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nmz-archiv
nmz 2003/10 | Seite 36
52. Jahrgang | Oktober
Oper & Konzert
Der günstige Peso verteilt die Chancen plötzlich neu
Lothar Zagrosek, Claudia Barainsky und die Junge Deutsche Philharmonie
auf Südamerika-Tournee
Wenn bei Gisela Timmermann im letzten Jahr das Telefon klingelte,
ging es meistens um das eine. Ja, musste sie dann versichern, wir
machen weiter, nein, das Engagement wird nicht platzen. Und dann
der Satz, der in Timmermanns Heimat selten zu hören war im
letzten Jahr: „Die Finanzierung ist gedeckt.“
Gisela Timmermann ist die Exekutivdirektorin des „Mozarteum
Argentino“ in Buenos Aires, des wichtigsten Konzertveranstalters
Südamerikas. Ausgerechnet im 50. Jahr seines Bestehens brach
um das Mozarteum herum wirtschaftlich alles zusammen. Argentinien
erlebte den nachhaltigsten Finanzkollaps seiner Geschichte, als
das Kunstgebilde „1 Peso = 1 Dollar“ nicht mehr zu halten
war und vor allem das luxuriöse Kulturleben der Kapitale Buenos
Aires mächtig auf Grund lief. Das Teatro Colón, eines
der imposantesten Opernhäuser der Welt, genannt die „Scala
Südamerikas“, stand quasi über Nacht zahlungsunfähig
da. Ja, man versuchte hier, die Aufführungsrechte für
einen längst geplanten „Wozzeck“ dem Musikverlag
Ricordi in einer der damals kursierenden Alternativwährungen
zu bezahlen.
Das Mozarteum dagegen, das seine Konzerte unter anderem auch im
Teatro Colón abhält, war eine relativ sichere Bank.
Bei diesen privatwirtschaftlich finanzierten Musikanbietern galt
schon immer der harte Dollar als die Standardwährung, tausend
Dollar kostet ein Abonnement. Vor zwei Jahren keine horrende Summe,
war doch Argentinien ein Hochpreisland, freilich ein künstlich
hoch gehaltenes. Heute, wo man Mignon-Steaks in 600-Gramm-Größe
schon für um die sechs Euro bekommt und einer der (angeblich
nur 20 Prozent) Arbeitslosen mit 60 Euro im Monat auskommen muss,
sind diese Konzerte allerdings Luxusinseln geworden. An Inselbewohnern
ist dabei wiewohl kein Mangel.
In die heiligste Halle Südamerikas
schaffen es sonst nur die großen Profiorchester: die
Junge Deutsche Philharmonie im Teatro Colón, Buenos
Aires. Foto: Junge Deutsche Philharmonie
Für die Kultur war die Peso-Entwertung der letzten Jahre aber
durchaus auch ein heilsamer Schock. Das Opernhaus Colón besinnt
sich wieder auf einheimische Talente, statt der üblichen Ausstattungsorgien
darf auch schon mal ein junger Künstler preisgünstig abstrakte
Bühnen gestalten und sogar neue, kleine Privat-Opernensembles
haben sich in Argentinien gegründet, gleich vier an der Zahl.
Auch das Mozarteum Argentino geht neue Wege, denn die Wiener oder
die New Yorker Philharmoniker sind für den Veranstalter momentan
auch nicht drin. Also sucht Gisela Timmermann nach jungen Musikern,
die neuen Wind in die erlauchte Gesellschaft bringen können.
Und sie fand solche Überraschungskandidaten in Frankfurt und
in Mainz: Diesen Sommer konnten sich die Junge Deutsche Philharmonie
und der Bachchor Mainz zum ersten Mal in den heiligsten Hallen zwischen
Rio de la Plata und Copacabana präsentieren, in Buenos Aires,
Rosario, Montevideo, in São Paulo und Rio de Janeiro.
Wenn ein Orchester den Zusatz „jung“ im Namen führt,
ist das in den Augen ihrer Colón-Gänger kein gutes Zeichen,
das war Direktorin Gisela Timmermann klar. Jugendorchester spielen
in Südamerika in der Regel auf Schulniveau – die Junge
Deutsche Philharmonie dagegen ist ein Eliteorchester ausschließlich
aus Musikstudenten und den meisten Mitgliedern kann man demnächst
in internationalen Profiorchestern wiederbegegnen. Ab nächstem
Jahr etwa sitzt der eine Trompeter im Gewandhausorchester, der andere
in dem der Oper Zürich.
Das Colón-Publikum jedenfalls war schwer irritiert ob der
Diskrepanz zwischen Erwartung und Wirklichkeit. Da spielen junge
deutsche Orchestermusiker in ihrem ehrwürdigen Haus und haben
noch nicht einmal einen Frack an – das übrigens aus Respekt
vor ihren Profikollegen, sagen die JDPhler. Selbst als zur Pause
die Sopranistin Claudia Barainsky eine furiose, enorm gut gelungene
Zerbinetta-Arie sang, blieb das Publikum reserviert.
Claudia Barainsky war noch nicht von der Bühne, da war das
Publikum auch schon verstummt und auf dem Weg ins Foyer. „Man
erwartet von Südländern immer Vulkanausbrüche“,
so erklärt sich der Dirigent und künstlerische Berater
der JDPh Lothar Zagrosek diese Reaktionen, „doch dafür
sind die Leute in Buenos Aires einfach zu cool.“ Nicht umsonst
wird die Stadt ja auch das „Paris Südamerikas“
genannt. Dass er etwas perplex war vom ersten Colón-Auftritt
der JDPh, gab auch der Kritiker der Zeitung La Nacion zu: Wenn man
die Filarmónica Joven de Alemania zum ersten Mal hört,
glaube man eines der großen internationalen Spitzenorchester
zu erleben, so schrieb er.
Dieses verblüffte Urteil schien sich dann allerdings herumgesprochen
zu haben, denn alle weiteren Konzerte in Argentinien, Uruguay und
Brasilien machten der alten südländischen Vulkantheorie
alle Ehre. Das beste Konzert, das er in dieser Mozarteum-Saison
gehört habe, schwärmte ein anderer Kritiker und im dort
üblichen Punkte-Ranking wurden die vollen fünf Sterne
vergeben. „Excelente!“, mehr geht nicht.
Für den Bachchor Mainz dagegen kam die Einladung einem Aufstieg
in eine ganz neue Klasse gleich. Eigentlich schien es geradezu vermessen,
was Ralf Otto seinem Chor – nach wie vor ein Laienchor –
mit ins Südamerika-Gepäck gelegt hatte: Sowohl Beethovens
„Missa solemnis“ als auch Bachs h-Moll-Messe, zwei Großwerke
der absolut obersten Schwierigkeitsstufe. Doch die 72 Sängerinnen
und Sänger, die sich aus dem 120-Köpfe-Chor für die
Reise qualifiziert hatten (etwa durch solistisches Vorsingen der
et vitam-Fuge der Missa solemnis, eine echte Reifeprüfung!),
meisterten die Aufgabe bemerkenswert.