der hoffnungsvollsten Nachwuchskomponisten in Deutschland,
seine Entwicklung verlief bisher stürmisch, Erfolge stellten sich rasant
ein. Das Beste: Widmann ist immer noch neugierig geblieben, verfestigte sein
gewaltiges musikalisches Vokabular noch nicht zum Standard des Registerziehens
– eine Gefahr, die sich durchaus bei der immensen Auftragsauslastung
einstellen könnte. Nein, Widmann spürt immer wieder in fremden Terrains
und bewegt sich schnell mit erstaunlicher Sicherheit in ihnen.
Julia
Rempe (li.) und Salome Kammer, im Hintergrund Richard Salter. Foto:
Winfried E. Rabanus
Was also lief schief? Es ist wohl die Deckungsungleichheit des Anspruchs,
also die Gegenwartsthematik mit ökonomisch geformter, kalter Ratio, in
der der Mensch im Glauben, alle Register zu ziehen, zur Marionette wird, mit
der Bühnenrealität des Stücks, das fast sentimental an den
Strukturen tradierter Operndramaturgie kleben bleibt. Jörg Widmann sagte
mir einmal, dass er es ausgesprochen komisch finde, wenn Geschäftsführer
von Großkonzernen im Frack heroisch von Innovation sprächen. Ähnliches,
so scheint es mir, ist der Oper „Das Gesicht im Spiegel“ widerfahren.
Sie will Lebens- und Sinnerfahrung im Umfeld von Rundum-Animation und Individualitätsdoppelung
kritisch spiegeln und bleibt selbst im Frack der Musiktheaterdramaturgie des
vorletzten, also des 19. Jahrhunderts, stecken. Die Gefühlswelt stammt
von dort: verwirrte Sinnlichkeit, aus dem Lot geratene Leidenschaft, Eifersucht,
ja selbst die karikierte Ratio des Wissenschaftlers, die von Rossini bis Berg
dem Doktor angeheftet wurde: welkende Liebe (hier als rationelle, kapitalorientierte
Zweckgemeinschaft) – junges Geschöpf (hier Klon) – Verwirrung
der Leidenschaften und Ende (hier im Tod oder im Fortsetzen der jeder Gefühle
baren Wissenschaft). Hier begann das Ganze zu hinken. Es wurde gemütlich,
vieles bewegte sich in vertrauten operntheatralen Mustern, Beklemmung, gar
Tiefe, mochte sich angesichts dieser locker getrickten Parabel mit ihren bemüht
geschlungenen Maschen nicht einstellen. Es ist ein Grunddilemma der Oper,
das sich im zeitgenössischen Musiktheater noch verstärkte: Die Oper
kann nichts rhetorisch argumentativ vorzeigen, sie ist unbeweglich gegenüber
theatralem Witz, sie wird holprig bei jeder Erörterung. Genauso wenig
aber erträgt sie es, wenn sie vorgeblich neu tut, Medien- oder Börsenwelt
auf den Plan ruft und dabei sich wie mit Krücken alter Opern-Erlebniswelten
bedient. Jede Erzählsucht tötet das Opernerleben, und in „Das
Gesicht im Spiegel“ wurde fast immerfort weiter erzählt. Wie im
Hamsterrad bewegten sich die inhaltlichen Plots, letztlich nur um die Leere
zu vermehren. Die Leere aber schaffte es nicht, was vermutlich intendiert
war, zur elementaren Wucht. Freilich ist dies in erster Linie dem dramaturgischen
Konzept, dem Libretto von Schimmelpfennig (woran freilich auch Widmann mitarbeitete)
anzulasten, der sich wohl kaum schon intensiver mit den spezifischen und heiklen
Problemlagen der Operndramaturgie auseinandergesetzt hatte (und wenn doch:
umso schlimmer).
Es ist Verdienst von Jörg Widmanns kreativer Musikalität, dass
man dennoch bei der Stange blieb. Der Hörer hangelte sich wie an Lianen
im Dschungel von Szene zu Szene, neugierig beobachtend, was Widmann jeweils
neu eingefallen war: Eine Musik aus Handysignalen und Gehirnstrompiepsern,
collagierten Traumsequenzen, zitatartig überhöhten Liebesmotiven,
aus starren Beat-Strukturen und der Tendenz, von der Überdruckhektik
des Beginns bis zum erstarrenden Kältestrom des Endes zu leiten. Auf
solches wartet man – und man wird gleichsam Gang für Gang bedient.
Hineingezogen aber wird man nicht – wie könnte man auch in eine
rhetorische Auflistung hineingezogen werden? Abgesehen davon, dass manche
Handlungswendungen, etwa der Flugzeugabsturz von Bruno, ganz ohne innere Notwendigkeit
(aber natürlich auch ohne die Lockerheit des Nonsens) daher kommen. Oft
schien einfach Berechnung dahinter zu stecken: Das wirkt gut in einer Oper.
Die Regie (Falk Richter) verhielt sich dazu weitgehend neutral, blätterte
im Bilderbogen wie in einem Familienalbum. Irgendwie schwang bei allem immer
Rezeptartiges mit. Man mag das manchen dramaturgischen Opern-Entwürfen
(angefangen spätestens von der „Zauberflöte“) anlasten,
heute aber reagiert man besonders empfindlich.
Widmann hat wirklich zum Teil höchst beachtliche, packende Musik geschrieben.
Was er dem vielbeschäftigten Tölzer Knabenchor (gewissermaßen
neutrale Öffenlichkeit) zumutete – zumuten im positiven Sinne,
als Vertrauen in ausbaubare Möglichkeiten –, war kühn gedacht
und erfunden. Und es wurde (vielleicht nach einigen Retuschen) großartig
bewältigt. Ebenso versiert agierten die vier Solisten Salome Kammer,
Julia Rempe, Dale Duesing, Richard Salter und Mitglieder der Staatsoper (mit
einigen Zusatzkräften, etwa der ausgesprochen virtuos agierende Posaunist
Christofer Varner) unter Peter Rundel. Was man im ganzen Kaleidoskop mit seinen
glänzenden Facetten vermisste war: Oper neu zu denken, wohin auch immer.
Solches aber hatte man angesichts der rundum jungen Kräfte und des so
als gegenwartsnah apostrophierten Sujets erhofft. Man verweilte in verschiedenen
illustren Startlöchern. Vielleicht ein Fehlstart? Wo die Pistole schon
wieder gehoben ist?