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nmz-archiv
nmz 2003/09 | Seite 30
52. Jahrgang | September
ver.die
Fachgruppe Musik
Zoltán Kodály und sein Jahrhundertplan
Historisches und Gegenwärtiges über den ungarischen Musikunterricht,
Teil I · Von Mihály Ittzés
„Ungarn” ist das große Thema von „Kunst & Kultur”
im September, womit die kulturpolitische Zeitschrift der ver.di einen ersten
Schwerpunkt auf die kulturelle EU-Erweiterung setzt. Ungarische Künstler,
Wissenschaftler und Publizisten schreiben über die Kultur in ihrem Land.
Hier ein Beitrag über das Entstehen und den gegenwärtigen Stand
der ungarischen Schulmusik, die mit dem Namen Kodály verbunden ist.
Sind die Ungarn musikalischer als andere Völker? „Ziel des Volksschul-Musikunterrichts
ist es, die musikalischen Gefühle zu wecken und zu pflegen, das Hören
zu üben, die Taktsinne zu entwickeln, zur Förderung des Gemüts
beizutragen und ein wirkungsvolles Mittel zur Pflege religiöser und patriotischer
Gesinnung zu sein.” Fast genau 100 Jahre ist dieses Verdikt alt, mit
dem ganz sicher nicht Musikalität oder Amusisches in der Geschichte eines
Volkes erklärt werden kann. Immerhin stammt der Satz, der 1905 eine Richtlinie
aus dem Jahr 1877 ablöste, aus dem zweiten Lehrplan in Ungarn für
das Fach Musik. Bereits 1868 hatte der nationalliberale Reformpolitiker und
Schriftsteller József Eötvös in seiner Funktion als Minister
den Gesang in das erste Volksschulgesetz aufgenommen.
Dennoch wurde Musik in Ungarn nicht nach einer einheitlichen Methode unterrichtet.
Am verbreitetsten war die von dem Musikpädagogen István Bartalus
adaptierte Heinroth’sche Skalenmethode, die auf dem Ausbau der C-Dur-Tonleiter
basiert – zumeist mit gekünstelten Melodien. Der Lehrplan von 1925
modifizierte dieses Dilemma eigentlich nur. Als Ziel waren zwar „die
Aneignung der bleibenden ungarischen, weltlichen Lieder und religiösen
Gesänge und damit die Erweckung der Lust zum ungarischen Lied”
festgeschrieben, doch lag dazu kein entsprechendes Liedmaterial vor.
Zoltán Kodály, geboren 1882, kehrte 1905 in die Region seiner
Kindheit, in die Gegend um Galánta in der heutigen Slowakei, zurück.
1906 notierte er: „Wir erkennen die Grundschicht unserer Volksmusik,
auf die unsere Kultur gebaut werden könnte.” 1925 dann, nach seiner
ersten Volksmusikbearbeitung für einen Kinderchor, präzisierte er:
„Endgültige Erkenntnis, dass die Zukunft nur über unsere Kinder
zu gestalten ist. Zum besseren Musiker und besseren Ungarn gewordene Kinder
machen das bessere und ungarische Musik erschaffende und liebende Ungarn aus.”
Solche Gedanken lieferten freilich Angriffsflächen für Attacken
von allen möglichen Seiten. Mal wurde er als Sympathisant der Kommunisten
gebrandmarkt, mal als Nationalist oder seelenzerstörender Modernist.
Doch unbeirrbar hielt Kodály an seinen früh entwickelten Ideen
fest, wie er sie 1947 programmatisch zusammenfasste: „Ziel: ungarische
Musikkultur. Mittel: Verallgemeinerung des musikalischen Lesens und Schreibens
durch die Schule. Zugleich Weckung der ungarischen musikalischen Betrachtungsweise
zum Selbstbewusstsein in der Kunsterziehung ebenso wie zur Publikumserziehung.
Hebung des Musikgeschmacks der Ungarn, stetige Besserung und Entwicklung des
Ungarischen. Meisterwerke der Weltliteratur sollen Gemeingut werden und Menschen
jeglicher Ordnung, jeglichen Ranges erreichen.”
