[an error occurred while processing this directive]
nmz-archiv
nmz 2003/09 | Seite 18
52. Jahrgang | September
Repertoire
Gotteslob
Die geistlichen Chorwerke von Mendelssohn Bartholdy
Begeistert von der hochrangigen Interpretation der geistlichen Chorwerke
und Messen Mozarts (siehe nmz 10/02 S. 20 und 5/03 S. 18) vertraute Pieter
van Winkel, Klassikmusik-Chef von „Brilliant Classics“, Nicol
Matt und seinem Chamber Choir of Europe eine Gesamteinspielung aller geistlichen
Chorwerke Mendelssohn Bartholdys an – ohne „Elias“, „Paulus“
und das „Christus“-Fragment. Gar nicht sparsam ist die Ausstattung
der Box: Jedes der zehn Kartonkuverts schmückt ein mehrfarbiges Bibel-Bildmotiv;
die Kassette enthält auf 64 Seiten alle Texte und eine profunde und überraschend
rezeptionskritische Einführung.
Mit rund zehn Stunden Spieldauer und einer dank der musikantischen Besessenheit
der Interpreten hinreißenden Darstellung aller Stücke erfreut diese
Gesamtaufnahme mit einer überwältigenden Fülle an Musik, welche
die seelische Entwicklung eines frommen Geistes und die musikalische eines
genialen Musikers in der Auseinandersetzung mit Musikgeschichte und Glaubensüberlieferung
im Übergang zwischen Barock und Romantik als spannendes Erlebnis mitvollziehen
lässt. Vieles ist auch für Kennerohren neu, einige Stücke kennt
man fast nur mit Orgel- und nicht mit der originalen Orchesterbegleitung.
Fünf CDs enthalten mit den Choral- und Psalmkantaten und den liturgischen
Vertonungen die orchesterbegleiteten Chorwerke, die restlichen die A-Capella-Chöre.
Das Niveau aller Sänger und des Orchesters ist gleichermaßen überragend
und die Aufnahmetechnik schlicht großartig, vor allem die Akustik des
Klosters Bronnbach im Taubertal überwältigend eingefangen –
ich war bei einigen Aufnahmen dabei und empfand die strenge und unerbitltiche
Genauigkeit des Leiters und die kritische Mitarbeit des Tonmeisters als erstaunlich,
aber auch entscheidend für den hohen Rang der Interpretation.
Die rund 100 Werke zeigen, wie intensiv sich Mendelssohn mit religiös
motivierten Kompositionen der Musikgeschichte befasst, ihre Struktur, ihren
Sinngehalt, ihre liturgische Einordnung in eigene Werke übernommen und
mit eigenen neuen Stilelementen verschmolzen hat. Das Spektrum reicht von
Renaissance-Chorwerken bis zur geistlichen Musik Bachs, Händels, Haydns
und Mozarts. Die eigenen Kompositionen zeigen die Früchte: Sperrig geriet
das „Tu es Petrus“ (CD 4), in der Nachahmung venezianischer Mehrchörigkeit
mit Nonen- und Septenreibungen für 16 Stimmen und Orchester gesetzt;
ebenfalls haarsträubend schwierig das „Hora est“ (CD 6) für
vier vierstimmige Chöre und Orgel – Nicol Matt und sein Tonmeister
fanden dafür eine originelle Choraufstellung: Die vier Chöre stehen
einander im Quadrat gegenüber, das Rundum-Mikrofon in der Mitte, was
zu einer verblüffend klaren Durchsichtigkeit aller 16 Stimmen führt!
Neben dem bekannten lateinischen „Te Deum à 8“ (CD 6) –
im polyphonen Bach-Stil – lässt ein „Te Deum à 4“
(CD 6) mit deutschem Text ebenso aufmerken wie das lateinische „Ave
Maria“ (CD 6) eines konvertierten Protestanten. Das d-Moll-Kyrie (CD
4) erinnert in seiner Dramatik an Mozarts Requiem. Die drei Psalmen op. 78
(CD 8) – hier nicht bedeutungsvoll überfrachtet, sondern sehr durchsichtig
gestaltet – lassen Bruckners d-Moll-Messe vorausahnen. Klangfarbenprächtig
der Vespergesang „Adspice Domine“ (CD 10) für Soli, Männerchor
und zwei obligate Streichinstrumente (!), nämlich Cello und Kontrabass,
ein ungemein schweres Stück; wie der „Trauergesang“ op. 116
(CD 10) ist dies eine Ersteinspielung. Das „Jube Domne“ (CD 9)
mit seiner romantischen Grundstimmung schließt den Kreis der Vorbilder.
Zu den „Schlagern“ gehört der 42. Psalm „Wie der
Hirsch“ (CD 1) mit seinem wunderschönen Sopransolo. In Melodie
und Faktur attraktiv ist der 114. Psalm „Da Israel aus Ägypten
zog“ (CD 2), wo das Fagott im 2. Satz Wellen wogen und Berge hüpfen
lässt. Der Hymne op. 96 für Altsolo, Chor und Orchester ist hier
die Schlussfuge angefügt, die sonst meist fehlt. Mit inniger Schönheit
ergreift das Solistenquartett in „Lauda Sion“ op. 73 (CD 4).