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nmz-archiv
nmz 2003/10 | Seite 24
52. Jahrgang | Oktober
Forum Musikpädagogik
Durch bewegtes Hören Musik erfahrbar machen
Die ungarische Musikpädagogin Dr. Klára Kokas ·
Von Erika Fleck
Im Allgemeinen wird die Musikpädagogik Ungarns mit dem Namen
Zoltán Kodalys verbunden. Dies geschieht nicht selten mit
einer Mischung aus Bewunderung und Skepsis für die von ihm
begründete „Methode“. Das vorliegende Forum Musikpädagogik
möchte mit neueren musikpädagogischen Ansätzen in
Ungarn bekannt machen. Dazu werden die Konzepte zweier profilierter
Persönlichkeiten der ungarischen Musikszene vorgestellt.
Klára Kokas absolvierte ihr Studium an der Budapester Musikakademie
als Studentin Zoltán Kodálys, der ihre außergewöhnliche
pädagogische Begabung entdeckte. Auf seine Aufforderung hin
entwickelte sie in Szombathely ein System für den täglichen
schulischen Musikunterricht. 1964 wurde ihr für ihre Dissertation
zu Transfereffekten der Musikerziehung internationale Beachtung
zuteil. Sie wandte sich dann zunächst der musiktherapeutischen
Arbeit mit verwahrlosten, später auch mit blinden Kindern zu.
Von 1970 bis 1973 leitete sie in Boston das Forschungsprogramm des
ersten amerikanischen Kodály-Instituts. Seit 1973 hielt sie
als Dozentin des musikpädagogischen Instituts „Zoltán
Kodály“ in Kecskemét zahlreiche Vorträge,
Unterrichtsdemonstrationen und Kurse in der ganzen Welt. Dabei griff
Kokas den Kern der Philosophie ihres Lehrmeisters auf: Durch das
Kennenlernen der Wurzeln nationaler Traditionen soll der Weg dafür
geebnet werden, von kulturell vermittelten Werten persönlich
berührt zu werden. Zur Erreichung dieses Ziels empfahl Kodály
eine lebenslang anhaltende musikalische Erziehung und betrachtete
diese als Garant einer harmonischen Persönlichkeitsentwicklung.
Instinktive Bewegungen
Um Kindern die Meisterwerke der Gesangs- und Instrumentalliteratur
nahe zu bringen, entwickelte Kokas einen Weg, der sowohl für
musikalische Ausnahmebegabungen als auch für jene am unteren
Ende der Begabungsskala mit einem gleichwohl vorhandenen Bedürfnis
nach Musik, attraktiv und gangbar ist. In ihrer Pädagogik baut
sie auf die instinktiven Bewegungen auf, die bei den Kindern durch
das Musik hören ausgelöst werden. Die aus der Musik entspringenden
Bewegungen, zu denen nachdrücklich ermutigt wird, und die von
der Stimmung der Musik inspirierte Atmosphäre ermöglichen
es den Kindern, die Musik in ihrer ganzen Tiefe zu erleben. Diese
Methode zwingt weder zu vorhergehenden formalen Analysen, noch zu
einer musikwissenschaftlichen Interpretation. Vielmehr kann das
Kunstwerk als Ganzes wirken. Durch häufige Wiederholungen kurzer
Musikstücke werden immer tiefere Schichten der Persönlichkeit
angesprochen, Gedanken und Gefühle, psychische Energien und
kreative Strebungen freigesetzt. Die Schüler von Klára
Kokas erfahren während dieses bewegten, aktiven Musik hörens
ein dem versenkten Zusammenmusizieren nahe kommendes Erlebnis. Mit
ihrer Pädagogik ermöglicht sie selbst kleinen Kindern
schon, Kunstwerke aufzufassen, zu denen sie sonst erst in einem
späteren Lebensalter oder nur mit Hilfe von Erklärungen
durch Erwachsene einen Zugang gefunden hätten.
Integration
Ein wichtiges einleitendes Element in ihrer Arbeit mit Kindern
ist das Integrieren der einzelnen Individuen in eine Gemeinschaft.
Dazu dienen volkstümliche Kreistänze mit Handfassung.
