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nmz-archiv
nmz 2003/09 | Seite 8
52. Jahrgang | September
Kulturpolitik
Das langsame Ende der Ignoranten
Zum Dilemma des fehlenden Schulmusikunterrichtes
Ina (11) kommt in Düsseldorf in die Klasse 5 des Gymnasiums; große
Vorfreude und dann der Schock für Kind und Eltern: Nicht dass die Schulbücher
selbst bezahlt werden müssen – das kann man bei der derzeitigen
Haushaltslage der Kommunen noch verstehen –, sondern dass es in Klasse
5 und 6 keinen Musikunterricht gibt. Wenigstens hat sie noch privaten Klavierunterricht.
Karen und Markus aus Kiel kämpften bis zum Schluss darum, dass an ihrer
Schule ein Leistungskurs Musik in der gymnasialen Oberstufe eingerichtet wird.
Beide spielen im Landesjugendorchester und sind hochmotiviert; sie schaffen
es auch, die nötige Zahl der Interessierten zusammenzubringen, es gibt
auch einen Lehrer, der bereit ist, den Kurs zu unterrichten. Doch der Kurs
wird abgelehnt; er passt nicht zum Schulprofil. Vorschlag der Schulleitung:
Schulwechsel. Außerdem würden sie schon genug Musik in ihrer Freizeit
machen.
Gyner (15) hat in Hannover erfolgreich die Förderschule durchlaufen
und dann ihren Hauptschulabschluss bestanden. Bei der Entlassungsfeier stellt
sie fest, dass sie weder in ihrer Grundschulzeit noch auf ihrer jetzigen Schule
je eine einzige Stunde Musikunterricht hatte – wie ihre Mitschüler
auch. Keiner, weder Eltern oder Lehrer noch die Schulverwaltung nahmen daran
Anstoß, denn „es gibt doch keine Musiklehrer auf dem Markt“.
Eine Möglichkeit musikalischer Betätigung hat sich nur im Rahmen
der türkischen Tanzgruppe geboten.
Drei Beispiele, zufällig im letzten Jahr gesammelt, die deutlich erkennen
lassen: Musik in unseren Schulen spielt keine Rolle. Die Sonder- oder Förderschule
hat so gut wie keine Chance, aus dem Dilemma fast völlig fehlenden Musikunterrichtes
herauszukommen, die Grundschule versucht sich über die Runden zu retten,
indem sich wenigstens einige Lehrer bereit erklären, fachfremd zu unterrichten
– oft auf sich selbst gestellt und ohne jede Unterstützung durch
die Lehrerfortbildungsinstitute, weil auch dort das Fach Musik kaum noch eine
Rolle spielt. In den Haupt- und Realschulen sieht es etwas besser, aber alles
andere als gut aus: Immerhin erhalten dort nach einer Umfrage des Verbandes
Deutscher Schulmusiker (vds) immerhin noch knapp 40 Prozent Musikunterricht.
Und das Gymnasium ist in dieser trostlosen Lage noch am Besten versorgt: Im
Schnitt sind 64 Prozent des Unterrichts gemäß der Stundentafel
sichergestellt. Noch. Denn es kommt jetzt schlimmer; die Universitäten
und Musikhochschulen klagen über massiven Nachwuchsmangel (kein Wunder,
wenn es kaum Leistungskurse gibt), die Pensionierungswelle aber rollt an,
weil das Durchschnittsalter der Lehrer etwa 47 Jahre beträgt. Doch gerade
bei den Jüngeren ist das Fach Musik schlechter verteten als in der nachfolgenden
Generation.
Ignorante Politiker
Schuld an dieser Misere sind viele: Die ignoranten Politiker, die in den
„guten“ Jahren nicht daran gedacht haben, Absolventen der Hochschulen
und Universitäten auch einzustellen, die ignoranten Ausbildungsinstitutionen,
die kaum einen ernsthaften Versuch unternommen haben, die verkrusteten Ausbildungsgänge
der Lehrerbildung zu reformieren, die ignoranten Schulkonferenzen, die dem
Fach Musik auch dort, wo Schüler- und Eltern dies fordern, an ihren Schulen
kaum oder keinen durchgängigen Unterricht zugestanden, die ignoranten
Schulverwaltungen, die sinnvolle Fächerbesetzungen verhinderten zugunsten
eines diffusen Schlüs sels „Lehrer-Schüler-Relation“.
Aber auch ignorante Verbände, die sich nicht auf gemeinsame Strategien
einigen konnten, die nicht imstande waren zu sehen, dass das Haus bereits
brannte, während sie noch darüber stritten, wer das größere
Zimmer bekommen sollte. Und es gab und gibt ignorante (Musik-)Lehrer, denen
sowieso alles egal zu sein scheint. Es war die Ignoranz gegenüber einem
Phänomen, das sich nur schleichend ausbreitete, dessen Ergebnis sich
aber jetzt (in allen Bundesländern!) mehr oder weniger dramatisch abzeichnet:
Das Grundrecht auf musikalische Bildung ist im Musikland Deutschland nicht
gesichert, vielmehr entfernen wir uns mit großen Schritten von dem Ziel,
allen Kindern und Jugendlichen eine ästhetische Bildung zuteil werden
zu lassen.
