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nmz-archiv
nmz 2003/10 | Seite 5
52. Jahrgang | Oktober
Musikwirtschaft
Ohne Schwellenangst in die gute Stube
Michael Kaufmann, Intendant der neuen Essener Philharmonie, im
Gespräch
Im Juni feierten Bauherren und Bauleute, Künstler und zukünftige
Besucher der neuen Philharmonie das Richtfest an der Baustelle neben
dem Essener Aalto-Theater (die nmz berichtete darüber). Der
große Zuspruch und das rege Interesse der Essener an den vielfältigen
künstlerischen Darbietungen, aber auch die Möglichkeit,
die Baustelle zu begehen, ließen das musikalische Richtfest
zu einem Volksfest werden. Offenkundig liegt der Stadt sehr viel
an der neuen Philharmonie. Darüber unterhielt sich Thomas Otto
mit dem Intendanten der Philharmonie, Michael Kaufmann.
neue musikzeitung: Welchen Platz wird die neue Philharmonie
im Kulturgefüge der Stadt einnehmen?
Michael Kaufmann: Der Saalbau in Essen, unter dessen Dach
die Philharmonie entsteht, hatte schon immer eine große Bedeutung
für die Menschen in Essen, nicht nur in kultureller, sondern
auch in gesellschaftlicher Hinsicht. Von der Taufe bis zur Seniorenveranstaltung
hat einfach alles hier stattgefunden. Es gab, lange bevor ich kam,
eine sehr grundsätzliche Debatte in Essen, ob nicht der Musentempel
das Volk ausschließt und gesellschaftlich heimatlos macht.
„Gute Stube – ja oder nein“, das meinte: „Philharmonie
– ja oder nein“. Ich war in diesen Konflikt nicht einbezogen
und bemühte mich von Anfang an darum, Brücken zwischen
den beiden Positionen zu schaffen, was glücklicherweise auch
gelungen ist. Ich versuche den Skeptikern zu zeigen, dass sie bei
mir nicht skeptisch sein müssen. In der Philharmonie in Köln
haben wir auch Karnevalsveranstaltungen gemacht – es ist so
viel möglich, es muss natürlich gut und qualitätvoll
sein!
Das wollten wir auch mit dem „Musikalischen Richtfest“
zeigen; wir machten den Versuch, sowohl im Aalto-Theater als an
der Baustelle und auf einer Bühne mitten in der Stadt zu zeigen,
was ich mir unter einem qualitativ hochwertigen Programm vorstelle.
Das reichte vom Werkorchester der Deutschen Steinkohle AG über
das Petersen-Quartett und die Essener Philharmoniker bis zu Sir
Peter Ustinow. Der Volksfestcharakter entstand übrigens auch
durch solche „Zutaten“ wie das herrliche schwebende
Zeltdach über der Festwiese. Musik darf und muss auch Lebensfreude
freisetzen und da ist jede Form der Überheblichkeit fehl am
Platz. Dass wir damit Erfolg hatten, ist natürlich eine Sache,
über die ich sehr froh bin. Offensichtlich kommt das, was die
Menschen in der Stadt und der Region sich wünschen, ganz selbstverständlich
aus mir heraus, ohne dass ich mich plagen oder verbiegen muss –
das ist ein großes Glück für mich!
nmz: Die Entscheidung für den Bau der Philharmonie
und damit für die Intensivierung des Kulturbetriebes in der
Stadt hat natürlich mit Geld zu tun. Das macht sie angesichts
der prekären Situation auf dem Gebiet der Kulturpolitik zu
einer Besonderheit – anderswo werden Häuser geschlossen,
Ensembles zusammengelegt, weil kein Geld mehr da ist. Erleben wir
gerade ein modernes Märchen à la „Michael Kaufmann
im Wunderland“?
Kaufmann: „Wunderland“ ist nicht das richtige
Wort. Die Essener hatten immer den Ruß- und Kohlenpott vor
der Tür. Der Name „Essen“ stand lange Zeit weniger
für Kultur als für die „Waffenschmiede“ Deutschlands.
Mit der völligen Zerstörung der Stadt im Krieg und den
ungeheuren wirtschaftlichen Umstrukturierungen der letzten 20 Jahre
wurden die Essener wohl auch eines Stücks ihres kulturellen
Selbstbewusstseins beraubt – obwohl die Stadt 2002 ihre 1150-Jahrfeier
beging und auf phänomenale kulturelle Schätze verweisen
konnte. Hier findet man so eine Mischung aus Understatement, Zurückhaltung
und Bescheidenheit. Vielleicht hat man deshalb nicht früher
darüber nachgedacht, eine Philharmonie zu bauen. Schon die
Entscheidung für das Aalto-Theater hatte sich auch über
viele Jahre hingezogen – jetzt sind alle wahnsinnig stolz
auf dieses Haus. Aber nie käme einer auf die Idee, es in die
Republik hinauszurufen: Seht her, wir haben eines der besten Opernhäuser
in Deutschland! Als dann der marode Saalbau als Heimstadt für
die Philharmonie ins Gespräch kam, hat sich Herr Professor
Beitz, Chef der Alfried-Krupp-von-Bohlen-Halbach-Stiftung, in die
Diskussion eingebracht. Er hat mit der Stiftung 26 Millionen Mark
bereitgestellt und gesagt: „Baut die Philharmonie und sorgt
dafür, dass sie internationalen Maßstäben standhält!“
Das war die Initialzündung, die von vielen Unternehmen der
Stadt und der Region unterstützt wurde; wir haben hier viele
bedeutende Unternehmen, die mit wichtigen Geschäftsbesuchen
nicht immer nach Köln oder Düsseldorf fahren wollten.
Und dann kamen plötzlich noch die Dortmunder und haben ihr
Konzerthaus gebaut. Ich denke, dass die Politik durch diese Faktoren
unter Druck geriet, die letztlich zu der Entscheidung für die
Philharmonie führten.