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nmz-archiv
nmz 2003/09 | Seite 6
52. Jahrgang | September
Musikwirtschaft
Verbindungen herstellen zwischen Utopien und Barrieren
Neue nmz-Serie Selbstmanagement für Musiker · Teil 1: Kreativitätstechniken
Wer als Teenager in einer Band oder in einem Orchester spielt, erfährt
frühzeitig, dass insbesondere in kleinen Ensembles alle Mitglieder kreative
Beiträge leisten müssen. Am Anfang wird meistens nach einem originellen
Bandnamen gesucht, bei ersten Erfolgen die Idee für ein Tournee-Plakat.
Später braucht die neue Platte ein Cover, eine Hitmelodie ihren Refrain
und der Agent ein paar persönliche Kontakte, auf die er aufbauen kann.
Der Musikalltag fordert schon von jungen Menschen rund um die Uhr kreative
Problemlösungen und die Ansprüche steigen mit zunehmender Professionalisierung.
Umso mehr erstaunt, dass selbst bei Profis über drei viertel aller bahnbrechenden
Ideen außerhalb der Arbeitszeit zustande kommen!
Die folgenden Erläuterungen zum aktuellen Stand der Gehirnforschung
und Übungen rund um das Thema Kreativitätstechnik sollen Ihren geistigen
Output beschleunigen helfen und negativen krankmachenden Stress („Hoffentlich
fällt mir was ein...“) in gesunden Stress („Ich kann mich
auf meinen Einfallsreichtum verlassen!“) verwandeln.
Jedem Menschen auf dem Planeten Erde stehen unterschiedslos rund 1.000.000.000.000
Gehirnzellen (Neuronen) zur freien Verfügung. Neuronen haben einen Zentralkörper
und viele lange Arme, die sich bis zu 1,5 Meter Länge durch das Gehirn
winden. Jedes Neuron kann pro Sekunde Hunderttausende von Impulsen empfangen
und senden. Die Managementtrainerin Vera F. Birkenbihl spricht aus, warum
viele Menschen trotz ihres fast unbegrenzten Gehirnpotentials an Kreativaufgaben
scheitern. Birkenbihl beschreibt den Kern unseres Problems als „Denkrinnen“,
in deren Bahnen die Gedanken auf Grund von Erfahrungen oder Gewohnheiten wie
Murmeln kreisen. Wir können uns diese Tendenz mit einem kleinen Experiment
verdeutlichen.
Übung 1: Das Neun-Punkte-Problem (5–10 Min.)
Zeichnen Sie sich neun Punkte in der dargestellten Art und Weise auf ein Blatt
Papier. Ihre Aufgabe wird es nun sein, diese neun Punkte mit vier Geraden
zu verbinden, die ohne abzusetzen gezogen werden müssen.
Grafik 1: Quelle: Watzlawik, P., Weakland, J.H., Fischer, R.: Lösungen.
Zur Theorie und Praxis menschlichen Wandels, Bern 1992
Die Lösung des Problems entsteht durch einen Kunstgriff, denn einige
Geraden müssen außerhalb des Quadrates verlaufen. Die Mehrzahl
der Betrachter geht implizit davon aus, dass die Geraden innerhalb des Quadrates
gezogen werden müssen, ihre Wahrnehmung führt zu dem Ergebnis, dass
keine Lösung möglich ist. Nur wenn die Annahmen, also die Regeln
hinterfragt werden, ist die Problemlösung (siehe Seite 8) relativ einfach.
Fast alle Menschen lernen bereits als Kleinkinder die Überbetonung
logischen Denkens. Unser Schulsystem wiederspricht wissenschaftlichen Erkenntnissen,
weil es die Aufteilung unseres Gehirns in zwei unterschiedliche, sich perfekt
ergänzende Hälften ignoriert.
Eine Vorlesung über die Kompositionstechnik Strawinskys würden
Musikstudenten überwiegend im Wortlaut mitzuschreiben versuchen. Diese
Methode setzt voll auf die Leistungen der linken Gehirnhälfte. Es verwundert
nicht, warum der halbe Hörsaal der Schlafkrankheit verfällt. Die
Studenten arbeiten unbewusst gegen ihre Gehirn. Ihre Notizen verschleiern
Schlüsselworte des Textes, ihre halbhypnotischen Handlungsrituale erschweren
das Erinnern.
Übung 2: Aufzeichnung unter Nutzung beider Gehirnhälften (15–20
Min.)
Nehmen Sie sich ein Blatt Papier und rekapitulieren Sie schriftlich das in
diesem Kapitel bisher erfahrene Wissen. Schauen Sie nicht in den Text, sondern
benutzen Sie Ihre Erinnerung! Malen Sie Bilder und Symbole, notieren Sie Schlüsselwörter,
Verbindungslinien, kurze Aufzählungen und einzelne Zitate, die Ihnen
in Erinnerung geblieben sind. Einem besonders fröhlichen Seminarteilnehmer
kam bei dieser Übung ein Tintenfisch als Bild für eine Gehirnzelle
in den Sinn. Auf seinem Papier skizzierte er die Kulisse des Beatles-Hits
„Octopus’s Garden“, in dem ein Tintenfischprofessor vor
vielen kleinen ineinander verschlungenen Tintenfischkindern an einer Kreidetafel
umherwabernde Schlüsselbegriffe einsammelt.
