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nmz-archiv
nmz 2003/10 | Seite 18
52. Jahrgang | Oktober
Repertoire
Rein und abstrakt
Pierre Schaeffer ist ein Pionier in der Musik des 20. Jahrhunderts
gewesen. Unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg begründete
er – später mit Pierre Henry – den Club d‘Essai
innerhalb des nationalen französischen Rundfunks. Damals als
der Rundfunk noch ein technisches und ästhetisches Experimentierfeld
war, arbeitete Schaeffer an der Montage und Verfremdung vorliegender,
realer, eben konkreter Klänge. Zwar war Schaeffer nicht der
erste Musikmixer in der Musikgeschichte – die Priorität
in dieser Hinsicht dürfte wohl Walter Ruttmann mit „Weekend“
aus dem Jahr 1930 gebühren – aber die Arbeiten Schaeffers
gehen über die reine Montage-Techniken Ruttmanns weit hinaus.
Was bei Ruttmann Bild und Geschichte ist, wird bei Schaeffer zu
einer eigenen Poesie aus konkreten Klängen. Die Arbeit wird
bei ihm akustisch und in einer eigenen Art und Weise ausdrucksstark,
einer Klangzumutung gewissermaßen, die man sonst nur in der
abstrakten Komposition mit Tönen heimisch wähnte. Tote
Klänge werden emotional eingefärbt. Zum Beispiel in den
„Quatre études de bruits“ von 1948.
In der ersten Etude (Etude violette) mischen sich kleinere Loops,
die in sich auch noch dynamisch reich variieren, mit langen Klängen,
die eine gewisse Düsterkeit ausstrahlen. Das alles gewinnt
Schaeffer aus den Klängen eines Klaviers. Die musikalische
Präparation des Klaviers erfolgt hier auf eine andere, gleichwohl
fasziniernde Weise wie bei John Cage einige Jahr zuvor. Das Klavier
so zu hören, ist durchaus bahnbrechend gewesen. Im Zentrum
des musikalischen Schaffens von Schaeffer steht die berühmte
Studie, die er zusammen mit Pierre Henry herstellte, die „Symphonie
pour un homme seul“. Eine Sinfonie schon, irgendwie, aber
in einer Abgründigkeit und Andersartigkeit, wie sie das symphonische
Orchester nicht bieten kann. Solo oder allein? Der Mensch? Für
ihn dieses Werk, das keine Apologie und keine Katharsis kennt. Allein
in dieser Welt, dieser Mensch. Heimatlos.
Oder das letzte Stück von 1979 „Bilude“ für
Klavier und Tonband (Dauer 2‘17“) unter Verwendung des
zweiten Präludiums aus dem „Wohltemperierten Klavier“
von Johann Sebastian Bach. Das fängt zunächst ganz harmlos
an im Originalton, der dann phrasenweise klanglich verfremdet wird
und sich ebenso mit dem Klang von Radkappen sich selbst durchbricht.
Das ist freiwillig komisch, aber auch noch düster, wenn vor
der Stretta ein Eisenbahnpfeifen aus den frühesten Arbeiten
hineinklingt.
Zwischen diesem musikalischen Schlussstein und den frühen
Arbeiten liegen einige Stücke aus den Jahren 1958-1959, die
weitaus abstrakter wirken. Die technische Ausstattung ist erheblich
verbessert worden. Die Klänge klingen reiner und abstrakter
– konkrete Ursprungsklänge sind kaum noch erkennbar.
Nicht mehr Schallplatte war der Ausgangspunkt für das musikalische
Bearbeiten des Klangmaterials, sondern wirklich der erzeugte Klang,
der nun weniger semantische Mitschwinganteile besitzen sondern für
sich leben muss – durch die Arbeit des Komponisten. Damit
sind sicher viel komplexere musikalische Verstrickungen möglich.
Die Musik verobjektiviert sich zusehends – oder zuhörend.
Der Rezensent will nicht verhehlen, dass gerade auch die klangliche
Unzulänglichkeit der frühen Werke ihren ausdrücklichen
Reiz hat, selbst das Knistern der frühen Werke sagt mehr aus
als die nackte Stille des späteren Werks. Gleichwohl sind einige
Stücke in revidierter Fassung auf der CD. Zu danken ist es
den Nacharbeitern, dass sie die „Aura“ der Stücke
erhalten haben. Unter den Revisionären finden sich klangvolle
Namen wie Bernard Parmegiani, François Bayle, Pierre Henry.
Die Resultate all dieser Arbeiten Schaeffers, der 1995 starb,
liegen seit 1998 in einer Kassette mit drei CDs vor. Keinesfalls
etwas fürs Archiv, sondern sehr lebendige Musik.
Martin Hufner
Pierre Schaeffer: L‘Œuvre musicale
EMF CD 010 – Musidisc 292572