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nmz-archiv
nmz 2003/10 | Seite 3
52. Jahrgang | Oktober
Feature
Ein junges Zweiglein aus der Lende des Baumes
Vor 75 Jahren starb der mährische Komponist Leoš Janácek
· Von Reinhard Schulz
Der so früh verstorbene kompositorische Querständer
Werner Pirchner erzählte einmal, dass er sich in eine Radiosendung
einschaltete, in der immer wieder Werke junger Komponisten zu hören
waren. Ein Stück für Bläser erklang und er freute
sich, dass der vermeintlich junge Zeitgenosse sich getraute, endlich
einmal Musik außerhalb des avantgardistischen Mainstreams,
dabei ganz originell und zutiefst musikalisch zu schreiben. Die
Überraschung bei der Absage war groß. Es war das Stück
„Mládi“ aus dem Jahr 1924 von Leoš Janácek,
der zur Zeit der Komposition 70 Jahre alt war.
Trotz des Irrtums traf die Beobachtung viel. Allein schon der Titel,
er bedeutet auf deutsch Jugend, zeigt nicht ein Werk des Rückblicks
an, sondern eines des Aufbruchs. Und die Techniken sind so kühn
und unverbraucht, dass sie auch am Ende des 20. Jahrhunderts noch
als modern gehört werden. Es verwundert deshalb auch nicht,
dass Janácek Anfang der 20er-Jahre führend zur tschechischen
Sektion der eben gegründeten Internationalen Gesellschaft für
Neue Musik angehörte. Der 70-Jährige war Vertreter der
neuen tschechischen Musik und fand sich unter Komponisten, die ein
bis zwei Generationen jünger waren, zum Beispiel Paul Hindemith
oder Anton Webern (übrigens schätzten sich Janácek
und Webern gegenseitig ganz außerordentlich, obwohl ihre musikalischen
Sprachmittel hörbar außeinanderklafften).
Dort, unter die kompositorische Jugend, gehörte Janácek
aber auch hin. In den letzten zehn Jahren seines Lebens, also, dies
als Trost für manch schon verzagend Hoffenden, im „Pensionsalter“,
entstand in einem enormen Schaffensschub ein Großteil seiner
wichtigsten Arbeiten (Janácek, geboren 1854 im mährischen
Ort Hukvaldi, starb vor 75 Jahren am 12. August 1928): darunter
die Opern „Die Ausflüge des Herrn Broucek“, „Kátja
Kabanová“, „Das schlaue Füchslein“,
„Die Sache Makropulos“ und „Aus einem Totenhaus“,
dazu die „Sinfonietta“ und die Tondichtung „Taras
Bulba“, die grandiose „Glagolitische Messe“, der
Liederzyklus „Tagebuch eines Verschollenen“ sowie ein
Großteil seiner Kammermusik (darunter die autobiographischen
zwei Streichquartette).
Damals schrieb Janácek: „Ich habe den Eindruck, als
sei mir in meinem letzten Werk, in der Sinfonietta, am besten gelungen,
mich so dicht wie nur möglich dem Gemüt des schlichten
Menschen anzuschmiegen. Auf diesem Weg möchte ich weitergehen.
Obwohl ich bei Jahren bin, beginnt, so will mir scheinen, in meinem
Schaffen ein neues Äderchen, ein neues Zweiglein zu wachsen.
