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nmz 2003/09 | Seite 1-2
52. Jahrgang | September
Leitartikel

Generation Kalt und die Schuld der Väter

Die Kinder von Microsoft und RTL zwischen Betriebs- und Wertesystemen · Von Michael Jenne

„Kinder ohne Musik“ – das sei „ein Schreckensbild, das im Interesse der Lebensfähigkeit unserer Gesellschaft nicht Wirklichkeit werden darf“, heißt es in der Ankündigung des vom Deutschen Musikrat für den 8. September in Berlin geplanten Kongresses unter dem Motto „Musik bewegt!?“. Aber besteht diese Gefahr denn überhaupt? Stehen Kinder nicht längst von Geburt an ständig unter Musik? Existiert in unserer Gesellschaft irgendjemand tatsächlich ohne Musik?

Die Frage kann eigentlich nicht lauten, ob Kinder – ebenso Jugendliche, Erwachsene oder Greise – unter Musikmangel leiden, sondern eher, ob sie vom Säuglingsalter an musikalisch falsch ernährt werden, ohne Vitamine und Nährstoffe, kontinuierlich durch klangliche Pommes mit Mayo gesättigt und deshalb immer mehr davon verlangend. Und zu fragen wäre, welche Schäden eine derartige falsche Ernährung bewirken kann beziehungsweise längst schon bewirkt.

Seit langem beklagen wir den anscheinend nicht mehr aufzuhaltenden Rückgang des Musikunterrichts in allen Schulzweigen, hätten aber, sollte er wieder überall im wöchentlichen Zweistundentakt durchgeführt werden, längst nicht genügend geeignete Lehrkräfte dafür. Gleichzeitig nehmen wir wahr, dass durch Kürzung öffentlicher Mittel das Unterrichtsangebot der Musikschulen reduziert wird; allein in Berlin sind dort in den letzten Jahren 10.000 (in Worten: zehntausend) Plätze gestrichen worden – mit einem lächerlich geringen Spareffekt. Alle, die mehr und mehr mit immer weniger Musikunterricht heranwachsen, sind deshalb nicht „Kinder ohne Musik“, aber sie sind jeder Art von musikalischem „fast food“ in ihrer Umwelt ohne jene Resistenz ausgeliefert, die sie durch eine qualifizierte Musikerziehung zugleich entwickeln könnten.

Der Chor derer, die solche Klagelieder seit vielen Jahren angestimmt haben, ist inzwischen kleiner und leiser geworden. Das hängt unter anderem damit zusammen, dass dieser Chor oder einzelne Solisten, manchen Gesang in ungeschickter Tonart anstimmend, oft als eine von Eigeninteressen motivierte Fachlobby wahrgenommen wurde, die nur nicht einsehen wollte, dass in Zeiten rasanten technologischen und sozialen Wandels auch traditionell behauptete Plätze im Bildungswesen für andere freigemacht werden müssen. Musik hat sich insofern argumentativ nicht behaupten und bildungspolitisch nicht durchsetzen können. Trotz mancher guter Reformansätze und Modellprojekte und trotz immer wieder herausragender Leistungen einzelner Pädagogen hat sie als allgemeines Lern- und Leistungsfach nicht überzeugt, nicht jenes Image des „Sahnehäubchens auf dem Kuchen, das man hinzunimmt, wenn es einem gut geht“ (Johannes Rau) zu überwinden vermocht.

Der schon zur Zeit der Curriculumdiskussion um 1970 überfällige Paradigmenwechsel, in Raus anschaulichem Bild weg vom Sahnehäubchen und hin zur „Hefe, ohne die man Steine bekommt statt Brot“, war zu krass, als dass er sich im Bewusstsein einer zunehmend technologieorientierten Gesellschaft hätte durchsetzen können. Und viele von denen, die sich um Reformen von Musik im Unterricht bemühten, erkannten dabei nicht, dass sie eigentlich mit Vertretern anderer Fächer hätten koalieren sollen, jenen nämlich, die sich in der Vermittlung von Sprache und Literatur, Religion und Philosophie von der tatsächlich obsoleten Vorstellung eines tradierten Bildungskanons getrennt hatten, diese Disziplinen aber für unerlässlich erachteten für die Erziehung kritisch denkender und differenziert empfindender Individuen in einer humanen, demokratischen Gesellschaft.

Inzwischen sind drei Jahrzehnte verstrichen, mindestens zwei Generationen von Kindern haben allein in dieser Zeit Schule und Ausbildung von unten bis oben durchlaufen. Die Welt hat sich in dieser Zeit so radikal verändert wie nie zuvor in einer solchen Zeitspanne, und nachdem wir uns in Deutschland einen Moment lang der Naivität hingaben zu glauben, „alles wird gut“, sehen wir uns nun vor größeren gesellschaftlichen Problemen denn je. Aus den Jahrgängen, die um 1970 geboren wurden oder Kindergarten und Grundschule besuchten, sind die meisten im Berufsleben angekommen, sofern sie dies wollten und konnten, viele erziehen eigene, als Pädagogen auch fremde Kinder, und manche sind bereits in leitende Positionen unterschiedlicher Branchen vorgedrungen, auch in den Parteien, in Parlamenten und Regierungsämtern und in der öffentlichen Verwaltung, im Bildungswesen und natürlich in den Medien.

