[an error occurred while processing this directive]
nmz-archiv
nmz 2003/10 | Seite 7
52. Jahrgang | Oktober
www.beckmesser.de
„Ich“
Nichts scheint so abgedroschen wie über das Ich zu reden.
Die Medien, von den Trash-Sendungen des Fernsehens bis zur Boulevardpresse,
sind voll von deklassierten Individuen, die in der Hoffnung auf
ein bisschen Aufmerksamkeit ihr bedeutungsloses Ego exhibitionistisch
ausbreiten, und auch viele Künstler und Schriftsteller sind
versucht, ihr kleinbürgerliches Ich zum Maß aller Dinge
zu machen. Der Einspruch dagegen gilt als politisch nicht korrekt
und provoziert den Vorwurf der Intoleranz oder Rückständigkeit.
Dass all diese Versuche einer Selbstvergewisserung und Identitätsfindung
nur die letzten Ausläufer einer jahrhundertelangen kulturellen
Entwicklung sind, gerät angesichts der geschichtsvergessenen
Medienwirklichkeit leicht aus dem Blickfeld. Im Zentrum dieser Entwicklung,
die mit Beginn der Neuzeit einsetzte, stand das selbstverantwortliche,
seine Menschenwürde erkämpfende Individuum. „Ich
denke, also bin ich“: Das war der Leitspruch des seine Autonomie
einklagenden Subjekts, das sein Handeln allein auf eine einsichtige
Vernunft gründete und sich zugleich von allen gesellschaftlichen,
religiösen und moralischen Zwängen zu befreien versuchte.
Aufklärung wurde das genannt.
Nach zwei Weltkriegen und angesichts der fortschreitenden Verwüstung
des Planeten darf man das Projekt Aufklärung, verstanden als
Befreiung des Ichs von vorgegebenen Zwängen, als gründlich
misslungen bezeichnen. Das moderne Individuum hat seinen eigenen
Forderungen nicht standgehalten und zelebriert sie, wo sie nicht
in reine Destruktion umschlagen, nur noch als komisches Ritual.
Was in den Medien und den Künsten heute noch als „Befreiung
des Ichs“ gefeiert wird, ist bestenfalls der triviale Epilog
zu einem großen Menschheitstraum der Vergangenheit.
In Anbetracht der Problematik war das Symposium zum Thema „Ich“,
das nun im Rahmen des Lucerne Festivals eine Reihe hochkarätiger
Referentinnen und Referenten versammelte, fraglos aktuell. In den
Beiträgen wurde der diffuse Ich-Begriff, der heute durch die
Köpfe geistert, radikal auseinander genommen. Wenn der Philosoph
Wilhelm Schmid am selbstsicheren Reden vom Ich eine gewisse Unverschämtheit
diagnostizierte, war das vielleicht etwas pointiert. Doch kaum widersprechen
kann man seiner Feststellung, dass das, was sich als „Ich“
versteht, im Grunde genommen gar nicht existiert. Es ist bloß
ein Schnittpunkt verschiedener Linien und kann sich als Ich nur
in Bezug auf einen anderen Schnittpunkt definieren.
Darin waren sich die Teilnehmer einig: Das Ich kann sich ohne
Du nicht konstituieren. Es ist eine soziale Kategorie. Klar kam
das auch in den Ausführungen der Londoner Autismus-Forscherin
Beate Hermelin zum Ausdruck, obwohl sie in ihren jahrelangen Untersuchungen
darauf stieß, dass es unter Autisten rätselhafte Fälle
von Sonderbegabungen gibt, in denen so etwas wie ein – von
der Umwelt völlig isoliertes – Ich existiert.
Auch der klangvolle Lehrsatz von Adorno, „Die Welt im Ich
gestalten, ist der Sinn des Lebens“, erscheint in diesem Licht
nur als schlappe Teilwahrheit, da er den intersubjektiven Aspekt
ausklammert. Darauf wies Ralf Dahrendorf hin, der als Gelehrter
klassischen Zuschnitts nicht nur der Wechselwirkung zwischen Ich
und Du, sondern auch zwischen Ich und Welt überhaupt entscheidendes
Gewicht beimisst. Anknüpfend an den Gedanken Goethes, vorwärts
schreitende Epochen seien objektiv, retrospektive subjektiv orientiert,
bezeichnete er das heutige übersteigerte Reden vom Ich als
Dekadenzphänomen, das vom verändernden Handeln abhalte.