Wie an den vier- oder fünfhundertjährigen Hukvalder Bäumen:
Man schaut hin und aus der Lende des Baumes wächst ein junges
Zweiglein hervor. Meine letzte schöpferische Periode –
die ist so ein neuer Ausbruch einer Seele, die mit der übrigen
Welt fertig ist und dem schlichten tschechischen Menschen so nahe
wie nur möglich sein will.“
Leben, ein emphatischer Begriff davon, individuell erfüllt,
zugleich aber letztliche existenzielle Grundlage, darum kreist jede
musikalische Aussage Janáceks. Noch kurz vor seinem Tode
hatte er geäußert: „Das Leben vor allem. Immer
die ewige Jugend. Das Leben ist jung. Ich fürchte mich nicht
zu leben, ich lebe furchtbar gerne.“ Seine Musik ist Aufschrei,
ist bis in die letzten Fasern Gier nach Leben, das dem Tod abgerungen
wird: blutig und unerbittlich. Dieses immer wieder An-den-existenziellen-Rand-Gehen
ist ästhetischer Auftrag für Janácek. In einem
Brief an Max Brod, den großen tschechischen Feuilletonisten
(Freundschaft zu Franz Kafka wie zu Janácek) schrieb er 1924:
„Ein Mensch schwatzte vor mir, nur der reine Ton bedeute etwas
in der Musik. Und ich sage, dass er gar nichts bedeutet, solange
er nicht im Leben, im Blut, in der Umwelt steckt. Sonst ist er ein
Spielzeug, das keinen Wert hat.“
Notenskizze der Fanfaren
aus der „Sinfonietta“
Der Ton muss im Leben, im Blut stecken. Darin erteilt Janácek
seinen Auftrag an das künstlerische Schaffen der Zukunft. Es
ist durchaus kein einfacher Auftrag, erfordert letzte Hingabe, Emphase
und Bescheidenheit zugleich. Er meint, dass kein Ton, keine musikalische
Phrase geschrieben werden darf, die nicht durch das Purgatorium
der menschlichen Hilfeschreie gegen das Fatum gegangen sind. Über
viele Jahrzehnte hat Janácek mit einem Notizbuch bewaffnet
Sprechmelodien gesammelt – ob es sich nun um eine Äußerung
einer Bäuerin am Dorfplatz handelte, um das Schelten eines
Kindes, um militärische Anweisungen auf dem Appellplatz, um
einen Streit zwischen einem Paar oder auch um einen wissenschaftlichen
Vortrag. Janácek notierte alles – und auf wundersame
Weise bekamen dadurch die einfachen Wendungen eine zweite, tiefere
Existenz. Ein Beispiel: zwei Frauen, wartend am Bahnsteig. Janácek
notierte: „Auf dem erhöhten Gehsteige schüttelte
sich die Größere, die mit gesunden, rosigen Wangen, in
einen rötlichen Wintermantel gekleidete. Erregt sprach sie:
‘Wir stehen hier und ich weiß, er kommt nicht!’
Ihre Gefährtin, mit bleichen Wangen, in ein dunkles, ärmliches
Jäckchen gekleidet, fiel in den letzten Ton mit dunklem, traurigen
Seelenecho ein: ‘Das macht nichts!’ Und rührte
sich nicht, halb aus Trotz, halb in Erwartung! (beide Äußerungen
hielt Janácek in Noten fest, R.S.). Ich ging weiter und trug
in meinen Gedanken, schon in Noten gesetzt und mensuriert, dieses
kurze Gespräch. Etwas entfernt drehte ich mich um; im Nebel
verschmolzen beide Gefährtinnen in einen unbestimmten dunklen
Schatten auf weißem Schnee. Ich möchte raten: dass der
Lebensroman beider einen verschiedenen Weg gehen wird? – Ich
hebe die Tonschönheit dieses Gesprächs hervor (Janácek
fügt Aussage und Antwort mit Basisharmonien versehen zu einer
musikalischen Phrase zusammen, R.S.). Ihr Mädchen, ihr wart
euch dieser Tonschönheit eurer Sprache nicht bewusst. Ihr ahnt
nicht, dass durch sie nicht nur euer Inneres enthüllt wurde,
sondern weit mehr!“ In jedem Satz, in jeder sprachlichen Äußerung
also ist ein ganzes Leben geborgen, Erfahrungen, Hoffnungen, Frage,
immerwährende Frage nach schicksalhaftem Sinn. Es braucht nur
– es ist ein gewaltiges „nur“ – das vernehmende
Ohr, den aufmerkenden Menschen.
Der Janácek-Forscher Jan Racek merkte zu solchen Notizen
an: „Melodische Färbungen der Sprache, diese winzigen
und zufälligen Charakteristika des klanglichen und rhythmischen
Laufes der menschlichen Redeweise, sammelte Janácek planmäßig,
fast sein ganzes Leben lang als Beweismaterial für die lebendige
Sprache verschiedener Gegenden und verschiedener Volksschichten.
