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nmz-archiv
nmz 2003/10 | Seite 11
52. Jahrgang | Oktober
Internet/Computer
Prophezeihungen vom Ende der Musikindustrie
Wie das Internet einer ganzen Branche zusetzt: ein Buch von Janko
Röttgers
Nichts Geringeres als „das Ende der Musikindustrie“
prophezeit Janko Röttgers im Untertitel seines neuen Buches,
das verschiedene Stationen und Aspekte der Musikdistribution im
Zeitalter von Internet und MP3 beleuchtet. Dass dieses Ende tatsächlich
erreicht sei oder zumindest unmittelbar bevorstehe, mag der Leser
auch nach der Lektüre nicht so recht glauben. Aber das ist
wohl auch nicht Röttgers Ziel. „Einem Buch, das den Untergang
der Musikindustrie bereits im Titel prophezeit“, so schreibt
er selbst im letzten Kapitel, „lässt sich leicht Einseitigkeit
vorwerfen. Und das zu Recht: Wer über die Digitalisierung der
Entertainment-Wirtschaft schreiben will, kommt gar nicht daran vorbei,
Prognosen aufzustellen, Partei zu ergreifen und sich bisweilen von
seiner eigenen Meinung leiten zu lassen.“ Das allerdings tut
Röttgers nicht im luftleeren Raum; vielmehr stützt er
sich auf gut recherchierte Belege, die unter Zuhilfenahme der Fußnoten
größtenteils im Netz nachvollziehbar sind. Und vor allem
– das ist ein großer Pluspunkt – erbringt er den
Nachweis, dass man auch über einen komplizierten, sehr technologischen
Themenbereich in einer Weise schreiben kann, dass der „normale
Mensch“ in der Lage ist zu folgen, am Ende gar vieles verstanden
hat, was er vorher nie so recht begriffen hatte. Ein Buch für
alle, die von Napster, Gnutella und MP3 immer wieder gehört
und gelesen haben und sich nun über Hintergründe und Einzelheiten
informieren möchten.
Das Ende ist nahe ...
Sehr übersichtlich wird zunächst die Geschichte der Musik-Tauschbörsen
im Netz dargestellt: die Geschichte von Shawn Fanning, der sich
der Software MP3 zur Komprimierung von Musikdaten bediente, um mit
„Napster“ eine Internet-Tauschbörse für Musik
zu entwickeln und damit die Möglichkeiten des Musik-Vertriebs
zu revolutionieren. Röttgers beschreibt, wie im Handumdrehen
Millionen von Napster-Fans die Tauschbörse entdeckten und für
ihren Musik-Konsum nutzten. Ein neues Kundenbedürfnis war geboren.
Der Erfolg von Napster bedeutete zudem den Startschuss für
viele Programmierer und Unternehmer, Ähnliches zu entwickeln.
Genannt seien hier nur Gnutella, Kazaa (das bis heute sehr erfolgreich
und inzwischen um ein vielfaches größer ist, als es Napster
je war) oder das von Bertelsmann parallel zu seinen Napster-Verhandlungen
entwickelte Programm „Snoopstar“, das jedoch nie auf
den Markt kam. Die Idee des Hauses Bertelsmann, Napster zu übernehmen
und zu einer bezahlten Tauschbörse umzuwandeln, war zum Scheitern
verurteilt und damit auch die Tauschbörse selbst, die im Jahr
2002 Konkurs anmelden musste – nicht zuletzt, weil sie sich
mit einer Flut von Klagen konfrontiert sah, die in Millionenhöhe
gingen. Die Reaktion vor allem der amerikanischen Plattenindustrie,
vertreten durch die Recording Industry Association of America (RIAA),
bestand in der Tat in einer Kriegserklärung. Die juristische
Mobilmachung aber richtete sich eben nicht nur gegen eine anonyme
Tauschbörse oder gegen einzelne Programmierer, sondern gegen
ein Millionen-Heer von eigenen Kunden. Schon hier beginnt man zu
begreifen, dass die Musikindustrie an ihrer eigenen Misere kräftig
mitgewirkt hat. Dies setzt sich fort in den – bisher durchweg
gescheiterten – Versuchen, Bezahl-Tauschbörsen einzurichten
sowie in der Überzeugung, durch diverse Kopierschutzsysteme
das illegale Kopieren und Downloaden von Musik unmöglich zu
machen. „Der Krieg gegen die Konsumenten“ ist ein zentrales
Kapitel des Buches. Zu Recht, möchte man bei der Lektüre
meinen. Anstatt auf die offenbar veränderten Bedürfnisse
der Kunden einzugehen und Lösungen zu ersinnen, die diesen
gerecht werden, deklarierte man den Kunden plötzlich zum Feind.
Grundlegende Regeln des modernen Marketing, das macht Röttgers
anhand von vielen, teils skurril anmutenden Beispielen klar, sind
hier missachtet worden.
Und er nimmt die Musikindustrie weiter aufs Korn, indem er die
Verteilungsmechanismen aus CD-Erlösen anprangert. Der Musiker,
so führt er aus, erhält in der Regel nichts: Vorschüsse
oder prozentuale Verkaufsbeteiligungen werden mit Kosten der Plattenfirmen
verrechnet, die – laut Vertrag – der Künstler zu
tragen hat. Offen bleibt allerdings, warum sich Generationen von
Musikern auf solche Vertragsbedingungen einlassen und womit sie
letztendlich ihre Brötchen verdienen. Dass außer Robbie
Williams alle Major-Vertragspartner Taxi fahren, ist eher unwahrscheinlich.