Die Menschen, so Dahrendorf, kommen mit der ungeheuren Vervielfältigung
der Möglichkeiten, in denen sich ein potenzierter Freiheitsbegriff
manifestiert, nicht mehr zurecht. Gesellschaftliche und moralische
Bindungen sind verloren gegangen und der Prozess der Globalisierung
trägt vollends dazu bei, gewachsene Strukturen zu zerstören.
Dieser Zustand der Strukturlosigkeit, dem das heutige Ich schutzlos
preisgegeben ist, ermuntert zu Versuchen, Bindungen künstlich
wiederherzustellen. Mit finsteren Absichten, wie Dahrendorf argwöhnt:
Sie kommen im Priester- oder Militärgewand daher – und
wie man ergänzen darf: vielleicht auch mit dem lautstarken
Versprechen von Freiheit und Demokratie – und zielen auf eine
neue Diktatur. Dahrendorfs größte Sorge gilt denn auch
der Frage: Wie können wir ohne Einbuße an Freiheit unsere
Bürgergesellschaft so stärken, dass neue Bindungen entstehen?
Freiheit wurde bisher vorwiegend negativ als „Freiheit von“
verstanden: als Freiheit von Staat, Moral, Religion, Natur, Tradition,
Armut et cetera. Ein emanzipatorischer Freiheitsbegriff, der mit
Fortschritt konnotiert wird. „Das haben wir jetzt langsam
durchbuchstabiert“, sagte Wilhelm Schmid, „wir müssen
einen positiven Freiheitsbegriff finden.“
Wie Dahrendorf sieht er eher skeptisch in die nächste Zukunft;
er vermutet, dass das Ich noch lange auf unzumutbare Weise überfrachtet
wird, bis endlich die Einsicht wächst, dass nur solidarische
Strukturen zum Überleben taugen. Für ihn ist es deshalb
die vordringlichste Aufgabe der kommenden Jahre, die Einsicht in
die Notwendigkeit eines neuen, positiven Freiheitsbegriffs zu befördern
– der „Freiheit zu“. Ein schmerzhafter Prozess,
denn er kann nur auf Kosten des emanzipatorischen Freiheitsbegriffs,
der „Freiheit von“, gehen.
Einen Kontrapunkt zu solchen Überlegungen bildete der Vortrag
in Form einer Video-Performance der österreichischen Künstlerin
Elke Krystufek. Zu einigen gesellschaftskritischen Statements führte
sie Videos vor, die sie beim Entfernen der Schamhaare und beim Kotzen
ins Klo zeigen, und ihre Ich-Reflexion manifestiert sich in einem
unstillbaren Bedürfnis, vor der Kamera ihre Beine zu spreizen.
Als Vorbild ihrer vermutlich als Provokation gedachten, vom Publikum
mit eisernem Schweigen quittierten Selbstdarstellung schimmern die
Blutpisskack-Nummern der österreichischen Aktionskünstler
der sechziger Jahre durch, deren Losung es war, den Faschisten aus
dem Kleinbürger herauszukitzeln. Ein bisschen Jelinek’scher
Menschenhass und Selbstverachtung sind auch dabei.
Dass das arme Hascherl nur so die Aufmerksamkeit zu finden glaubt,
die es zu seinem Ich-Sein braucht, weckt über die Peinlichkeit
hinaus Mitleid. Dass hingegen im Ausstellungsbetrieb dieses nostalgische
Beispiel von expressionistischer Selbststilisierung eines Kleinbürger-Ichs
als vermeintlicher Tabubruch herumgereicht wird, ist ein Fall für
die öffentliche Diskussion. Denn er spricht nicht gerade für
die Sensibilität der Macher gegenüber den Zukunftsfragen,
die heute die etwas intelligenteren Köpfe beschäftigen.
Die Avantgarde hat wieder einmal einen ganz, ganz langen Bart.