Von diesen Sprechmelodien zeichnete Janácek unerschöpfliche
Mengen auf. Er sammelte sie, wo immer er sich befand, sei es auf
belebter Großstadtstraße oder in der idyllischen Stille
ländlicher Natur unter einfachen Leuten. Hier muss man die
Wurzeln für Janáceks Musikstil suchen, denn er wertete
sie durch einen höheren Stilisierungsprozess in neue gedankliche
Gebilde der musikdramatischen Sprache um. Diese Sprechmelodien bedeuten
ihm mehr als nur einen Ausdruck des Charakter-Temperaments. Er findet
in ihnen nicht nur den natürlichen Rhythmus und den melodischen
Duktus der gesprochenen Sprache, sondern hört in ihnen auch
Reflexe zarter seelischer Regungen, Einflüsse der Umgebung
und des Klimas. Er bemüht sich, in ihnen alle Affekte menschlicher
Natur zu erfassen: Freude, Gram, Leidenschaft, selbst geringste
innere Spannung und Lockerung.“
Wenn man sich fragt, was die Gründe für Janáceks
Schaffensexplosion in seinen letzten Jahren sind (eine Explosion,
die ihn vom tschechischen, lange Zeit auf das gegenüber Prag
provinzielle Brünn fixierten Meister zum großen Vordenker
musikalischer Entwicklung, musikalischer Möglichkeiten und
Notwendigkeiten emporschleuderte), dann kann man nicht im Einzelnen
findig werden. Da waren natürlich die Emanzipation des tschechoslowakischen
Staates gegenüber den österreichischen Habsburgern, da
waren auch die sich so spät einstellenden Erfolge (die Oper
„Jenufa“ war 1904 in Brünn mit großen Erfolg
uraufgeführt worden, aber erst die Aufführung 1916 in
Prag verschaffte internationale Anerkennung). Da war natürlich
auch die Liebe zu Kamilla Stösslová, die Janácek
1917 kennen gelernt hatte – der 63-Jährige war der 25-jährigen,
verheirateten Frau begegnet und fokussierte fortan sein schöpferisches
Tun auf ihr so unverkrampft daseinsfreudiges Wesen. Was aber war
das? Es war, so darf man annehmen, eine unbewusste (das „un“
wäre mit einem Fragezeichen zu versehen) Projektion des Begriffs
Jugend, also des Fortgangs des Lebens, auf eine verehrte Frau. Ob
Stösslová Janácek auch liebte? Der Altersabstand
von knapp vierzig Jahren war wohl, pragmatisch gedacht, zu groß.
Sie liebte ihn anders, im Sinne gegenseitiger synergetischer Aufladung
– und es darf angenommen werden, dass Janácek gerade
diesen Zustand so schätzte. Sein ästhetischer Anspruch
hatte einen Außenhalt gefunden.
Dieses Umfeld, dazu die gewachsene Sicherheit des eigenen musikästhetischen
Gangs, auch das gewaltige Reservoir der gesammelten Sprechmelodien,
die auch das eigene innere Erleben auftürmten, führte
zu grandiosen musikalischen Kühnheiten. Auch dies ist ein Zeichen
Janáceks für die musikalische Zukunft: Kühn kann
man nur sein, wenn man Basis hat. Alles andere ist im besseren Fall
frech oder verwegen, im schlechteren Profilierungsdrang und Eitelkeit.
Wirklich kühn ist nur der (kann nur der sein), der sich mit
größter Anstrengung Rückendeckung verschaffte. Die
Rückendeckung Janáceks aber, es ist die größte
überhaupt, ist der Mensch, der einfache Mensch. Wer den Halt
dazu (also zu den Basisbedingungen des Seins) verliert, bleibt im
luftleeren Raum. Seine schöpferischen Produkte verspielen sich.
Ein Blick auf die „Glagolitische Messe“: Sie entstand
1926. Ein Kritiker schrieb damals: „Der Greis Janácek,
ein Mann von festem Glauben, habe immer drängender empfunden,
dass in seinem Lebenswerk die sein Verhältnis zu Gott ausdrückende
Komponente nicht fehlen dürfe.“ Janácek entgegnete
darauf lakonisch: „Weder Greis noch gläubig!“ –
Wer die geballte Wucht dieses Werks vernimmt, begreift: Hier sind
alle Regeln der Konvention außer Kraft gesetzt. Hier sind
Menschen, die nach Sinn fragen und im Fragen Sinn herstellen. Mehrere
Jahrtausende fragen und laufen in diesem Stück zusammen. Gott,
das ist keine Frage ins Jenseits. Hier sind wir, hier wollen wir
sein. Die Orgelzwischenspiele der „Glagolitischen Messe“
übertreffen alles, was für Orgel vor- und nachher geschrieben
wurde: Sie sind Exzesse menschlichen Wühlens auf über
Tasten in Gang gesetztem Klang, schrundig, verletzlich und zugleich
wild um sich schlagend, brutal (keine Improvisation, nicht „Volumina“
von Ligeti kommen dieser Unmittelbarkeit nahe). Und dann das Schlussstück!
Janácek schreibt „Intrada“ darüber. Wohin
treten wir ein, nach kirchlicher Versammlung? Es ist nur eines:
Wir treten zurück ins Leben! Immer und immer wieder! Nie wurde
dieses Gefühl so emphatisch, so überbordend wahr wie am
Ende der „Glagolitischen Messe“. Es ist Taumel, es ist
Drängen. Und das ist Janáceks großes Vermächtnis
(wie oft vermissen wir es heute!): Es gibt keine Kunst ohne Leben!