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nmz-archiv
nmz 2003/10 | Seite 10
52. Jahrgang | Oktober
Kulturpolitik
Chance und Verantwortung für die Verbände
Das Modell der „Offenen Ganztagsschule“ in Nordrhein-Westfalen
Mitte Juli wurde die Rahmenvereinbarung über die Zusammenarbeit
an offenen Ganztagsgrundschulen des Landesmusikrates Nordrhein-Westfalen
(NRW) und des Landesverbandes der Musikschulen NRW mit den nordrhein-westfälischen
Ministerien für Schule, Jugend und Kinder und für Städtebau
und Wohnen, Kultur und Sport geschlossen. Die beiden Verbände
haben mit ihrer Unterschrift unter die Rahmenvereinbarung die Chance,
die sich durch die flächendeckende Einführung der Ganztagsgrundschule
in Deutschland als Reaktion auf das schlechte Abschneiden deutscher
Schüler bei PISA bietet, am Schopf gepackt.
Jahrelang ging es immer nur um Abbau von Musikunterricht in und
außerhalb der Schule, jetzt braucht die Politik bei der Umsetzung
ihrer ehrgeizigen Ganztagsschulpläne gerade die Bereiche der
Gesellschaft, die bislang eher als Kostenfaktor denn als gesellschaftliches
Produktivkapital gesehen wurden. Neben den Laienmusikverbänden
und den Musikschulen sind das besonders die Sportverbände,
die Kirchen und die fast an jeder Schule arbeitenden Elterninitiativen.
Sie sollen jetzt richten, was die Halbtagesgrundschule bislang nicht
geschafft hat.
Einige Ergebnisse der PISA-Studie, gerade die Grundschule betreffen,
wurden zwar durch die IGLU-Studie relativiert, trotzdem steht für
mich außer Frage, dass die flächendeckende Einführung
der Ganztagsschule, nicht nur für die Grundschule, erhebliche
Vorteile für die Schülerinnen und Schüler und ihre
Eltern bringen wird.
Zu den erschreckendsten Befunden der PISA-Studie zählt für
mich die vollständig unzureichende Förderung besonders
starker und besonders schwacher Schüler an deutschen Schulen.
Und wer ein starker und wer ein schwacher Schüler wird, hängt
auch noch unmittelbar mit der Einkommenssituation und der Bildung
der Eltern zusammen. Dieses Ergebnis der PISA-Untersuchung nach
dreißig Jahren westdeutscher Schulreform ist ein unglaubliches
Armutszeugnis der Bildungspolitik. Alles, was diese Bildungskatastrophe
einzudämmen vermag, ist sinnvoll. Die Ganztagsschule wird die
Möglichkeit bieten, die starken und die schwachen Schüler
deutlich besser als bislang zu fordern, da mehr Zeit zur individuellen
Betreuung vorhanden sein wird. Auch die Eltern, in unserer gesellschaftlichen
Realität überwiegend die Mütter, werden durch ein
flächendeckendes Ganztagsschulangebot in der Zukunft ihre eigene
berufliche Situation verbessern können, vorausgesetzt die längst
versprochene Entspannung am Arbeitsmarkt kommt wirklich. Außerdem
bietet die Ganztagsschule die Möglichkeit die musisch-kulturellen
Fächer, die nicht nur in der PISA-Studie aus dem Blickfeld
geraten sind, wieder deutlicher im Unterricht zu verankern. Dabei
geht es nicht nur um den Musikunterricht, sondern auch um Bildende
Kunst, Darstellende Kunst, Literatur und auch um Architektur. Jedes
Kind muss in seiner Schulzeit mit allen Künsten in Berührung
gekommen sein. Besonders begabte Schüler müssen die Chance
erhalten, sich in den verschiedensten Künsten beweisen zu können.
Nicht l’art pour l’art, sondern leistungsbezogener Unterricht,
wie in den mathematisch-naturwissenschaftlichen Fächern üblich,
muss auch in den musisch-kulturellen Fächern angeboten werden.
