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nmz-archiv
nmz 2003/10 | Seite 38
52. Jahrgang | Oktober
Jazz, Rock, Pop
Nachschub
Pop: Die Wahrheitsfrage
In besseren Zeiten formulierte Diedrich Diederichsen, damals noch
der wichtigste Theoretiker der Dissidenz und ihrer kulturellen Produktionen
und nicht deutscher Kunst-Professor, im post-Orwell’schen
new speech eines jugendbewegten radical chic: „Pop ist die
rascheste Weise, die Wahrheit zu sagen.“ Die jungen sollten
immer Recht haben, nur weil sie jung, vital, sexy und modebewusst
waren, und die außerinstitutionellen Medien der jamaikanischen
Sound Systems und der Nachbarschafts-Partys in den Schwarzen-Ghettos
der USA gegen Irrtum gefeit sein. Dann kam der Schock von Rostock-Lichtenhagen
und Diedrich Diederichsen reagierte wie ein besorgter Vater, der
seine Tochter beim Kiffen oder Petting erwischt: „The Kids
Are Not Allright.“
Auschwitz oder der Gulag oder das napalmverbrannte Vietnam schienen
keine Schranke für einen dandyesken Pop-Optimismus zu sein,
weil für diese Millionen Toten ja die Alten, die Hässlichen,
die mit den falschen Hosen und dem noch falscheren Musikgeschmack
verantwortlich zu sein schienen. Aber die da, „plötzlich“
(immer der Trost derer, deren Erkenntnis zu spät kommt), ihre
mörderische Hatz nicht nur auf Ausländer, sondern auf
alle, die „anders“ waren, begannen, teilten den Musik-
und Modegeschmack der SPEX-Redaktion. Der Musik-Weltgeist an den
Platten-Tellern war mit einem Mal zutiefst verunsichert, die Wahrheitsfrage
in der Pop-Musik stellte sich vollkommen neu.
Hatte am Ende der große Jubilar dieser Tage, der Theorie-DJ
Theodor W. Adorno, recht, der dem Massengeschmack und der Jugend,
die sich doch „nur“ ausleben will, schon immer tief
misstraute. Er sah im Swing-Jazz der 30er-Jahre, also der probaten
Tanz- und Verführungsmusik der Depressions-Ära, nur eine
Regression des Hörens, eine Entfremdung des Begehrens und eine
Verdumpfung und Brutalisierung aller Beziehungen. Und er unterstellte
selbst dem archaisierenden Strawinsky des „Sacre“, das
bei der Uraufführung zu hysterischen Ohnmachtsanfällen
führte, vermutlich weil das verdrängte Sexuelle sich öffentlich
nicht anders zeigen konnte, er habe in seinen Rhythmen lediglich
dem Militärischen und anderen Massen-Formationen den Weg gebahnt.
Strawinsky, der Ur-Opa des Techno, nicht nur ein von Muskeln und
Maschinen berauschter Futurist, sondern ein Faschist?
Diederichsen und Adorno, die ansonsten durchaus zu komplexen,
in die „Sache“ sich vertiefenden Argumentationen fähig
sind, regredieren als Theoretiker, wenn sie in jäher politischer
Panik zu Funktions- und Rezeptionsästhetikern werden, wenn
das Misstrauen in die Masse zum Verdikt führt. Aber kann Musik
böse sein oder zumindest böse machen? Adorno musste sich
diese Frage bei Wagner stellen, den er vor (und nach) Hitler rettete,
auch vor seinen scheinbar treuesten Anhängern.
Dass es Passagen in seinen Texten gibt, die „lügen“,
die auf fatale Weise unverdaute Erfahrungen des 19. Jahrhunderts
in eine verzeichnende mythische Ferne rücken und „essenzialisieren“,
lässt sich kaum bezweifeln. Aber „hört“ man
es auch, wenn jemand zum Antisemiten oder auch nur zum Agitator
wird. Adornos These lautete bekanntlich, der lügnerische Wagner
wird auch als Musiker schlecht. Jede Form von Gewalt äußert
sich als Kitsch, die Verblendung bedarf keiner Einsicht oder Intervention
von außen, sie hinterlässt ihre Spuren in der Partitur.
Wie aber stellt sich die Wahrheitsfrage in der Pop-Musik?
Vor Rostock-Lichtenhagen war Diederichsen offenbar der Meinung,
wer die richtigen Turnschuhe trägt und sich bei seinem HipHop-Konsum
nach den SPEX-Redaktion-Charts richtet, kann kein Ausländerfeind
sein. Dabei hatte doch schon Kubrick in „Clockwork Orange“
vorgeführt, wie sehr sich ein verpoppter Ludwig van (Beethoven)
als Soundtrack von Schlägereien und Begleitmusik für lustvolles
gang-raping eignet.
Authentizität wird aber schon vor dem Exzess zum Problem.
Wie ist es, wenn BWL- und Art school-Absolventen den „street
fighting man“ geben? Muss jeder Aufruf zur Revolte autobiographisch
verbürgt sein? Oder kann ein Text beziehungsweise Sound radikaler,
auch „ehrlicher“ sein als sein Interpret?
Die große Jazz- und Blues-Musik der 40er- und 50er-Jahre
fand ihre erste Anerkennung in den europäischen Metropolen.
Wie konnte die düstere Erfahrung der rassistischen Erniedrigung,
der entkörpern den Schwerarbeit oder auch der Ghetto-Drogenhöllen
zum Auslöser der hedonistischen Jugendrebellion der Swinging
Sixties werden. Wie „wahr“, wie „authentisch“
konnte es sein, wenn die Rolling Stones Muddy Waters oder Willie
Dixon nachsangen, von den härteren, (selbst)mörderischen
Fällen anomischer Jailhouse-Blueser und -Jazzer ganz zu schweigen.
Und: Ist es überhaupt (und wenn ja, warum) wichtig, dass ein
Pop-Song selbst erlebt und vom Interpreten so und nicht anders gemeint
ist? Ist es obszön, wenn Eric Clapton durch ,,I shot the Sheriff“
zum Millionär wird? Was wissen Pop-Musiker und -Massen vom
jamaikanischen Elend? Und könnte so ein Wissen überhaupt
einen Hit begründen? Ist sein Geheimnis nicht vielmehr ein
Nicht-Wissen-Wollen? Profitiert die jeunesse dorée des radical
chic nicht von einer Situation der existenziellen Ausweglosigkeit,
die, wie sie genau weiß, nie die ihre sein wird? Ist nicht
jede Form von Intensität, zumindest in kulturindustriellen
Kontexten, notwenig vampirisch und parasitär?
Weil es so ist, und weil dieses Wissen für eine verhohlene
Scham sorgt, werden die, von denen man glaubt und zu wissen meint,
dass sie das sind, wovon sie singen, rasch zu Heiligen oder zumindest
zu heiligen Sündern. Spätestens dann, wenn sie alt und
vom Leben gezeichnet sind. Und endgültig, wenn sie tot und
ikonenfähig sind.