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nmz-archiv
nmz 2003/09 | Seite 34
52. Jahrgang | September
Oper & Konzert
Ecstasy in Mozartkugeln
Mit ihren „Kreationen“ will die RuhrTriennale Genregrenzen sprengen
Eine triste Vorstadtkulisse, ein Laden, eine Karaoke-Bude, eine heruntergekommene
Kaffee-Bar. In der ersten Etage sitzt das Orchester hinter Gittern wie in
einem Käfig. Die Musiker des Klangforum Wien sind Bestandteil der Szene.
Bert Neumann hat für das Projekt „Wolf“ die passende Kulisse
entwickelt, ein ausladendes Bühnenbild, über das sich der hohe Raum
der gigantischen Duisburger Kraftzentrale wie ein dunkel bedrohlicher Himmel
wölbt. Denn was hier gezeigt wird, ist nicht beschaulich. Gleich in der
Anfangsszene wird ein Mann brutal zusammengeschlagen, ein Obdachloser, der
am Boden liegend von einem Hunderudel abgeschleckt wird. „Wolf... oder
wie Mozart auf den Hund kam“ ist ein extremes Stück. Atemberaubend
das temporeiche Spiel auf mehreren Ebenen, die Höchstleistungen der Tänzerinnen
und Tänzer sowie einer Akrobatin, die sich, von langen Tüchern gehalten,
aus schwindelerregender Höhe herabstürzt.
Szene
aus „Sentimenti“, Jahrhunderthalle Bochum. Foto: Ursula
Kaufmann
„Wolf“ ist in der Verschmelzung von Gesang, Tanz, Schauspiel,
Gebärdensprache und Video eine expressive Form des Tanztheaters; mit
gesellschaftskritischen und politischen Ambitionen. Der Regisseur Alain Platel
zeigt, gelegentlich recht plakativ, das Nicht-Verstehen von Völkern,
die Grausamkeiten des Krieges, vor allem aber die Verzweiflung und Einsamkeit
des Individuums. Einen traurigen und unruhigen Mann habe er gefühlt,
als er tagelang Mozarts Musik hörte, sagt der Platel. Verstörend
die dargestellten Gefühllosigkeiten und Grausamkeiten, irritierend und
kontrastierend die gelegentliche Situationskomik, berührend die heitere
wie melancholische Seite der Musik Mozarts.
Die Dramaturgie des Abends hat Platel mit seinen Darstellern gemeinsam aus
der Improvisation heraus entwickelt. So entstanden viele, sehr unterschiedliche
Szenen, die sich zu einer großen Collage zusammenfügen. Sylvain
Cambreling hat Ausschnitte aus verschiedensten Kammermusikwerken und Opern
Mozarts zusammengestellt. Seine Arrangements sind reich an Klangfarben und
Durchsichtigkeit. Wie lebendig ist doch Mozarts Musik und in ihrer Zeitlosigkeit
so zeitgemäß.
„Kreationen“ nennt Intendant Gerard Mortier die Neuschöpfungen
der RuhrTriennale, Genregrenzen will er überschreiten, Musik, Theater
und Tanz verbinden, um neue Ausdrucksformen zu finden. Die Kreation „Sentimenti“,
an der Mortier selbst als Dramaturg mitwirkte, verbindet eine Ruhrgebietsstory
mit der Musik von Giuseppe Verdi. Ralf Rothmanns Roman „Milch und Kohle“
liegt dem Ganzen zugrunde, die Bühnenfassung erarbeiteten die Regisseure
Johan Simons und Paul Koek mit dem holländischen Theater-Ensemble ZT
Hollandia. Der Text spiegelt allzu stark das Ruhrgebietsklischee der 60er-Jahre.
Ein Mann erinnert sich am Totenbett seiner Mutter an deren Romanze mit einem
italienischen Gastarbeiter. Der Mann legt Platten auf und schwelgt in Erinnerungen.
„Addio del Passato“ singt Violetta in Verdis Oper „La Traviata“.
Die Musik löst Gefühle aus. Auch für diese Produktion wurden
die Originalkompositionen eigens für ein kleines Instrumentalensemble
bearbeitet. Verdis Arien erklangen live gesungen auf einer aus Briketts gebauten
Bühne in der Jahrhunderthalle Bochum.