Doch will das nordrhein-westfälische Ministerium für
Schule, Jugend und Kinder eine solche Ganztagsschule. Das Modell
des Bildungsministeriums heißt „Offene Ganztagsschule“
und soll eine „andere“ Schule sein. Anders weil zumindest
am Nachmittag nicht mehr hauptsächlich Lehrer die Schüler
unterrichten, sondern die unterschiedlichsten gesellschaftlichen
Gruppen, aus dem Sozialbereich, dem Sport und der Kultur, Verantwortung
übernehmen. In vier Jahren sollen schon 200.000 Kinder, das
heißt ein Viertel aller Grundschüler in NRW, in die offene
Ganztagesgrundschule gehen. Und obwohl die offene Ganztagesgrundschule
also in wenigen Jahren zu einem wichtigen Zweig der Regelschule
werden soll, soll sie nicht wie eine normale Schule behandelt werden.
Das beginnt schon damit, das die Eltern für den Besuch ihrer
Kinder in der offenen Ganztagesgrundschule Schulgeld bezahlen sollen.
Bis zu 1.200 Euro plus Nebenkosten wie Verpflegung und Unterrichtsmaterial
müssen die Eltern pro Jahr bezahlen. Der Nachmittagsunterricht
wird als eine Art freiwillige Betreuungsleistung des Staates gesehen.
Schule kann es ja nicht sein, die ist ja bekanntlich im Pflichtschulbereich
an staatlichen Schule grundsätzlich kostenfrei.
Es geht bei der offenen Ganztagsschule in NRW um die Organisation
einer höherwertigen Betreuungseinrichtung für möglichst
viele Kinder. Und hier ist man auf die Unterstützung besonders
der außerschulischen Bildungsträger angewiesen. Besonders
die Musikschulen und die Musik- und Sportvereine vor Ort sollen
am Nachmittag „ein außerunterrichtliches Musik- und
Sportangebot für möglichst alle Kinder sicherstellen,
die einen Platz in der offenen Ganztagsgrundschule haben“.
Eine große, eine wichtige Aufgabe, aber wer übernimmt
die Kosten für eine regelmäßige, professionelle
Betreuung am Nachmittag? Und wer garantiert, dass der außerunterrichtliche
Musikunterricht nicht der Vorwand ist, um zum Beispiel das Regelfach
Musik einzustellen? Gerade die einseitige Ausrichtung der PISA-Studie
auf die „harten“ Unterrichtfächer Mathematik, Deutsch
und Naturwissenschaften, führen zu einer Verdrängung der
vermeintlich „weichen“ Fächer wie Kunst und Sport
aus dem Unterrichtskanon. Die Ankündigung der Landesregierung
NRW die Hortplätze zugunsten der offenen Ganztagsgrundschule
einzusparen, wird bei den Kommunen Mittel freigeben, doch stehen
die Mittel, die durch die Auflösung der zirka 30.000 Hortplätze
im Grundschulalter in NRW freiwerden, nach Aussage des Deutschen
Städtetages in keinem sinnvollen Verhältnis zu den zu
erwartenden Kosten, die durch die Ganztagsgrundschule mit 200.000
Kindern schon ab dem Jahr 2007 entstehen werden. Auch hat die Landesregierung
bislang nicht zu erkennen gegeben, dass sie bereit ist auch das
„nichtpädagogische“ Personal, also Unterrichtende
die keine Lehrbefugnis durch das erste oder zweite Staatsexamen
erlangt haben, zu finanzieren. Wer wird die Musiklehrer, Orchestermusiker,
Dirigenten und Chorleiter bezahlen? Dass ein kontinuierliches Nachmittagsangebot
hauptsächlich auf ehrenamtlichem Engagement fußt, ist
nur schwer vorstellbar.
Bislang macht das Konzept der offenen Ganztagsgrundschule in NRW
den Eindruck einer „Ganztagesgrundschule-Light“. Die
Musikverbände, die mit dem nordrhein-westfälischen Bildungs-
und Kulturministerium die Rahmenvereinbarung abgeschlossen haben,
haben die Verantwortung darauf zu achten, dass die musisch-kulturelle
Bildung gestärkt wird. Diese Verantwortung bezieht sich meiner
Ansicht nach nicht nur auf den Musikunterricht, sondern umfasst
die gesamten Künste.
Diese neue Verantwortung ist aber keine Last, sondern die Chance
für die Verbände die Bildungslandschaft der Zukunft unmittelbar
mitzugestalten. Ohne sie wird die Landesregierung NRW ihr Ganztagsgrundschulprojekt
nicht realisieren können. Ob die Ganztagesgrundschule ein Gewinn
für den Musik- und Kunstunterricht in NRW wird oder ob nur
ein light-Programm zur Betreuung von Kindern am Nachmittag mit Musik
übrigbleibt, liegt also auch an ihnen.