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nmz-archiv
nmz 2003/09 | Seite 16
52. Jahrgang | September
Portrait
Treue zu sich selbst
Die Lachenmann-Schülerin Juliane Klein
„Drei Hände voll Sand“ steht auf dem Heft. Wenn man es
aufschlägt, sieht man eine komplett handgeschriebene Partitur, dessen
zierliche Noten mit Hunderten von Vorzeichen und musikalischen Ausdrücken
zu wetteifern scheinen, nicht selten gebremst von einer abrupten Pause. Wie
ein kleines Kunstwerk wirkt jene Notenschrift für Streichquartett, die
zweifelsohne kein Musiker einfach so vom Blatt abspielen kann. Was bitte bedeutet
pont tasto? Flautato molto in der Violinstimme?
Blickt man auf die letzte Seite des Heftes, liest man die rätselhaften
Namen weiterer Werke dieser Reihe, „Fünfgezackt in die Hand“
und „Aus der Wand die Rinne“ etwa oder „Die Dinge haben
keinen Rand“. Und über alldem ein Name, den man sich merken sollte:
Juliane Klein, die Komponistin jener Stücke.
Die
Komponistin Juliane Klein während des nmz-Interviews in München.
Foto: Andreas Kolb
Die 36-jährige Berlinerin hat sich hierzulande längst einen Namen
gemacht. Dutzende von Konzertreihen, Arbeits- und Werkstipendien sowie Aufführungen
in namhaften Kulturinstitutionen wie der Philharmonie Berlin oder der Musikhalle
Hamburg sind der Beweis dafür, dass eben das besagte Streichquartett
nicht nur ein wirres Durcheinander darstellt und sich auch all die anderen
Kompositionen in der Neuen Musik-Szene großer Beliebtheit erfreuen.
Aber von vorn: Man stelle sich ein kleines Mädchen vor, das heimlich
im Keller Klavier spielt. Ihre Leidenschaft, die Musik, ist ihr Geheimnis.
Aber wie das so ist mit Geheimnissen: Man kann sie nicht lange verbergen und
so wird sie 1978 auf die Spezialschule der Hochschule für Musik „Hanns
Eisler“ geschickt. Komponistin wolle sie werden, erzählt die damals
11-jährige selbstüberzeugt der Jury bei ihrer Aufnahmeprüfung
und kassiert damit lediglich ein ungläubiges Schmunzeln. Doch sie soll
Recht behalten: Nur ein Jahr später genießt sie ihren ersten Improvisations-
und Kompositionsunterricht von Herrmann Keller, bei dem sie auch erstmals
mit Neuer Musik, ihrem späteren Spezialgebiet, in Berührung kommt.
„Endlich konnte ich das aufschreiben, was ich möchte. Ich war nicht
an Takt- und Tonartvorschreibungen gebunden. Ich hatte alle Mittel zur Verfügung
und konnte die herausholen, die ich brauchte“, berichtet Klein, die
schon damals am Klavier im Keller zu „komponieren“ begonnen hatte.
Nach der Ausbildung an der Spezialschule folgt dort sogleich das Diplomstudium
Komposition, Tonsatz und Klavier – mit 22 Jahren ist sie selber Dozentin
für Tonsatz und stellt ihren ganz eigenen Lehrplan auf, bestehend aus
wöchentlichen Gruppenimprovisationen, Gedächtnisdiktaten, Objektbau
und dem chronologischen Lehren jährlich aufbauend von der Gregorianik
bis zur Neuen Musik. Aber damit nicht genug: 1987 gründet Klein zusammen
mit Thomas Bruns das „Kammerensemble Neue Musik Berlin“, das heute
zu den innovativsten der Szene gehört. Und weil Klein bei allem, was
sie tut so herrlich mutig und zielstrebig ist, ruft sie 1999 prompt ihren
eigenen Verlag „Edition Juliane Klein“ ins Leben.