Der englische Gehirnforscher Tony Buzan vermochte bereits in den 60er- Jahren
aus den vorangegangenen Erkenntnissen eine ganz außergewöhnliche
Kreativitätstechnik zu gewinnen. „Mind Mapping“ berücksichtigt
die Tendenz unseres Gehirns assoziativ und aufbauend zu arbeiten, Verbindungen
herzustellen zwischen Utopien und Barrieren, privatem und beruflichem, Zukunft
und Vergangenheit, Konzepten und Gefühlen. Beim „Mind Mapping“
agiert und reagiert unser Gehirn mit Farben, Formen, Skizzen, Symbolen.
Übung 3: „Mind Mapping“ (Grundstufe, 5 Min.)
Nehmen Sie sich bitte ein Blatt Papier und zehn unterschiedliche Farbstifte
zur Hand. Schreiben Sie in die Mitte des waagerecht ausgebreiteten Blattes
den Begriff „Konzert“ und ziehen Sie einen schmalen Kreis darum.
Die weitere Aufgabenstellung besteht nun darin, zehn von diesem Kreis ausgehende
unterschiedlich farbige „Arme“ zu ziehen, auf denen jeweils eine
persönliche Assoziation zum Thema „Konzert“ in Großbuchstaben
aufgetragen wird (zum Beispiel „Lightshow“). Legen Sie keine Pause
ein, egal wie lächerlich Ihnen einzelne Begriffe scheinen mögen
(Beispiel siehe S. 8!).
Im nächsten Schritt machen wir uns die Kraft der Bilder, also der rechten
Gehirnhälfte, zu Diensten. Kennen Sie das? Sie begegnen auf einer Musikmesse
einem Menschen, dessen Gesicht sie sofort erkennen, aber ihnen fällt
partout weder der Name noch die berufliche Stellung ein? Das Wiedererkennen
von Bildern ist beim Menschen im wesentlichen perfekt ausgebildet und zwar
geradezu grenzenlos.
Übung 4: „Mind Mapping“ (Aufbaustufe, 15–20 Min.)
Nehmen Sie sich ein neues Blatt, in dessen Mitte sie den Begriff „Bühne“
auftragen. Ziehen Sie erneut zehn bunte „Arme“, auf die Sie diesmal
keine Begriffsassoziationen, sondern zehn Bilder oder Symbole aufmalen. Indem
wir nun Übung 3 und Übung 4 kombinieren und erweitern, nähern
wir uns dem Lernziel des Kapitels, der Einübung der erweiterten Kreativitätstechnik
des „Mind Mapping“. Die Abschlussübung wird darin bestehen,
eine konkrete Aufgabenstellung zu lösen und sich damit des Nutzens für
alltägliche Arbeiten bewusst zu werden. Um die Aufgabe für eine
breite Leserschaft interessant zu machen, biete ich die Wahl zwischen zwei
Themengebieten.
Übung 5a: „Mind Mapping“ Konzertpräsentation (30–40
Min.)
In die Mitte des Blatts kommt der Name Ihres nächsten Konzerttermins
(etwa „Beethovenhalle, 3. Dezember“). Schreiben Sie zehn Musiktitel,
die Sie voraussichtlich bei diesem Konzert ansagen werden, als erste Assoziationskette
auf. Hängen Sie an jeden Titel neue Assoziationen an. Was können
Sie zu diesem Titel erzählen (wann komponiert, Hintergrundgeschichte,
persönliche Erinnerungen etc.)? Malen Sie Leitbilder zu den Songs.
Übung 5b: „Mind Mapping“ Telefongespräch (20–30
Min.)
In die Mitte des Kreises kommt der Name eines besonders schwierigen bevorstehenden
Telefongesprächs (beispielsweise „Vertragsstreitigkeit Fa. Starr“).
Schreiben Sie zehn Assoziationen zu dem bevorstehenden Telefongespräch
auf, die sowohl Sach- als auch Gefühlsinhalte betreffen. Hängen
Sie nun an jede dieser Assoziationen neue spontane Gedanken und Gefühle
an, durchleben Sie das Telefongespräch in allen denkbaren Verläufen
und aus allen Blickwinkeln die Ihnen durch den Kopf schießen. Malen
Sie Leitbilder zu den Gesprächsverläufen (zum Beispiel enthaltene
Personen, Problemlösungen oder Gesichtsausdrücke). Selbst in den
Spitzenpositionen der Wirtschaft werden nur etwa ein Prozent aller Einfälle
durch Kreativitätstechniken produziert. Dabei steht uns mit „Mind
Mapping“ bereits heute eine einfache Technik zur Verfügung, mit
der sich eine Tournee vorbereiten, ein Raptext oder eine Rede schreiben und
eine PR-Aktion planen lässt.
Al Weckert
Literaturhinweise:
„Das Mind-Map-Buch. Die beste Methode zur Steigerung Ihres geistigen
Potenzials“, Tony Buzan, Ueberreuter 2002, € 24,90
„Kreativitätstechniken. Kreative Prozesse anstoßen -
Innovationen fördern. Die K7“, Hendrik Backerra, Hanser 2002,
€ 9,90
„Stroh im Kopf. Vom Gehirn-Besitzer zum Gehirn-Benutzer“,
Vera F. Birkenbihl, Ueberreuter 2002, € 8,90