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nmz-archiv
nmz 2003/09 | Seite 22
52. Jahrgang | September
Noten
Mit Pop-Melodien klassische Gitarre lernen
Eine neue Gitarrenschule bietet Flexibilität und stilistische Vielfalt
Michael Langer und Ferdinand Neges: PLAY GUITAR – Gitarrenschule
Teil 1, 80 Seiten, mit CD, € 17,90.
PLAY GUITAR – Gitarrenschule Teil 2, 80 Seiten,
mit CD, € 17,90, Doblinger Verlag, 2003.
Die Autoren dieser neuen Gitarrenschule aus dem Doblinger Verlag
haben sich bereits einen Namen gemacht. Michael Langer hat unter
anderem den Wettbewerb des „American Fingerstyle Guitar Festival“
gewonnen und leitet Ausbildungsklassen für klassische Gitarre
an den Konservatorien in Linz und Wien. Ferdinand Neges konzertierte
mit verschiedenen Kammermusik-Besetzungen wie den „Vienna
Guitar Players“ und ist außerdem als Komponist, Arrangeur
und Herausgeber tätig. Unabhängig voneinander haben die
beiden Gitarristen auch schon jeweils über ein halbes Dutzend
Spielhefte für Gitarre veröffentlicht. Bei ihrer Zusammenarbeit
für „Play Guitar“ hatten sie das Ziel, eine „neue,
umfassende Gitarrenschule“ vorzulegen, „die Bewährtes
mit Neuem auf didaktisch erprobte Weise verbindet.“
Die herausragende Neuerung des zweibändigen Lehrwerkes ist die Möglichkeit,
Apoyando und Tirando flexibel zu kombinieren. Wie allgemein üblich beginnen
die Schüler mit dem einstimmigen Melodiespiel und eignen sich dabei schrittweise
die Notenkenntnisse an. Nach dem Anschlag mit dem Daumen wird schon bald der
angelegte Wechselschlag (Apoyando-Technik) eingeführt. Sobald alle Stammtöne
in der ersten Lage bekannt sind (etwa zur Hälfte von Band 1) lässt
sich parallel dazu Band 2 verwenden, worin das Spiel ohne Anlegen (Tirando)
vermittelt wird. Der Zeitpunkt, ab dem Akkordzerlegungen sinnvoll sind, ist
je nach den Fähigkeiten der Schüler unterschiedlich und soll daher
frei gewählt werden können. Das Angebot, den Unterricht auf diese
Weise zu individualisieren, werden viele Lehrkräfte sicher dankbar aufgreifen.
Zu den Glanzpunkten der beiden Bände zählen die Abbildungen, mit
denen zum Beispiel die Anschlagstechniken der rechten Hand illustriert wurden.
Aus der Perspektive einer Kamera, die sich von innen auf das Schalloch richtet,
ist mit einer einzigartigen Klarheit zu erkennen, wie die Bewegungen bei Apoyando
und Tirando ablaufen. Ebenfalls hervorragend gelungen ist die bildliche Darstellung
von Daumenanschlag und Greifhand. Überdies wird das Dämpfen mit
rechter und linker Hand einprägsam demonstriert und systematisch in den
Unterricht einbezogen.
Bei der Auswahl der Melodien und Spielstücke wird ebenfalls Neues angekündigt.
Unter der Überschrift „96 neue Stücke“ wirbt Band 1
für „neu arrangiertes und komponiertes Spielmaterial in großer
stilistischer Vielfalt“. Werbung darf natürlich ein wenig übertreiben.
In Wirklichkeit handelt es sich bei gut zwei Dritteln, der als neu angepriesenen
96 Stücke um traditionelle Melodien wie „La Bergamasca“ aus
Italien oder „Molly Malone“ aus Irland, die lediglich mit einer
mehr oder weniger neuen Begleitstimme ausgestattet wurden. Diese Begleitung
ist in erster Linie für den Lehrer gedacht, es gibt aber auch etliche
Duos für zwei Schüler. Somit wird von Anfang an auf das Zusammenspiel
großer Wert gelegt. Als Musizierpartner können außerdem die
beigefügten CDs dienen, auf denen alle Stücke mit der vorgeschlagenen
Begleitung zu hören sind. Die zahlreichen Eigenkompositionen der Autoren
in beiden Bänden sind durchweg sehr ansprechend und können eindeutig
als Pluspunkte bei diesem Lehrwerk verbucht werden. Bereits die sorgfältig
gewählten Titel wie „Tanz der Bienen“ oder „Schon wieder
Montag“ dürften motivierend wirken. Eine ähnliche Sorgfalt
hätte man sich allerdings auch bei den Überschriften zu den überlieferten
Folklore-Melodien gewünscht. Wovon handelt wohl dieses „Cancion“
aus Spanien, dieses „Chanson“ aus Frankreich oder das „Lied
aus Ungarn“. Auch wenn als Vortragsangabe „gefühlvoll“,
„schwungvoll“ oder „gemächlich“ vermerkt ist,
wäre ein aussagekräftiger deutscher Titel und ein erklärender
Satz zum Inhalt solcher Lieder doch sehr willkommen. Auch Übersetzungen
englischsprachiger Titel fehlen völlig. Weiß wirklich jeder Gitarrenlehrer,
was ein „Walking Cane“ ist oder wer „Billie the Kid“
war? Solche Informationsmängel könnten vielleicht bei einer Neuauflage
durch einige zusätzliche Seiten mit Kommentaren zu Inhalt und Herkunft
der Lieder behoben werden. Es müsste ja nicht gleich alles so ausführlich
und fundiert erläutert werden wie in den wunderbaren Heften von Richard
Voss „Songs from America“ und „Made in America“ (beide
im Ricordi Verlag). Dass sie es auch besser können, zeigen die Autoren
immerhin schon in Band 2 durch kurze Bemerkungen zu den einzelnen Musik-Epochen
und deren Komponisten.
Trotz der erwähnten Informationsdefizite muss man Michael Langer und
Ferdinand Neges aber für die Auswahl der Traditionals auch Bewunderung
zollen. Sie haben es verstanden, in Band 1 einige attraktive Melodien aus
der kommerziellen Unterhaltungsmusik unterzubringen, ohne dass sie eine einzige
Abdrucksgenehmigung einholen mussten. Denn bekannte Songs von den „Beach
Boys“ oder „Boney M.“ stammen ursprünglich tatsächlich
aus der Folklore der Karibik. In Band 2 findet man neben Carcassi, Aguado
und Eigenkompositionen auch Akkordfolgen und Zupfmuster, die als Begleitung
zu berühmten Pop-Songs der 60er- und 70er-Jahre empfohlen werden, wobei
diese Lieder selbst gar nicht abgedruckt wurden. Auch wenn bei dem Bemühen,
„die stilistische Bandbreite des Gitarrenspiels“ schon Anfängern
zugänglich zu machen, die deutschsprachige Liedkultur (Volkslieder, Liedermacher,
Schlager) fast völlig ausgeblendet wurde, so möchte man dieser neuen
Gitarrenschule wegen des originellen und grundsoliden didaktischen Ansatzes
eine große Verbreitung wünschen.