Sie hat zweifellos ihren ganz besonderen Kompositionsstil, der genau das
erkennen lässt, was Helmut Lachenmann, bei dem sie 1993 ein dreijähriges
Aufbaustudium im Fach Komposition anfängt, an ihr so sehr schätzt:
Die Veränderungsbereitschaft und gleichzeitig Treue zu sich selbst. Veränderungsbereitschaft
muss groß geschrieben werden, angesichts der Tatsache, dass die weltoffene
junge Musikerin von 1993 bis 1995 auf anonyme Einladung hin in St. Petersburg
lebte, dort in Filmen mitspielte, im Rundfunk live improvisierte und experimentelle
16mm-Kinofilme begleitete. „Eine wunderbare Herausforderung“,
erzählt die dynamische Komponistin, die sich scheinbar von nichts und
niemanden einschüchtern lässt „völlig ins Ungewisse zu
gehen und unbearbeitetes Terrain zu betreten.“ Zwei Jahre später
erhält sie ein Stipendium der Cité Internationale des Arts in
Paris. Stipendien des Deutschen Musikrats, der Stadt Darmstadt, der Akademie
der Künste und des Kultursenats in Berlin sowie – ganz aktuell
– das Stipendium der Villa Massimo in Rom 2004 folgten.
In Kleins Musik spielen unterschwellige Aggressionen und Frustationen keine
Rolle, sie soll frei sein von Zwängen und Ärgernissen. „Wenn
etwas kräftig ist, dann aus sich heraus, nicht, weil es einen Gegenpol
gibt, gegen den ich kräftig bin. Oder wenn etwas ruhig ist, ist das tatsächlich
im umfassenden Sinne ruhig und nicht nur weil es im dramaturgischen Sinne
da jetzt ruhig sein muss.“ Anders in früheren Werken: Da habe sie
das Ausgeliefertsein der Hörer sehr genutzt, der Hörer wurde manchmal
regelrecht vor den Kopf geschlagen. Das wird dieser zwar heute auch noch,
aber eher im positiven Sinne: Die Vielseitig- und Vielschichtigkeit aller
möglichen und unmöglichen Mittel, unter anderem die Erweiterung
vom Ton über die Sprache bis hin zur Geste oder die fast unauffällige
Zahlenverarbeitung, in ihren Werken ist enorm und lädt den Hörer
zu unzähligen verschiedenen Assoziationen ein. So kommt es vor, dass
bei Kleins Komposition „gehen“ der eine Zuhörer Krieg und
Verzweiflung, der andere die große Ruhe und den inneren Frieden vor
Augen hat. „Die Ideen für meine Kompositionen sind wie Samen, die
eingesät sind und jederzeit anfangen können zu sprießen. Sie
sind alle da, man muss nur zugreifen“, so Klein, wenn sie den Ideenreichtum,
den ihre Werke ausstrahlen, erklärt. Und sie greift sichtlich oft zu,
lässt das Publikum ihren aufgesprossenen Samen aufmerksam lauschen und
in eine ganz neue Musik- und Konzertwelt eintauchen, etwa bei ihrer Flughafenoper
„Arabische Pferde“ oder der Tischoper „West-Zeit-Story“
(1,50 mal 4 Meter „Bühne“ reichen hier scheinbar aus), beide
in Hannover. Auf die kommenden Projekte, das Satellitenprojekt „HypOp“
der Staatsoper Unter den Linden mit hyperaktiven Kindern sowie das Siemens
Arts Programm mit dem Freiburger Barockorchester (wohlgemerkt ein Barockorchester!)
darf man besonders gespannt sein.
Dass sie als Komponistin in einer Männerdomäne agiert, empfindet
Klein nicht als negativ. Die Musiker seien zwar oftmals verblüfft über
eine Frau, die komponiert. Auch die Berliner Philharmoniker waren zunächst
skeptisch, aber die „habe sie dann aus der Reserve gelockt“. Sagt´s
und man glaubt es ihr sofort.