Schlicht ein Musical war „The Temptation of St. Anthony“ –
ebenfalls eine der Kreationen. Sie lag in den Händen von Robert Wilson
und in der ihm eigenen Art schuf er für die kirchenähnliche Gebläsehalle
im Landschaftspark Duisburg-Nord ein farbenprächtiges Licht-Spektakel.
Im Mittelpunkt stand ein stimmgewaltiger Gospelchor, für den die Komponistin
Bernice Johnson Reagon neue Songs geschrieben hatte. Den roten Faden für
die Handlung und die Songtexte lieferte die Legende vom heiligen Antonius.
Naiv wirkte die darstellerische und tänzerische Seite – wer ein
gutes Gospelkonzert erwartet hatte, kam voll auf seine Kosten.
Viel komplexer dagegen die „Metamorphosen der Melancholie“, eine
Auseinandersetzung mit der 1621 erschienenen Schrift „Anatomy of Melancholy“
des englischen Gelehrten Robert Burton. Der Dirigent Thomas Hengelbrock mit
seinem experimentierfreudigen Balthasar-Neumann-Chor und -Ensemble hatte diese
Kreation für einen Kirchenraum in Essen entwickelt. Der Chor spielte
eine Studentenschar, die den Ausführungen ihres Dozenten aufmerksam lauschte.
Glänzend der Schauspieler Graham F. Valentine als kauziger „Doctor
Melancholicus“. Dazu passend Madrigale, Lamenti und Instrumentalwerke
aus dem 17. Jahrhundert. Thomas Hengelbrock hatte übrigens nur wenige
Tage zuvor Henry Purcells Oper „King Arthur“, ebenfalls halbszenisch,
aufgeführt. Was Hengelbrock mit seiner Sängerschar erarbeitet hatte,
begeisterte durch Originalität. Zweifellos einer der Höhepunkte
der Frühjahrssaison der RuhrTriennale. Mit großer Wirkung wurden
hier einfachste theatralische Mittel eingesetzt – ein Abend, der tief
bewegte. Grandios die Interpreten, die Instrumentalisten, der solistisch besetzte
Chor sowie die Sopranistin Simone Kermes.
Starke musikalische Interpretationen zeichneten auch die übrigen Produktionen
aus. Die „Kreationen“ oder beispielsweise das Oratorium „Saul“
mit einem exzellenten Solistenensemble und dem ChorWerkRuhr unter Frieder
Bernius.
Außergewöhnliche Schauspielleistungen gab es bei Theaterproduktionen
wie „Phèdre“ oder „Der seidene Schuh“. Die
großen Ideendramen sind es, die Gerard Mortier in Industriehallen inszenieren
lässt, das bürgerliche Drama findet er für diese Kulisse ungeeignet.
So faszinieren ihn Werke wie Mozarts „Zauberflöte“ oder Messiaens
„Saint Francois d’Assise“, deren Neudeutungen in der Bochumer
Jahrhunderthalle im September ihren ausgefallenen Rahmen finden werden. Flexibel
kann diese inzwischen zum Festspielhaus avancierte Halle immer wieder neue
Bühnenräume schaffen. Auch dies wie die künstlerische Qualität,
mag zum enorm gestiegenen Interesse an Karten beigetragen haben. „Ich
möchte auf keinen Fall populistisch sein“, sagt Gerard Mortier,
„aber ich bin wohl immer für populäre Kunst, das heißt,
dass Kunst sich bei einem größeren Bevölkerungskreis durchsetzt“.
Mit dem Mut zum Risiko, auch zum Scheitern, setzt der Intendant seine Ideen
um, er hat die Neugierde geweckt. Ob zum jetzigen Erfolg nach der umstrittenen
ersten Saison im Herbst 2002 auch die spritzige Werbekampagne beigetragen
hat, lässt sich schwer nachweisen, aber Sprüche wie „Heiliger
in Gebläsehalle verführt“, „Auferstehung durch Verdiarien“
oder „Frau von Ohrwurm gebissen“ haben auch bei einem jüngeren
Publikum für Aufmerksamkeit gesorgt. „Ecstasy in Mozartkugeln“!