Der Ton, den sie dort angeben, ist freilich, wen sollte es wundern, nicht selten schrill. Da hört man unsaubere Intervalle, undeutliche Artikulation, unbedachte Phrasierungen, häufig auch ein Repertoire, das Kopfschütteln auslöst. Haben die denn von Tuten und Blasen keine Ahnung? Nun, so einfach ist die Sache nicht. Die heute 25- bis 40-Jährigen haben im Durchschnitt gewiss nicht weniger gelernt und sind nicht weniger fleißig als ihre Eltern und Großeltern. Allerdings hatten sie rasante technologische Entwicklungen im Blick, sie wollten und mussten auch früh mit elektronischen Geräten umgehen, die ihre Kinder jetzt bereits vor dem Schulbeginn wie selbstverständlich beherrschen. Emotionale Intelligenz fördert der Umgang mit diesen Geräten allerdings kaum. Wie es scheint, hat er vielmehr einen gegenläufigen Trend verstärkt: Was größeren Teilen der Juniorengeneration abgeht, ist Kultur im umfassenden Sinne – die Fähigkeit zur Reflexion und Kontemplation, die Orientierung an Wertvorstellungen, die sich unter dem Begriff „Humanitas“ zusammenfassen ließen.

Was schon dieser Generation nämlich zu wenig vermittelt wurde, ist differenzierte Empfindungs- und Ausdrucksfähigkeit, ist die Möglichkeit und auch das subjektive Bedürfnis, aktuelle Informationen und Eindrücke aller Art zu werten, denn dazu bedarf es im Erziehungs- und Bildungsprozess etablierter intellektueller, ethischer und ästhetischer Maßstäbe. Diese Maßstäbe aber müssen besonders in den humanwissenschaftlichen und künstlerischen Disziplinen vermittelt werden (zumal wir uns auf das bildungsbürgerliche Elternhaus verlassen können noch sollten). Anderenfalls mag die Gesellschaft technisch auf der Höhe der Zeit sein, sie pendelt sich geistig und sensitiv auf der Höhe der Bild-Zeitung ein.

So leben wir denn jetzt schon in einer Kulturgesellschaft, in der Typen wie Dieter Bohlen oder Stefan Effenberg als Buchautoren mehr Furore machen als ehedem Günter Grass oder Heinrich Böll, nicht durch die Bedeutung ihrer Werke, sondern durch einen Medienrummel, dem sich keine Gazette und kein Sender verweigern mag; wir leben in einer Gesellschaft, deren Leitbildnachwuchs mit der Methode „Deutschland sucht den Superstar“ produziert wird, in der die ungestörte Religionsausübung zwar von der Verfassung garantiert ist, ein Afrikaner aber im Gespräch mit Zehntklässlern erst einmal den Unterschied zwischen Glauben und Aberglauben erklären muss und die Mehrzahl der Jugendlichen den Sinn des Osterfestes nicht mehr kennt (und entsprechend keine Ahnung hat, welches Libretto der Matthäus-Passion zugrunde liegt).

Wundert es da noch, wenn jugendliche Politiker einer namentlich christlichen Partei alten Menschen das Recht auf optimale Krankenversorgung absprechen und behaupten, „die Generation der Älteren konsumiert auf unsere Kosten“?

Giovanni di Lorenzo hat in diesem Zusammenhang bemerkt, verletzend an derartigen Äußerungen sei „die Ahnung von gesellschaftlicher Verrohung, die uns nicht nur droht, sondern die offensichtlich begonnen hat“. Die gesellschaftliche Verrohung, von der natürlich auch die Zunahme von Vandalismus und Brutalität wie von anderen sinnlosen Stör- und Zerstörungsaktionen zeugt, hat zweifellos vielfältig miteinander verflochtene Ursachen. Einige liegen ebenso sicher, in der Art und Weise, wie wir miteinander kommunizieren, besonders aber, welches Gewicht wir der Ausprägung von Sensitivität, der Entwicklung innerer Erlebnisfähigkeit und der Differenzierung der Wahrnehmungs- und Ausdruckssysteme beimessen.

Dass Musik bewegt, werden alle Heranwachsenden bestätigen; die meisten beziehen heute diese Erfahrung freilich allein aus der Disco, die wenigsten auch aus Hörerlebnissen von Symphonie- und Kammerkonzerten oder gar der eigenen Mitwirkung in Chor- und Orchester-Arbeitsphasen. Worin der Unterschied der „Bewegung“ und ihrer jeweiligen Wirkung aber besteht, werden dummerweise nur die begreifen, die sie selbst erfahren haben und nachvollziehen können. Dazu zählen, nach ihren Vorlagen, Äußerungen und Beschlüssen zu urteilen, nurmehr wenige Entscheidungsträger in Politik, Kultur und Bildungswesen.

Welcher Stellenwert gerade der Musik – richtig verstanden und vermittelt – in dieser Gesellschaft zukommen könnte und sollte, das haben einige immerhin zu Protokoll gegeben: neben Johannes Rau und, ebenfalls viel zitiert, Bundesinnenminister Otto Schily (SPD) auch Rita Süßmuth und Heiner Geißler (beide CDU). Sie sind alle um die 70 und müssen sich vielleicht in absehbarer Zeit, sollte die Arthrose ihre Hüften befallen, die Implantation eines künstlichen Gelenks ihnen jedoch aus Kostengründen verweigert werden, mit der Gewissheit trösten, dass wenigstens Musik bewegt. Oder sollte der Kongress des Deutschen Musikrates und der unmittelbar folgende Projekttag „Musik für Kinder“ mit dem Bundespräsidenten endlich einen Ruck bewirken, der auch die „Generation unempfindsam“ erreicht?

Der Ruck wäre uns allen zu wünschen.

Michael Jenne

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