Ungeduldige Visionäre
Doch – glücklicherweise – handelt es sich nicht um eine
totale Ignoranz. Es gab und gibt immer noch die aus der Mode gekommenen ungeduldigen
Visionäre in den Schulen, den Hochschulen, den Schulverwaltungen, die
es nicht ertragen können, dass etwas so ist, wie es ist, es gibt sie
noch, die Politiker, die noch nicht in ihrem durch den hoffnungslosen Alltag
geprägten Zynismus so zerstört sind, dass sie nur noch verwalten
statt zu gestalten.
Ganz gewiss gehört dazu der Bundespräsident, der mit seinem Fest
„Musik für Kinder“ am 9. September ein Signal setzt, das
bundesweit so etwas wie einen „Ruck durch die Gesellschaft“ bewirken
soll, der die Frage der musikalischen Bildung ins öffentliche Bewusstsein
rücken soll. Interessanterweise saßen ein Jahr lang die unterschiedlichsten
Kräfte im Bundespräsidialamt an einem Tisch: Stiftungen, Verbände,
Einzelpersonen, aber eben auch die Vertreter des Bundespräsidialamtes.
So hoch aufgehängt – das konnte nur gut gehen, denn für Eitelkeiten
war an diesem Ort kein Platz. Keine ignorante Bemerkung, kein Hochmut oder
eine Überheblichkeit, sondern nur der gemeinsame Wille, diesen symbolischen
Tag zu einem Erfolg werden zu lassen, der über das Ereignis selbst verweist:
Musikalische Bildung lohnt nicht nur, sie ist sogar unverzichtbar, für
das Schulklima ebenso wie die sozialen Erfahrungen des Einzelnen. Was dem
Bundespräsidenten besonders wichtig war: Es muss die ganze Breite musikalischer
Kultur vertreten sein – und nicht nur die so genannte klassische, die
immer noch in den Schulen nach einer neuen Umfrage mit etwa 74 Prozent vertreten
ist.
Der Deutsche Musikrat, nach der lähmenden Phase der Insolvenz inzwischen
wieder äußerst aktiv, entschied sich sehr schnell dazu, nach dem
Modell des Kongresses „Kinder und Musik“ im Jahre 2001 in Hannover
ein eintägiges Expertentreffen am Vortag in Berlin stattfinden zu lassen.
Eröffnet wird er mit einer Grundsatzrede des Bundespräsidenten Johannes
Rau zur Frage musikalischer Bildung in dieser Gesellschaft, anschließend
diskutieren Bernhard v. Loeffelholz, Thomas Stein, Klaus Meine und Fritz Pleitgen
über die Frage „Musik bewegt!?“
Anschließend werden in verschiedenen Panels zentrale Themen der aktuellen
kulturpolitischen Diskussion behandelt – bewusst mit dem Außenblick
verbunden und nicht fixiert auf Insidergespräche. Ob es um die kulturell
brennende Frage geht, wie wir in der Bildung dem Anspruch kultureller Orientierung
gerecht werden („Kulturelle Identität als Voraussetzung für
den interkulturellen Dialog?“) oder ob die Frage diskutiert wird, inwieweit
man damit rechnen kann, dass sich nicht nur der Instrumentalunterricht oder
die Musikvereine der Vermittlung von Musik verpflichtet wissen („Kann
man Musik vermitteln?“) –, stets geht es um übergreifende
Sichtweisen, die sich nicht aus der jeweiligen Eigenperspektive allein problematisieren
lassen.
„Wer verantwortet musikalische Bildung?“ und „Brauchen wir
Forschung im kulturpolitischen Alltag?“ – diese Panels haben eine
Aufgabe, die Gesamtverantwortung für die musikalische Bildung von Kindern
und Jugendlichen zu verdeutlichen. Von Martin Roth bis Klaus Meine, von Dieter
Gorny bis zu Albin Hänseroth haben alle Angefragten äußerst
bereitwillig zugesagt. Denn es brennt allen auf den Nägeln, den Schulen,
den Musikschulen, den Rundfunkanstalten, den Opernhäusern, den Chören,
ja sogar den vielen freien Trägern, die sich für den Nachwuchs im
rockmusikalischen Bereich engagieren.
Die Ignoranz früherer Zeiten weicht langsam aus den Gehirnen der Verantwortlichen,
die spät, aber vielleicht doch nicht zu spät, erkennen, wie sehr
alles mit allem zusammenhängt. Darum beginnt spätestens jetzt der
Kampf um das musikalische Network – und die Schlacht ist nicht verloren.