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nmz-archiv
nmz 2003/09 | Seite 21
52. Jahrgang | September
Bücher
Das interaktive Geschehen der präverbalen Zeit
Psychoanalyse und das Unbewusste in der Musik · Zwei neue Bücher
zum Thema
Bernd Oberhoff (Hg.): Psychoanalyse und Musik.
Eine Bestandsaufnahme, Imago Psychosozial-Verlag, Gießen
2002, 510 S., Ill., Notenbeispiele, € 36,00, ISBN 3-89806-145-0.
Bernd Oberhoff (Hg.): Das Unbewusste in der Musik,
Imago Psychosozial-Verlag, Gießen 2002, 136 S., Notenbeispiele,
€ 19,90, ISBN 3-89806-180-9
In seinem 2002 erschienen Band „Psychoanalyse und Musik“ systematisiert
Oberhoff das psychoanalytische Nachdenken über Musik anhand eines Zeitrasters.
Dem zufolge lassen sich drei mehr oder minder zeitlich gebundene Perioden
festmachen. Die erste Periode umfasst den Zeitraum von 1910 bis 1950. Grundgedanke
der Arbeiten dieser Zeit bildet die sexuelle Triebdynamik. Die Bewältigungsmechanismen
des Ichs dagegen sind die Grundlagen der Arbeiten der zweiten Periode, die
sich über den Zeitraum von 1950 bis 1975 erstreckt. Von 1975 bis heute
stehen „die präverbalen Kommunikationsprozesse der frühen
Mutter-Kind-Dyade“ (S. 10) im Vordergrund.
Nach Oberhoff weisen die Arbeiten der ersten Periode auf die Verbindung von
Körper und Musik als „einen wesentlichen Aspekt der Musik hin.“
Damit schließen sie an Freud an, der in dem frühen Ich in erster
Linie ein Körper-Ich sah. Ebenfalls kennzeichnend ist, dass die entsprechenden
Phänomene den Autoren in erster Linie an anderen Personen (Patienten,
Künstlern et cetera), nicht jedoch an sich selbst auffielen.
Signifikant für die zweite Periode ist eine (vorübergehende) Abwendung
von den unbewussten Triebkräften hin zu den „Organisationsformen
und Bewältigungsstrategien des Ichs“ (S. 15), um dann aber in einem
zweiten Schritt die Erkenntnisse um die Triebdynamik des Es (erneut) mit einzubeziehen.
Die in den 50-er Jahren aufkommende Bedeutung der (Gegen-) Übertragungsproblematik
hat sich nicht in eine „Aufmerksamkeit für das subjektive Erleben
von Musik niedergeschlagen“ (S. 18).
In der dritten Zeitspanne tritt der Forschungsbereich Psychoanalyse und
Musik aus dem amerikanischen Exil heraus und beginnt in Europa, und hier besonders
im deutschsprachigen Raum, wieder Fuß zu fassen. Zentrale Fragestellung
ist jetzt weniger die Auseinandersetzung um die Triebspannungen im Es oder
die Bewältigungsstrategien des Ichs als vielmehr das interaktive Geschehen
der präverbalen Zeit, wobei der Mutter-Kind-Dyade erhöhte Aufmerksamkeit
zukommt. Musik wird in diesem Zusammenhang gesehen „als Ausdruck einer
spezifischen affektiven Kommunikation“ (ebda.). Das überaus anregend
zu lesende Buch gibt einen umfassenden Einblick in den Themenbereich Psychoanalyse
und Musik. Darüber hinaus findet der interessierte Leser neben den Quellenverweisen
der im Buch vertretenen Abhandlungen eine nahezu vollständige Bibliographie
zum Themenbereich Psychoanalyse und Musik zur Vertiefung eigener Erkenntnisse.
Im Jahr 2001 fand das „1. Coesfelder Symposium Musik und Psyche“
statt, das sich dem „Unbewussten in der Musik“ widmete, gleichzeitig
der Titel der zugehörigen Publikation. Im Mittelpunkt stand die Frage
nach dem Seelischen in der Musik. Einen ersten Einblick in diese Richtung
bietet vor dem Hintergrund der Theorien Winnicotts der Beitrag von Tenbrink.
Einen besonderen Schwerpunkt legt dieser auf die Entwicklung der subjektiven
und objektiven Objektbildung, der Bedeutung der Musik, des Zusammenspiels
von Musikern und auch der Instrumentenwahl. Wer sich mit Winnicott beschäftigt
hat, weiß, dass in diesem Zusammenhang auch ganz wesentlich Gedanken
zur Kreativität und zum Spiel zum Tragen kommen. Oberhoff befasst sich
am Beispiel des 1. Satzes von Rachmaninoffs Klavierkonzert Nr. 3 theoretisch
und praktisch mit der Methodologie psychoanalytischer Musikanalyse. Aus der
Erkenntnis des Fehlens sowohl einer tiefenpsychologischen Theorie der Rezeption
oder Deutung von Musik als auch einer entwickelten Methodik zur Musikanalyse
entwickelt Oberhoff hier erste Ansätze, diese Defizite aufzuarbeiten
und im Weiteren praktisch anzuwenden.
Leikerts Beitrag beschäftigt sich mit der Musik in der Persönlichkeits-
und der Abwehrorganisation eines frühgestörten Patienten. Ansatzpunkt
für diese Falldarstellung ist die Bedeutung der Musik in der pränatalen
Entwicklung, aus der heraus sich auch ihre postnatale kathartische Wirkung
ableiten lässt.
Ziel des Beitrags von Tüpker „Wo ist die Musik, wenn wir sie nicht
hören?“ ist es vorrangig, „Prozesse des Nachdenkens und des
Austausches über Erfahrungen mit der Musik in Gang zu setzen“ und
„Vorstellungen und Bilder zu entwickeln, was Musik – psychologisch
betrachtet – ist“ (S. 75). Schwierigkeiten bei der Beantwortung
der Frage, was Musik ist, nähert sie sich in verschiedenen Etappen ohne
letztlich das Phänomen Musik gänzlich fassen zu können. Sie
gestaltet einen Beziehungsraum, schafft „Übergänge und Verbindungen
[...] zwischen Unbewusstem und Bewusstsein, Körperlichem und Seelischem“
(ebda.).
In einem letzten Beitrag widmet sich Oberhoff der Frage, ob „Die doppelchörige
Motette ,Da pacem, Domine’ von Heinrich Schütz eine politische
oder eine psychologische Musik“ ist? Es handelt sich hier um Ergebnisse
eines Gruppenassoziationsexperiments, an dem sich insgesamt 47 Personen beteiligten.
Oberhoffs Verdienst besteht darin, dem Verhältnis von Psychoanalyse und
Musik neue Aktualität verliehen zu haben. Er und seine Mitstreiter begnügen
sich nicht damit, historisch bedeutsamen Wurzeln dieses Verhältnisses
nachzuspüren und diese aufzuzeigen; vielmehr gelingt es ihnen, psychoanalytischem
Denken in aktuellen Bezügen Bedeutung zu verleihen. Dem „3. Coesfelder
Symposium Musik und Psyche“, das am 13. und 14. September stattfinden
wird, kann man mit Spannung entgegen sehen.