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nmz 2003/09 | Seite 23
52. Jahrgang | September
Hochschule

Die Muttersprache aller Menschen sprechen

Vom Kongress des Bundesverbandes der Gesangspädagogen in Karlsruhe

Tische mit eingelassenen Notenpulten waren zur Zeit der Renaissance gängige Möbelstücke – nach dem Diner wurde hier die Madrigalkunst gepflegt. In solch sangesfreudigen Zeiten leben wir heute nicht mehr und dennoch scheint das Singen ein Grundbedürfnis des Menschen zu sein. Wir erleben den Gesang in Sportstadien und auf Popkonzerten als Ausdruck der Begeisterung, er verbindet die Massen, spornt an. Nicht umsonst bezeichnete einst der Geiger Yehudi Menuhin das Singen als die „Muttersprache aller Menschen”. Aber den Chören fehlt der Nachwuchs – viele Menschen glauben gar, sie könnten nicht singen. Grund genug also für den Bundesverband der Gesangspädagogen, sich auf seinem Jahreskongress einmal mit diesem Phänomen zu beschäftigen. „Von der Wiege bis zur Bahre – cantare” lautete deshalb das Motto der zahlreichen Veranstaltungen an der Karlsruher Musikhochschule.

Nicht nur in den Familien ist gemeinsames Singen aus der Mode gekommen, sondern anscheinend auch an öffentlichen Bildungsinstituten. „Aus der PISA- Studie werden die völlig falschen Konsequenzen gezogen“, befand der scheidende Präsident Martin Christian Vogel (Nachfolger wird Berthold Schmid aus Dortmund), „denn fatalerweise reduziert man an den Schulen nun ausgerechnet die musischen Fächer“. Dass Singen jedoch die geistige Flexibilität und außerdem die seelische Balance fördere, sei bekannt und eine Schweizer Studie belege, „dass es wichtig ist, gerade diese Schlüsselqualifikationen auszubilden, um auch in anderen Fächern erfolgreich zu sein.“

Die Misere beginnt bereits im Kindergarten. Dies zeigt eine Untersuchung des Erziehungswissenschaftlers und Musikpädagogen Peter Brünger (Katholische Universität Eichstätt-Ingolstadt), der Kindergartenfachkräfte aus Bayern und Niedersachsen befragte. Demnach ist bei den Kindern das Bedürfnis nach dem gemeinsamen Singen vorhanden, ebenso die Bereitschaft bei den Erzieherinnen – was jedoch fehlt, ist ein gemeinsames Grundrepertoire.“

„Außerdem“, registriert Brünger, „sind die Erzieherinnen meistens unerfahren im Umgang mit der eigenen Singstimme. Erfahrung ist aber unbedingt notwendig, um bei anderen Klangfehler oder gar Stimmstörungen zu erkennen.” Zudem funktioniere Singen über die Nachahmung, und wenn die Betreuungskraft Probleme in der Höhe habe, dann werde das Kind diese Probleme höchstwahrscheinlich auch haben. „Dem Gesang muss bei der Ausbildung von pädagogischen Fachkräften ein wesentlich höherer Stellenwert beigemessen werden,” so Brüngers Resümee, „denn die Betreuerinnen sollen in der Lage sein, bei Kindern die natürliche Singstimme verfügbar zu machen”. Zumal das Singen helfe, Sprachprobleme zu überwinden und manchmal sogar die besonders schüchternen Kinder aus der Reserve locken könne.

Singen und Emotion

Singen ist also ein wichtiges Ausdrucksmittel – ebenso für Jugendliche in ihrer persönlichen Entwicklung. Dies weiß auch Stimmbildnerin Brigitte Siebenkittel (Staatliche Jugendmusikschule Hamburg): Behutsam, aber kritisch arbeitet sie mit einigen Mädchen an Atmung, Haltung und Mundstellung. Sie erklärt ihnen bildhaft die technischen Details, lässt dabei die aktiven Körperpartien befühlen und hilft den jungen Sängerinnen, ein Raumgefühl zu entwickeln. Das Repertoire ist melodisch; Brigitte Siebenkittel legt viel Wert auf Legato-Bögen, auf Klangschönheit.

„In der Musik kann man Emotionen nacherleben und erfahrbar machen, und die Technik hilft, den eigenen Körper kennenzulernen.” Siebenkittel beobachtet, dass Jugendliche, die regelmäßig singen, erstaunlich selbstbewusst seien. Der Freiburger Hochschuldozent Uli Führe, hauptsächlich in den Bereichen Improvisation und Stimmbildung tätig, geht bei seiner Jugendchorarbeit ebenfalls bildhaft zu Werke und verpackt seine Proben anschaulich in humorvolle Szenen aus dem Alltag der Jugendlichen. Er wählt vor allem Popularmusik – zum Beispiel Jazzkanons –, „denn diese Musik ist näher an der Naturstimme; Kunstgesang irritiert die Jugendlichen oftmals.“ Uli Führe demonstriert seine Arbeit an den Kongressteilnehmern – und dabei fällt auf, dass klassisch ausgebildete Sänger mit dem Popgesang oft Schwierigkeiten haben. Einfache Ethno-Motive eignen sich jedoch besonders gut für Jungendchöre, weil man sie bequem variieren und in jazzige Arrangements einbauen kann und weil sie den Geschmack der jungen Leute treffen. Lage und Tonumfang sind zudem ungefährlich für Jugendliche im Stimmbruch. Dieser Ansicht ist Michael Fuchs (Leipzig), ehemaliger Sänger des Thomanerchores und nun unter anderem Facharzt an der Abteilung für Phoniatrie der Leipziger Universitätsklinik. Er rät nachdrücklich zur Schonung während der Mutation – dies hängt aber in erster Linie von den Aktivitäten eines Chores ab. Zudem sei Einzelunterricht sinnvoll, da im Chor die Kontrolle über die eigene Stimme fehle und bei Störungen sollte ein Phoniater zu Rate gezogen werden. „Auch das soziale Umfeld und die Rolle in der Familie muss man berücksichtigen”, so Fuchs, „manchmal forcieren die Heranwachsenden in der Tiefe, um cool und männlich zu wirken”.