Dennoch: auch hier hat die Platten-Industrie scheinbar nicht vorausschauend
gedacht. Dem von Seiten der Firmen eingebrachten Argument, nur auf
diese Weise könnten die cirka 95 Prozent an CD-Produktionen,
die ihre Kosten niemals wieder einspielen, finanziert werden, begegnet
Röttgers mit dem spöttischen Vorschlag, dann müsse
man „ja lediglich die fürs Anwerben neuer Künstler
zuständigen A & R-Headhunter feuern und durch fähigere
Spürnasen ersetzen“.
Bei allen Fehlern, die man der Industrie vorhalten kann: Eine Lösung
der derzeitigen Probleme und Fragestellungen bietet auch das Buch
von Janko Röttgers nicht. Wie können Musiker zukünftig
gerecht für ihre Werke entlohnt werden, wie wird illegale von
legaler Musik-Nutzung unterschieden, wie lassen sich unberechtigte
Nutzer aufspüren, ohne dass gleich eine ganze Netz-Community
kriminalisiert wird? Wie lässt sich auch zukünftig mit
der Produktion von Musik so viel Geld verdienen, dass sie für
die am Entstehungsprozess Beteiligten interessant bleibt? Die Beispiele
der Independent-Szene, die Röttgers aufführt, mögen
Denkanstöße geben. Geld verdienen lässt sich damit
nicht, es sei denn, man verlegt sich wie bei dem Unternehmen „CDBaby.com“
doch wieder auf den Vertrieb der kleinen Scheibe und eben nicht
auf die Distribution im Netz. „Pauschalen nützen allen“,
lautet eine Kapitelüberschrift. Hier wird eine generelle Abgabe
auf „alle Produkte oder Services“ gefordert, die „durch
Tauschbörsen substanziell an Wert gewinnen würden“,
zum Beispiel Computer, Heimelektronik und Speichermedien oder Tauschbörsen-Software.
Im Gegenzug soll jede Musik-Nutzung im Netz legalisiert werden.
Fraglich bleibt, ob dies eine „gerechte“ Lösung
im Sinne derjenigen ist, die doch lieber ihre CD im Laden kaufen
oder die – das soll es geben! – ihren PC in der Regel
nur als Schreibprogramm, für die Tabellenkalkulation oder zum
Übermitteln von E-Mail-Nachrichten benutzen. Fraglich auch,
ob Pauschalabgaben tatsächlich die für eine angemessene
Musikervergütung notwendigen Summen abdecken.
Schade, dass das Buch von Röttgers die Klassik-Industrie mit
ihren doch teils anderen Gesetzmäßigkeiten nicht berücksichtigt.
Schade auch, dass vor allem die amerikanische Industrie im Vordergrund
steht, die freilich mit der deutschen vieles gemein hat, zumal die
handelnden „Personen“ wie die Major Labels in der Regel
„Global Player“ sind. Auf jeden Fall ist es ein informatives,
gut strukturiertes und lesenswertes Buch. Röttgers trägt
den sich in diesem Bereich fast täglich ändernden Gegebenheiten
Rechnung, indem er eine Internet-Seite eingerichtet hat, die sich
über das Erscheinungsdatum hinaus mit den relevanten Themen
beschäftigt und aktuelle Nachrichten und Diskussionen publiziert:
www.mixburnrip.de.
Ein Blick darauf lohnt sich fast täglich.
Das Ende der Musikindustrie? Wohl kaum. Voraussichtlich wird es
auch zukünftig einen Wirtschaftszweig geben, der aus einem
fast unbegrenzten weltweiten Kundeninteresse ein profitables Geschäft
macht. Wie der aussehen wird, vermag heute niemand vorauszusagen.
Am Ende seines Buches lässt Röttgers so unterschiedliche
Menschen wie Ted Cohen von der EMI, Smudo von den „Fantastischen
Vier“, Gerd Gebhardt, Vorsitzender des Bundesverbandes der
Phonographischen Wirtschaft, oder Don Joyce, Mitglied des Audio-Art-Kollektivs
Negativland, zu Wort kommen und ihre teilweise seinen eigenen Thesen
entgegen gesetzten Meinungen äußern. Zur Frage der Zukunft
der Musikindustrie sei zum Schluss Tim O’Reilly zitiert, Gründer
eines US-Verlagshauses für Computer-Fachbücher: „Es
wird eine Gruppe großer Firmen geben, deren Geschäft
das Aufspüren, Promoten, Vertreiben und Verkaufen talentierter
Musiker ist... Es wird außerdem eine Menge kleinerer Firmen
geben und viele selbstverlegte Künstler, die ihre eigenen Werke
promoten... Die Frage ist, ob die Firmen die existierenden Plattenlabels
sein werden, die sich für das neue Medium neu erfunden haben
oder ob es neue Firmen geben wird, die den Paradigmenwechsel ausnutzen,
um ein neues Geschäftsfeld zu erschließen.“ Liest
man Röttgers Buch, so kommen Zweifel auf, ob die derzeitigen
Firmen die notwendige Flexibilität entwickeln, um die rasanten
Veränderungen der Branche nicht weiter zu verschlafen.
Barbara Haack
Janko Röttgers: Mix, Burn & R.I.P. –Das
Ende der Musikindustrie
Verlag Heinz Heise, 183 Seiten, Broschur, € 16 Euro (D)/e
16,50 (A)/28 sFr, ISBN 3-936931-08-9.