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nmz-archiv
nmz 2003/10 | Seite 24
52. Jahrgang | Oktober
Forum Musikpädagogik
Musik als schöpferischer Klang-Prozess
László Sárys „kreative musikalische
Übungen“ · Von Martin Tchiba
„Spiele einen Ton, aber nur dann, wenn du das Gefühl
hast, es lohnt sich damit die Stille zu brechen“ –,
so lautet László Sárys Aufforderung in einer
seiner „kreativen musikalischen Übungen“. Es gehört
viel dazu, dies auch tun zu können: das Gefühl für
Klang und Stille zu haben. Sáry zeichnet dazu einen neuartigen,
aber bereits mehrfach erprobten Weg. Einen Weg, der nicht nur für
die Musikpädagogik neue Perspektiven eröffnet, sondern
auch Berufsmusiker in ihrer künstlerischen Tätigkeit um
unzählige hilfreiche Erfahrungen bereichert.
Auch vor dem Hintergrund allgegenwärtiger Klagen aus den Reihen
der Musikpädagogen, der Jugend fehle der „Zugang zur
Musik“, verdient Sárys Vorgehensweise besondere Aufmerksamkeit.
Er stellt nämlich die Frage, was „Musik“ heutzutage
eigentlich bedeutet. Ob der vorwiegend auf klassisch-romantischen
Mustern basierende Musikunterricht der alltäglichen musikalischen
Umwelt heute überhaupt noch gerecht werden kann? Nach Auffassung
Sárys eindeutig nicht. Der Weg zum unvoreingenommenen Zugang
zu musikalischen Vorgängen – wobei auch die Neue Musik
ganz und gar keinen Fremdkörper mehr darstellt – fängt
mit einer Neudefinition der Musik selbst an.
Die „kreativen musikalischen Übungen“ resultieren
aus Sárys Erfahrungen als Komponist, als Interpret Neuer
Musik, als Lehrer (seit 1990 ist er Professor an der Hochschule
für Theater in Budapest) und als musikalischer Direktor des
Budapester Katona József Theaters. In den Siebzigern gründete
László Sáry (Jahrgang 1940) zusammen mit Zoltán
Jeney, Péter Eötvös und anderen die Gruppe „Studio
für Neue Musik Budapest“, die neben Kompositionen der
Mitglieder auch viele (Erst-)Aufführungen zum Beispiel von
Werken John Cages und Steve Reichs durchführte. Als Komponist
vereint Sáry die tiefe Auslotung von Klangeigenschaften mit
einer sehr „ungarischen“, spontanen Musikalität.
Aus der Verflechtung seiner Tätigkeitsfelder resultiert eine
Art „Universalmethode“ mit sehr flexiblen Einsatzmöglichkeiten.
Als Lehrer erprobte er die unterschiedlichen Schwierigkeitsgrade
seiner Übungen mit Kindern und Jugendlichen, mit Erwachsenen:
„Nicht-Musiker“ und Berufsmusiker.
Im Sinne der von Sáry geforderten Hinterfragung der fertig
tradierten und gelernten Muster in unserem westlichen musikalischen
Denken wird – auch unter Zuhilfenahme fernöstlicher Philosophie
– die Originalität einer Komposition vom niedergeschriebenen
Notentext in die Einmaligkeit jedes einzelnen Vortrags als „gesteuerter
Prozess des Zufalls“ verlagert. Der Begriff „Instrument“
wird durch eine Vielzahl von Klang- und auch Geräusch-Quellen
erweitert und der Interpret zum konstruktiven Mitgestalter der momentanen
Erscheinungsform einer Komposition. Aus der Einzigartigkeit des
Klangs resultierend wird Musik als Klang-Prozess definiert. Der
Klang, beziehungsweise dessen fünf Komponenten – Tonhöhe,
Dauer, Stärke, Farbe und Stille zwischen den Klängen –,
werden zum Ausgangspunkt neuen musikalischen Schaffens – und
auch der Übungen.
Viele Übungen der „Sáry-Methode“ trainieren
das Gefühl für Klang und Stille. Folgende Übung,
die Sáry auch „Klang-Yoga“ nennt, spiele ich
oft in unterschiedlichen Varianten: „Wähle einen Ton,
spiele ihn oft, aber jedes neue Erklingen soll sich von den dahinterliegenden
auf eine bestimmte Art (ausgewiesen durch die fünf Komponenten)
unterscheiden!“ Die Aufgabe kann alleine oder in der Gruppe
mit beliebigen Klangquellen, zum Beispiel Steinen, mit der eigenen
Stimme oder an einem Instrument ausgeführt werden. Mit dieser
Übung könnten beispielsweise auch Musiker im Orchester
vor Proben und Konzerten den notwendigen Zustand der „Bereitschaft“
herstellen, berichtet Sáry, und die Erfahrung zeigt: Nach
derartigen Übungen spielt man auch Werke des traditionellen
Repertoires viel differenzierter, farbiger und insgesamt sensibler.
Generell sollen die Übungen auch das Gedächtnis und die
Konzentrationsfähigkeit trainieren sowie das gemeinsame Musizieren
und die Improvisationsfähigkeit. Auf der Grundlage der „musikalischen
Gesellschaftsspiele“, die sozusagen die Elementarstufe der
Übungen darstellen, erwachsen Sárys komplexe „Vortragsstücke“
für Ensembles als offene musikalische Formen mit vom Komponisten
festgelegten Spielregeln („Aktionsplänen“). Den
Vortragsstücken wird oft ein einfaches Schema zu Grunde gelegt,
das aber durch Wiederholungen, Varianten oder ständig neue
Besetzungen aufgefächert wird. Durch die Anwendung der Aleatorik
entstehen unerwartete Klang- und Rhythmuskombinationen, Überraschungseffekte
und immer wieder neue Spielsituationen. Die entfernt mit Steve Reichs
„Clapping Music“ verwandte „Musik für Klangstäbe“
zum Beispiel wurde für drei oder vier Spieler beziehungsweise
Stimmen geschrieben. Aber während bei Reich das durchweg ausgezählte
Rhythmus-Material stets in derselben Form erklingt, verändert
sich die innere Organisation des Klang-Prozesses bei Sáry
kaleidoskopartig als Folge von Zufallsoperationen, das heißt
als Folge selbständiger Entscheidungen der Spieler. Die „Text-Musiken“
wiederum stehen in engem Zusammenhang mit Sárys Arbeit im
Theater und sind aus den Möglichkeiten des Rhythmus und der
Artikulation abgeleitet, die in Texten verborgen sind. Als Vortrags-Stücke
im Konzert sind diese Spiele auch spannend zum Zuhören und
Zuschauen. Allerdings ist dem passiven Zuhören eher die aktive
Beteiligung vorzuziehen. Doch auch die Devise „Hör zu!“
– die erste der Sáry-Übungen – meint einen
hellwachen Zustand der Offenheit, selbst in die Stille hineinzuhorchen.
Die „kreativen musikalischen Übungen“ sind als
Buch erschienen, bislang allerdings nur in ungarischer und englischer
Sprache (Creative Music Activities, Jelenkor Verlag, Pécs/Ungarn
1999).