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nmz-archiv
nmz 2003/10 | Seite 25
52. Jahrgang | Oktober
GNM
Zwischen ernster Musik und Clubbereich
Die Aktivitäten der berliner gesellschaft für neue
musik e.V.
Nach der Gründungsversammlung der „berliner gesellschaft
für neue musik“ (bgnm) im November 1990 wandte sich der
erste Vorsitzende, Matthias Osterwold, in einem Rundbrief an die
Mitglieder. Er forderte dazu auf, jetzt die Inhalte und Ziele der
bgnm konkreter zu formulieren, wobei diese Diskussionen „vor
dem Hintergrund eines grundlegenden kulturpolitischen Wandels in
Berlin und einer zumindest für dieses Jahr noch ungeklärten
und offensichtlich sehr schwierigen finanzpolitischen Situation
der öffentlichen Hand“ zu führen seien.
Schon damals also war es nicht einfach, im Bereich der zeitgenössischen
Musik neue Initiativen zu ergreifen und durchzusetzen, zumal bei
der (nach wie vor) engen Bemessung der Berliner Förderung der
freien Szene. Doch lag die Gründung einer Berliner Gesellschaft
für neue Musik nach dem Wegfall der Mauer nahe. Hier sollte
ein Rahmen geschaffen werden, um Kontakte zwischen Musikschaffenden
aus Ost und West zu ermöglichen und zugleich gemeinsam in die
Zukunft zu planen.
Die Gesellschaft verstand sich laut Satzung von Anfang an als eine
von ihren Mitgliedern aktiv gestaltete Organisation, die sich in
Form von Arbeits- und Projektgruppen und Publikationen unter anderem
um die Förderung junger Komponisten und Interpreten, um Konzeption
und Durchführung thematisch profilierter Veranstaltungen sowie
um die Präsentation aktueller musikalischer Strömungen
in Berlin bemüht. Seit April 1991 traf man sich regelmäßig,
zumeist an wechselnden Orten, um zeitgenössische Komponisten
zu präsentieren und ihre Arbeit zur Diskussion zu stellen.
Daneben wurden gemeinsam mit anderen Veranstaltern oder Ensembles
Gesprächskonzerte und Festivals organisiert.
Gleich als Auftakt gab es 1991 das Musikfestival „Musik zur
Zeit – in Berlin“, das in der Akademie der Künste,
im Centre Culturel Francais und im Haus der Ungarischen Kultur stattfand.
1992 organisiert die Arbeitsgruppe „Sprache und Musik“
das Festival „SprachTonArt“ im Podewil in Kooperation
mit dem Literarischen Colloquium Berlin. 1994 gab es „Irrton“,
ein „Festival virtueller Irritationen“ zum Thema Wahrnehmung
und Täuschungen in Musik, Kunst und Wissenschaft. Beim Festival
„Musik und Licht“ 1996 wurden Installationen im Podewil,
in der Parochialkirche sowie eine Schaufensterinstallation im Kunst-
und Auktionshaus Sanssouci präsentiert. Das Festival „minimalisms“
1998 bot ebenfalls Konzerte und Installationen, darüber hinaus
ein Symposium sowie eine eigene Filmreihe. Beim Sommerfest im Juli
dieses Jahres wurden in Kooperation mit der Medienhochschule Köln
neue Konzepte der Klangvisualisierung präsentiert.
Kommunikationsplattform
Auch mit Vortragszyklen wie „Musik im Dialog“ in der
Akademie der Künste (1997-99), mit Veranstaltungen zu aktuellen
Tendenzen in der Kompositionstheorie, zur Klangkunst, zum Musiktheater,
zum Gesamtkunstwerk im medialen Zeitalter (2000/2001) bis hin zur
vierteiligen Reihe „musik/politik“ in der staatsbank
berlin im vergangenen Jahr stieß die bgnm auf breite Resonanz
und bildete damit einen intellektuellen Fokus im Berliner Musikleben.
Die bgnm hat sich so zur wichtigsten öffentlichen Kommunikationsplattform
für Produzenten und Interessenten neuer Musik in Berlin entwickelt.
Institutionell unabhängig bietet die Gesellschaft ein Präsentations-
und Gesprächsforum für aktuelle Strömungen und kontroverse
Positionen der zeitgenössischen Musik. Dabei werden kunst-
und medientheoretische Aspekte ebenso integriert wie neue Fragestellungen
der Musik- und Kommunikationswissenschaft.
Inzwischen sieht sich die Gesellschaft zunehmend als Schnittstelle
zwischen den Generationen und Genres. Die geladenen Gäste kommen
aus dem Berliner wie auch aus dem internationalen Musik-, Kunst-
und Medienbereich. So wird nicht nur ein spartenübergreifender
Austausch ermöglicht, sondern auch ein junges Publikum erreicht,
das sich zwischen den vielfältigen Musikszenen von ernster
Musik bis hin zum Club- und Elektronikbereich bewegt.