Lebensbedürfnis Musik
Als Lehrer der Budapester Musikakademie kannte Kodály den professionellen
Teil des Musikunterrichts gut. Die Akademie bildete Musiker aus, die weltbekannt
wurden, doch Einfluss auf die Publikumserziehung und die musikalische Bildung
breiter Schichten besaß sie nicht. Bis 1929 schuf Kodály deshalb
eine große Zahl von Kompositionen für Kinderchöre, die von
ehemaligen Schülern und von aufgeschlossenen Gesangslehrern popularisiert
wurden. Dank der Reformer begann fünf Jahre später in organisiertem
Rahmen und unter der Leitung von Lajos Bardos und anderen die bis heute lebendige
Chorbewegung „Singende Jugend”.
Ein Artikel Kodálys zum Kinderchorabend von 1929 fasste die künstlerische
und didaktische Bedeutung des Chorgesangs zusammen: „Es soll eine Gemeinschaft
erzogen werden, deren Lebensbedürfnis die anspruchsvolle Musik ist. Das
ungarische Publikum muss aus seiner musikalischen Anspruchslosigkeit geholt
werden. Und damit kann nur die Schule beginnen.”
Drei Komponenten der pädagogischen Konzeption gab es damals schon, einen
gesellschaftlichen und zwei musikalische Gesichtspunkte: 1. Die künstlerischen
Werte sind durch die Schule jedem zugänglich zu machen. 2. Der Gesang
ist das für jeden erreichbare schönste und kostengünstigste
Mittel, das besonders im Chorgesang erlebnishaft wirkt. 3. Die wertäquivalente
Stoffauswahl, wobei Vorrang die musikalische Muttersprache haben muss, die
sich in Volksliedern und Volksmusik spiegelt.
Als geeignetste Methode des Unterrichtens im musikalischen Lesen und Schreiben
erkannte Kodály die Solmisation (erstmals erwähnt im Nachwort
zum Heft „Bicinia Hungarica I” von 1937). Kodály hatte
ihre breite Anwendung als Movable Doh nach Curwen bei seinen zahlreichen Englandreisen
studieren können. Er sah darin ein auch für den ungarischen Volksmusikschatz
gut adaptierbares System. Doch die Anwebung setzte entsprechende Literatur
voraus, weshalb er zahlreiche Gesangsübungen schrieb und Buchstaben-Noten-Hefte
für den Gesang zusammenstellte.
60-jährig äußerte er sich dann auch noch zur Musikerziehung
im Kindergarten und schließlich, um 1950, formulierte er auf einer UNESCO-Konferenz
in Paris, dass man „mit der musikalischen Erziehung des Kindes neun
Monate vor seiner Geburt beginnen” müsse.
Wichtige Nebenaspekte
Zu den weniger bekannten und angewandten Aspekten der Kodály’schen
Erziehungskonzeption gehören seine Überlegungen zum Improvisieren
(1929) und zum Instrumentalunterricht mit einfachen Instrumenten (Flöte
und Xylophon); beim mehrstimmigen Gesang favorisierte er das Üben ohne
Klavier; für die Hörerziehung schienen ihm Live-Aufführungen
auch auf bescheidenem Niveau geeigneter als Musik auf Tonträgern; wichtiger
als theoretische und musikgeschichtliche Kenntnisse waren für ihn musikalische
Aktivitäten und damit verbundene Erlebnisse und Erfolge; für das
Herangehen an größere Kompositionen empfahl er anstelle ästhetischer
und programmatischer Erklärungen das musikalische Erfahren über
den Gesang einzelner Themen. (Als sich Anfang der 60er-Jahre die Schallplatte
in den Schulen durchgesetzt hatte und Musikhören ein offizieller Teil
des Unterrichts wurde, unterschied man fortan zwischen „Musik”
und „Gesang”.) Neben musikalischen Bewegungsspielen von kleinen
Kindern hielt Kodály den Volkstanz für wichtig, zudem sollten
Schulen nicht nur Turnhallen, sondern auch Schwimmbäder Haben (1929!).
Nach 1950 äußerte er sich zur Transferwirkung von Musik und betonte
neben der Erziehung zur Musik auch die Wichtigkeit der Erziehung mit Musik.
Für ideal hielt er eine Gesangsstunde täglich, mindesten jedoch
20 Minuten; ansonsten forderte er als Minimum zwei Gesangsstunden wöchentlich.
Schlüsselfigur einer erfolgreichen musikalischen Erziehung war jedoch
für ihn ein musikalisch und pädagogisch gut vorbereiteter, enthusiastischer
Lehrer.
