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nmz-archiv
nmz 2003/09 | Seite 11
52. Jahrgang | September
Kulturpolitik
Ein Romantiker, der geflucht, gelitten und gelebt hat
Interview mit Nikolas Kerkenrath, Leiter der Bayer Kulturabteilung, über
die Spielzeit „Berlioz und seine Zeit“
Als einen „deutsch-französischen Künstlerdialog“ will
die Bayer Kulturabteilung ihren umfangreichen Spielplan verstanden wissen,
den sie in der Saison 2003/2004 dem 200. Geburtstag von Hector Berlioz widmet.
In Orchesterkonzerten, unter anderem mit den Dirigenten Lothar Zagrosek, Michel
Plasson, Sylvain Cambreling, John Nelson, Emmanuel Krivine und Roman Kofman,
präsentiert er – von den Opern abgesehen – einen Großteil
des Gesamtwerks des französischen Komponisten und setzt es in den musikgeschichtlichen
Kontext seiner Zeit, einen Kontext, der für Berlioz in besonderer Weise
von Deutschland geprägt war. Für die nmz sprach Juan Martin Koch
mit Nikolas Kerkenrath, dem Leiter der Bayer Kulturabteilung, über seine
Konzeption.
nmz: Ein Berlioz-Konzertzyklus in Deutschland: Das weckt
natürlich Assoziationen an die Erfolge, die der Komponist hier seit den
1840er-Jahren feierte. Inwieweit ist der französische Romantiker par
excellence auch ein deutsches Phänomen?
Nikolas
Kerkenrath, Leiter der Bayer Kulturabteilung. Foto: Bayer
Nikolas Kerkenrath: Die französische Romantik ist literarisch
ja ohne deutsches Zutun nicht denkbar, ob das nun Heine, Hölderlin oder
Goethe ist. Wenn man jetzt noch die Romantik dazu nimmt, die durch Shakespeare
verursacht wurde, dann kommt eine wunderbare europäische Mischung zustande,
aus der ein Berlioz entstehen konnte: Vergil, Shakespeare, Goethe, Gluck,
Beethoven, Weber, seine wichtigsten Einflüsse – alles keine Franzosen.
Er ist für mich bei allem Verwurzeltsein mit seiner Heimaterde kein französisches
Phänomen. Und was Deutschland betrifft, so ist die Hilfe von dort evident:
Sei es Liszt in Weimar oder Mendelssohn in Leipzig, der mit seiner Musik ja
wirklich nicht zurecht kam, aber so fair war, ihn dort seine Werke dirigieren
zu lassen. Heute aber ist Berlioz seit den großen „Sirs“
– vor allem Beecham und Davis, aber auch Norrington und Gardiner –
eher ein britisches Phänomen, aber kein deutsches.
nmz: Wo sehen Sie die Gründe dafür?
Kerkenrath: Liegt es daran, dass die großen deutschen
Musiker ihre Orientierung eher bei großen Deutschen suchen? Oder an
einer Unfähigkeit zur Emotion, wo Berlioz doch nun mal komponierte Emotion
pur ist? Er knallt von einem Extrem ins andere, ohne Übergang. Das ist
phänomenal und er ist vielen Komponisten haushoch überlegen in der
unglaublichen Fantasie, in der musikalischen Maßlosigkeit.
nmz: …die sich auch niederschlägt in Stücken,
die in die Schemata heutiger Konzertprogramme nicht so recht passen wollen…
Kerkenrath: …die aber passend gemacht werden könnten.
Schumanns Manfred-Ouvertüre mit „Harold in Italien“ zu kombinieren,
wäre banal, aber so etwas wie Gielen es gemacht hat, der vor Beethovens
Neunte Schönbergs „Überlebenden aus Warschau“ stellte
– ähnliche Konstellationen könnte man auf Berlioz wunderbar
übertragen.
nmz: Wie schlagen sich diese Überlegungen in Ihrem
Berlioz-Spielplan nieder?
Kerkenrath: Das Thema ist umrissen, es heißt „Berlioz
und seine Zeit“. Das ist, mit Verlaub, ein einfaches Thema. Eines, das
uns die Musikgeschichte schenkt; wo wir Dinge zueinander bringen können,
die manchmal zueinander gehören (manchmal gar nicht), aber eben in dieser
Zeit und zwar in diesem typischen deutsch-französischen Umfeld entstanden
sind. Entweder völlig eigenständig oder aber mit gegenseitigem oder
einseitigem Einfluss wie etwa im Falle der Wirkung von Berlioz’ „Romeo
und Julia“ auf Wagners „Tristan“, was wir im letzten Konzert
hörbar machen wollen, oder was die Bedeutung Glucks für Berlioz
betrifft: Das Lamento aus seinem „Orpheus“ und danach die Klage
des Orphée aus Berlioz’ Kantate. Die Programme werden allesamt
auf unseren Wunsch so gemacht, auch das Geburtstagskonzert am 11. Dezember
mit einer seiner ersten bedeutenden Kompositionen, „Scène héroique“,
der Hamlet-Musik „Tristia“ und – endlich einmal –
„Lélio“, der Fortsetzung der „Symphonie fantastique“:
Auf Deutsch, denn das Publikum soll hören, wie dieser Romantiker gelitten,
geflucht und gelebt hat.
nmz: Auch der Klavierzyklus ist in den Berlioz-Spielplan
integriert, obwohl Berlioz ja der Nicht-Pianist schlechthin ist…
Kerkenrath: Allerdings! Aber Liszt und Paris, das gehört
eben dazu. Was hat der für Berlioz getan und dann natürlich die
wunderbaren Transkriptionen, von denen Duchâble und Thibaudet etwas
spielen werden.
nmz: Sie widmen Ihren Zyklus dem 40. Jahrestag des Elysée-Vertrages.
Welche kulturpolitische Botschaft senden Sie damit aus?
Kerkenrath: Für mich ist Berlioz wieder so ein Fingerzeig
dafür, die Geschichte nicht zu vergessen. Gerade heute ist es in Europa
wichtig, dass gewachsene Beziehungen – und die deutsch-französische
ist seit Adenauer und de Gaulle eine solche – gepflegt werden und da
ist ein solcher Geburtstag natürlich ein wunderbarer Anlass, gerade auch
für den deutsch-französischen Kulturrat, der die Schirmherrschaft
für die Saison Berlioz übernommen hat. Die Texte, die Helene Harth
und Jacques Rigaud in unserem Programmbuch über die Kulturbeziehungen
geschrieben haben, unterstreichen unser Anliegen: „Berlioz und seine
Zeit“ soll kein Musikspielplan bleiben, er soll ein Kulturbeitrag für
heute sein. In einer Zeit, in der uns entweder das Gefühl ausgetrieben
oder in ganz gefährliche Richtungen gelenkt wird, tut es gut, sich auf
etwas so Ursprüngliches zu besinnen, wie Berlioz es ist.
Die umfangreiche Programmbroschüre zur Saison Berlioz, die am 7. und
8. September mit Konzerten der Jungen Deutschen Philharmonie und dem Orchestre
Français des Jeunes in Leverkusen eröffnet wird, kann bei der
Bayer Kulturabteilung angefordert werden. Sie dokumentiert auch die über
den Konzertzyklus hinausgehenden Aktivitäten: die Kooperation mit dem
Festival in Berlioz’ Geburtsstadt La Côte-Saint-André,
die Gedenktafel, die am Pariser Conservatoire angebracht werden wird sowie
einige Publikationen, darunter eine deutsche Ausgabe der „Memoiren“,
die im Herbst bei Hainholz erscheinen wird.