Das derzeitige Engagement der bgnm umfasst zudem das Angebot eines
monatlichen Jour Fixe, bei dem Künstler ihre aktuellen Projekte,
Kuratoren und Veranstalter ihre Konzepte und Wissenschaftler neue
theoretische Ansätze präsentieren. Seit 2002 findet dieses
regelmäßige Treffen in einer Ladengalerie mit dem sprechenden
Namen „file sharing“ am Prenzlauer Berg statt, die von
einer Gruppe freier Kommunikationsdesigner geführt wird. Der
Jour Fixe erweist sich in seiner ungezwungenen Form als ausgezeichneter
Kontaktpunkt und Anlaufstelle, insbesondere für Künstler,
die sich als Gäste in Berlin aufhalten, und für neu hinzugezogene
Komponisten und Musiker, Musikologen und Interessenten.
„Musik im Dialog“
Darüber hinaus veranstaltet die bgnm jährlich ein bis
zwei kulturpolitische Diskussionsrunden, wie 2001 zur internen Lage
der Berliner Neuen-Musik-Szene und 2002 zur (desolaten) Situation
des Berliner Kulturhaushalts mit Kultursenator Thomas Flierl und
der Initiative Neue Musik Berlin.
Seit fünf Jahren gibt die bgnm ein Jahrbuch „Musik im
Dialog“ heraus, das im Pfau-Verlag (Saarbrücken) erscheint.
Darin werden sowohl die thematischen Diskussionsreihen als auch
kulturpolitische Veranstaltungen zusammengefasst und dokumentiert
und für eine über Berlin hinausgehende Diskussion zugänglich
gemacht. Im ersten Band sind Positionen zeitgenössischer Theoretiker
aus Philosophie, Kunst und Musik (unter anderen Albrecht Wellmer,
Heinz-Klaus Metzger, Diedrich Diederichsen) zusammengefasst. Der
zweite Band ist den Themen Notation, Experiment, Melodie und Geräusche
im Kontext neuer Musik gewidmet. Im dritten Band geht es um aktuelle
Positionen in Klangkunst und Musiktheater. Der vierte mit dem Titel
„institutionell & andernorts“ umfasst die Jahre
2000/2001 und dokumentiert Gespräche zum Thema „Neue
Musik – Randerscheinung des Kulturbetriebs?“ sowie die
Veranstaltungsreihe „Übergänge. Entgrenzter Hörsinn
– Perspektiven neuer Musik“ (zu den Themen Konzertsaal
und Location, Gesamtkunstwerk, Netzmusik und Remix).
„musik/politik“
Der fünfte Band wird demnächst erscheinen und fasst die
Diskussionsreihe musik/politik im Jahre 2002 zusammen. Ein nach
wie vor – oder wieder – virulentes Thema, wie sich gezeigt
hat, da die politische Dimension von Musik heute kaum mehr nach
ihrer politischen Wirksamkeit beurteilt werden kann. Denn nach der
agitatorischen Phase der 68er bringt auch die sinnlich-reflexive
Qualität der Kunst als subtile Gesellschaftskritik inzwischen
oft nur noch ein müde-lächelndes Einverständnis hervor.
Wo steht die Musik also heute, wenn sie sich deswegen nicht ästhetizistisch
zurückziehen, sondern ernsthaft eingreifen will, ob provokant,
ironisch oder gewaltsam? Welche Formen künstlerischer Produktion
in der neuen Musik zeigen politisches Bewusstsein jenseits der alten
Modelle und Dogmen?
Die Fragen wurden in vier Themenfeldern behandelt: „Jenseits
von Agitation und kritischer Reflexion? Was ist politische Musik
heute?“, „Klangkunst und Öffentlichkeit –
Ästhetisierung als Politisierung?“, „Musiktheater
als Metapher der Wirklichkeit – Politisch-inhaltliche Referenzen
im neuen Musiktheater“ und „Politisierung im Club –
Über neue, politische Tendenzen im Club, DJ-, VJ-Bereich“.
Die aktuelle, insgesamt fünfteilige Diskussionsreihe unter
dem Motto „reflexzonen“ ist dem Verhältnis von
kompositorischen und musikalischen Praktiken und ihrer Reflexion
in Wort und Schrift gewidmet. Gefragt wird beispielsweise nach der
Beziehung zwischen Sinnlichkeit und Reflexion oder nach dem Stellenwert
von Körperlichkeit in der aktuellen Musik. „Politisches“
oder „Ideologisches“ spielt auch hier eine Rolle, etwa
im Bereich journalistischer Urteilsbildung oder im Blick auf verschiedene
Rezeptionshaltungen.
Wird der Prozess des Ein- und Auftauchens in Musik als Regression
verstanden und weshalb? Wie beurteilt man heute Möglichkeiten
und Grenzen der Partizipation des Zuhörers, zum Beispiel in
interaktiven Konstellationen? Welche neuen Möglichkeiten der
Musikvermittlung sind daher zu überdenken?
Christa Brüstle und Georg Klein (für den
Vorstand der bgnm)