Schicksal in Rachen greifen

Der bewusste Umgang mit der Stimme bewirkt auch im Seniorenalter einiges: Zwar sei man nicht in der Lage, dem „Schicksal in den Rachen zu greifen”, so erläutert Wolfram Seidner (Charité Berlin). Die stimmlichen Veränderungen lassen sich demnach durch Medikamente nicht hinauszögern – wohl aber kann man ihnen durch gesunde Lebensweise und einen pfleglichen Umgang mit dem Stimmorgan entgegenwirken, wie eine Befragung unter Berufssängern zwischen 45 und 85 zeigt.

Und der Musikjournalist Michael Stegemann (Dortmund) demonstriert anhand von Tonbeispielen, wie sich die Stimmen großer Interpret/-innen im Laufe ihres Künstlerlebens verändert haben, wie sie trotz extremer Belastung zum Teil bis ins hohe Alter leistungsfähig geblieben sind; er berichtet aber auch von tragischen Fällen, bei denen Sänger Opfer ihrer eigenen Karriere wurden, weil sie sich entweder durch Medien und Plattenindustrie verheizen ließen oder zum falschen Repertoire gegriffen haben. Geschulte Einzelstimmen tragen zweifellos zu einer Verbesserung des Klangbilds im Chor bei. Offenbar erreicht man dies aber auch, wenn man das Gehör des Einzelnen für Gesamtklang sensibilisiert: Wie harmoniert die eigene Stimme mit der Stimme des Nachbarn? Die Stimmbildnerin Marianne Spiecker-Henke (Hamburg) und der Physiker Heinz Stolze (Darmstadt) zeigen anhand von Vokal-Übungen – wobei immer zwei Kursteilnehmer gleichzeitig singen –, dass sich die Stimmen je nach Helligkeit des Vokals besser oder schlechter mischen; hier spielen Teiltöne eine Rolle. Bei entsprechenden „Nachbesserungen” gelingt jedoch eine deutliche Veränderung des Zusammenklangs.

Singen hat jedoch nicht nur mit der Beanspruchung des Stimmorgans, der körperlichen Arbeit und einem feinem Gehör zu tun, sondern auch mit einem gewissen Urvertrauen gegenüber dem eigenen Körper, der Fähigkeit des Loslassens – also einer gesunden Balance zwischen Aktivität und Passivität. Um so erfreulicher deshalb, dass auf dem Kongress auch ein Kurs zur Rhythmusmeditation Ta Ke Ti Na angeboten wurde. Der Name leitet sich ab aus festgelegten Silben, die als Bausteine für rhythmische Folgen (aus dem asiatischen und afrikanischen Kulturraum) dienen. Über dem gleichbleibend ruhigen Rhythmus einer Basstrommel baut Kursleiterin Birgit Hübner (Heidelberg) eine einfache Melodie auf, die zuerst von der Gruppe nachgesungen, durch rhythmisches Klatschen begleitet und dann nach und nach variiert wird: Im Grunde ist dies die Basis der Improvisation, aber im Rahmen eines gemeinsamen Pulses. Fällt jemand aus der Gruppe heraus, wird er von den anderen aufgefangen. Birgit Hübner sieht darin „eine Möglichkeit, Stress und Irritationen abzubauen”, denn hier, so berichten auch Teilnehmer, „ergibt sich allmählich ein gesundes Gleichgewicht aus bewusster Aktion und intuitivem Handeln”. Der ganze Körper ist das Instrument – wie bei jeder Form des Singens.

Cantare – bezaubern

Wer mit der Singstimme umgehen kann, besitzt die wertvolle Gabe, andere Menschen zu berühren – nicht umsonst heißt „cantare” auch „bezaubern”. Dies versuchen prominente Gesangspädagogen wie Kammersängerin Hilde Zadek und Thomas Quasthoff angesichts ihres eigenen reichen und erfüllten Künstlerlebens nachdrücklich ihren Studierenden zu vermitteln: Dass es ein Geschenk ist, gutes Material zur Verfügung zu haben und die Musik zum Beruf machen zu dürfen. Thomas Quasthoff vermisst oftmals diese Begeisterung: „Manchmal wird nur über Technik nachgedacht, aber man muss in den Gesichtern lesen können, was gerade in den Sängern vorgeht: Ich möchte als Hörer berührt und geschockt werden”. Er selbst sei aufgrund seiner körperlichen Benachteiligung in der „glücklichen Situation, keine Gestik zur Verfügung zu haben” und konzentriere sich deshalb auf den wahrhaftigen Ausdruck im Gesicht. Und er plädiert für einen unverkrampften Umgang mit der Popularmusik, denn „ein guter Sänger sollte dies genauso können.”

Viel Liebe und Einfühlungsvermögen, so betonen Zadek und Quasthoff, sei von Seiten der Gesangslehrer nötig, um einerseits die Ausdrucksfähigkeit bei den angehenden Bühnenprofis zu schulen, andererseits aber auch das Bewusstsein für die Gefahren einer schnellen Karriere. Ein Gesangspädagoge, darin ist man sich insgesamt einig, muss parallel zur Stimme den ganzen Menschen erkennen und entwickeln können.

Christine Gehringer

 

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