Bereits Ende der 30er-Jahre wurden Teile des Konzepts in die Praxis umgesetzt.
Bartóks Chorwerke für junge Menschen waren 1936 erschienen und
das Gesangs-ABC, ein Reformlehrbuch von zwei Kodály-Schülern.
Die achtjährige Grundschule wurde gesetzlich festgeschrieben und trotz
der Kriegsjahre erhielt Kodály den Auftrag, eine Schulgesangssammlung
auf der Basis seiner jahrzehntelangen Volksmusikforschung zusammenzustellen.
Unter der Mitarbeit seines ehemaligen Schülers György Kerényi
entstand eine zweibändige Sammlung, die in der Mehrheit ungarische Kinderspiellieder
bis hin zu Balladen enthielt, daneben historische Kompositionen, volkstümliche
Lieder, Kirchenlieder sowie Lieder der finnisch-ungarischen Völker und
die der Nachbarn aus dem Karpatenbecken.
Auf der Grundlage dieser Schulliederbücher erarbeitete ein weiterer
Kodály-Schüler, Jenö Adám, eine Methodik sowie erste
Lehrbuchreihen, doch – nach 1948 erschienen – sie wurden rasch
wieder eingezogen, weil den Kommunisten religiöses Liedmaterial ein Dorn
im Auge war. Obwohl sie durch Bücher mit Liedern der Arbeiter- und Pionierbewegung
ersetzt wurden, dienen bis heute die „Gesangbücher nach Kodály-Adám”
als Ausgangspunkt für fast alle neuen Lehrbücher.
Antike und Sozialismus
Zweifellos trugen die zwei Pflichtmusikstunden innerhalb des demokratisierten,
einheitlichen Schulsystems (acht plus vier Jahre) samt einer qualifizierten
Fachlehrerausbildung zur Durchsetzung des Kodály-Konzepts und der Anwendung
der „Adám-Methode” bei. Doch das zentralisierte Anweisungssystem
führte auch zu Beschränkungen und zu einer Erstarrung. Kodály
hatte jedoch mehr im Sinn als die Solmisation, die unterstützenden Handzeichen,
das Primat des pentatonischen Liedmaterials und die Betonung des Gesangs,
mit dem seine Ideen heute identifiziert werden. Sein Ideal war die antike
griechische Erziehung.
Ideale sind das eine, die Wirklichkeit das andere: Das sozialistische Unterrichtswesen
betonte stets die Bildung der Massen, optimale Bedingungen dafür zu schaffen,
blieb es schuldig – wie übrigens alle Regierungen nach dem Systemwechsel.
Der Unterricht an den Mittelschulen fand auf noch schwierigerem Boden statt
als der in den Grundschulen. Es fehlte und fehlt an qualifizierten Gesangs-
und Musikpädagogen für den Fachunterricht. Für Kodály
bedeutete es einen ständigen Kampf – auch um die festgesetzte Stundenzahl
und gegen die Ideologisierung der Lieder. Zudem richtetet sich sein Einspruch
gegen die Flut von Unterhaltungsmusik, die natürlich vor den Schultüren
nicht halt machte.
Dennoch waren die 50er- und 60er-Jahre die Zeiten des Aufschwungs für
den Musikunterricht. Dieser Entwicklung und Kodálys nationalem und
internationalem Ruhm verdankt Ungarn die so genannten Gesangs- und Musikgrundschulen,
an denen wöchentlich vier bis sechs Gesangsstunden unterrichtet wurden.
Seit 1956 gab es dazu einen Ministerbeschluss, der den Einsatz von Fachlehrern
schon in der ersten Klasse regelte.
Als 1967 Kodály starb, existierten bereits mehr als 100 solcher Schulen,
in den 80er-Jahren war die Zahl auf mehr als 200 angewachsen. Weil sie dennoch
nur etwa zehn Prozent von allen Schulen ausmachen, hatten sie den Ruf von
„Eliteschulen”. Dem starken Interesse im Ausland dienten Sommeruniversitäten
und Seminare, zumal die Erfolge auch durch pädagogische Erhebungen belegt
sind, in denen die Schüler als kreativer, leistungsstärker und belastbarer
beschrieben wurden.