Improvisatorisches Singen der Namen, wie es in der Kokas-Methode
praktiziert wird, fördert das musikalische Gehör, das
Gedächtnis und die Kommunikationsfähigkeit. Die uralten
Kinderlieder, Partnerspiele und das Erzählen von Geschichten
ermöglichen bereits, sich in der Musik zu vergessen und sich
von ihr berühren zu lassen. So kann zum Beispiel ein dreijähriges
Kind ganz fasziniert Personen, Tiere, Dinge oder Begriffe erleben,
die jeweils gerade Gegenstand des Singens sind. Durch solche Erlebnisse
des Ergriffenseins wird schließlich bei allen Gruppenmitgliedern
der Boden für musikalische Kunstwerke bereitet.
Beim fünf- bis achtmaligen Hören von kurzen, ein- bis
zweiminütigen, möglichst vollständigen Werken offenbart
sich durch die von der Musik angeregten Bewegungen oder Malereien,
welche Zusammenhänge hörend erlebt werden. Durch immer
intensivere Beschäftigung mit der Musik werden Gedanken, Emotionen
und schöpferische Fantasie angesprochen. Die individuellen
Erlebnisse der Einzelnen, die in einer inspirierten Atmosphäre
durch die Musik herbeigeführt und den anderen mitgeteilt werden,
bringen kathartische Wirkungen für die ganze Gruppe mit sich.
Am Ende der Unterrichtseinheiten stehen jeweils neue Musikstücke
mit harmonisierender psychischer Wirkung, das beruhigende Singen
von Volksliedern, das Anzünden von Kerzen und die Stille, die
das Schwingen der Sphären erahnen lässt. Der besondere
Wert eines solchen auf die Sensibilität für Musik zielenden
Ansatzes liegt darin, dass man damit jederzeit – und völlig
unabhängig von Notenkenntnissen – beginnen kann: Von
der pränatalen Zeit bis zum Erwachsenenalter kann die Musik
auf je spezifische Weise eine Bereicherung sein und Impulse geben,
die von Bedeutung für das weitere Leben sein können.
Breite Anerkennung
Der Ertrag der Arbeit von Klára Kokas und ihren Mitarbeitern
zeigt sich in Publikationen, Filmen, Büchern und mehrere Jahrzehnte
umfassenden gründlichen Dokumentationen, die ihrer auf entdeckendem
Lernen basierenden, intuitiven Pädagogik zu breiter Anerkennung
verholfen haben. Ihre Forschungen sind beeinflusst vom Denken pädagogisch
ähnlich gesinnter Wissenschaftler, die sich mit ästhetischen
Zusammenhängen beschäftigen und Verbindungen zwischen
Musik, Bildender Kunst, der Sprache und der Mathematikdidaktik des
ungarischstämmigen Kanadiers Dienes ziehen. Eine ständig
aktualisierte Auswahl an genaueren Erläuterungen zu ihrer Methode
und an Selbstzeugnissen von Klára Kokas lässt sich auf
ihrer Homepage unter www.bmc.hu/kokas nachlesen. Ihr Ansatz wird
als eigenständige Methode an den ungarischen Pädagogischen
Hochschulen für zukünftige Oberstufenlehrer, aber auch
an einigen ausländischen Universitäten gelehrt. Die Pflege
des gesamten Lebenswerkes von Klára Kokas hat 1990 die Budapester
Stiftung „Agape Zene-Életöröm“ übernommen.
In einem seit 1999 institutionalisierten, selbständigen dreijährigen
Kurs gibt Klára Kokas ihr musikpädagogisches System
an ungarische und ausländische Pädagogen weiter. In der
Nachfolge ihrer Schule haben sich drei anerkannte Kokas-Werkstätten
gebildet: in Zebegény, in Budakalász und in Pécs,
wo die Verfasserin dieser Zeilen mit Jungen im Pubertätsalter
auf der Basis freiwilliger Teilnahme arbeitet. Klára Kokas
lehrt, schreibt, dreht Filme in Budapest – 74-jährig
und bei voller geistiger Kraft.
Ihr neuestes Thema ist die Musikerziehung mit den Allerjüngsten
– von der Eizelle bis zum Baby. Auch in diesem Programm leitet
sie ihre Kurse persönlich und beeindruckt die Teilnehmer mit
ihrer inspirierenden Arbeit.