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nmz-archiv
nmz 2003/10 | Seite 21
52. Jahrgang | Oktober
Bücher
Fundiert Fahrt aufnehmen ins Reich der Musik
Maria Seeligers „Musikschiff“ im ConBrio Verlag –
Standardwerk zur musikalischen Früherziehung
Maria Seeliger: Das Musikschiff. Kinder und Eltern erleben
Musik. Von der pränatalen Zeit bis ins vierte Lebensjahr
(ConBrio Fachbuch Bd. 10), ConBrio Verlagsgesellschaft, Regensburg
2003, 430 S., Abb., Notenbeispiele, CD, € 39,00, ISBN 3-932581-59-8.
Seit
der PISA-Studie und ihren deprimierenden Ergebnissen sind Forderungen
nach einer frühen Förderung unserer Kinder wieder in das
öffentliche Interesse gerückt. Müssen wir nicht viel
früher mit dem Lernen anfangen, nämlich schon in den ersten
Jahren, wenn die Kinder am lernfähigsten und aufnahmebereitesten
sind, wie uns die Hirnforscher sagen? Müssen wir nicht viel
mehr investieren in die Ausbildung von Erziehern und Erzieherinnen
wie in die Bereitstellung von Früherziehungsangeboten? Ja,
das müssen wir zweifellos und für die musikalische Früherziehung
hat Maria Seeliger ihr Musikschiff klar gemacht, das Eltern und
Kinder auf eine Erkundungsfahrt ins Reich der Musik mitnehmen möchte.
Ihr Buch ist dem Geheimnis „Kind“ gewidmet, das sie
dann aber doch in seiner Entwicklung zu entschlüsseln sucht.
In den ersten drei Teilen gibt das Buch eine allgemeine Orientierung
für die Kindergruppenarbeit. Das erste Kapitel „Bedeutung
und Organisation einer Eltern-Kind-Gruppe“ führt in Organisation,
Aufbau und Zielorientierung der Eltern-Kind-Arbeit ein. Im zweiten
Kapitel „Theoretischer Hintergrund und praktische Anwendung“
werden das psychoanalytische Entwicklungsmodell Daniel Sterns und
die Lerntheorie Edwin Gordons vorgestellt, woran sich im dritten
Kapitel „Einblick in das kindliche Leben“ eine Beschreibung
der kindlichen Entwicklung von der pränatalen Phase bis zum
Kindergartenalter anschließt. Dabei gelingt es Seeliger, Eltern
und Erzieher einfühlsam mit der kindlichen Entwicklung vertraut
zu machen, ohne sie allzu sehr mit Details empirischer Forschung
und wissenschaftlicher Theoriebildung zu überfordern. Unter
Zuhilfenahme ausgewählter Erklärungsmodelle bietet sie
den Lesern Einblicke in die unterschiedlichen Vorgänge im heranwachsenden
Kind.
Am interessantesten und anregendsten für Erzieher/-innen
erscheint mir der abschließende vierte Teil, in dem die Autorin
je sieben konkrete Stundenmodelle für die verschiedenen Alterstufen
(von Geburt bis 18 Monate, 18 bis 36 Monate, 36 bis 48 Monate) mitteilt,
die aus langjähriger pädagogischer Praxis erwachsen sind,
was man beim Lesen jeder Zeile spürt, und die denen viele wichtige
Anregungen bieten, die in der Eltern-Kind-Gruppenarbeit tätig
sind oder dies werden wollen. Mit der notwendigen Genauigkeit bei
aller Offenheit sind die einzelnen Vorgänge im Stundenablauf
beschrieben, werden didaktische Impulse gegeben, Handlungsanleitungen
vermittelt und Erfahrungsmöglichkeiten angedeutet. Die große
Zahl von Liedern und Übungs-Patterns zusammen mit anschaulichen
Bildern („Szenenfotos“) macht diesen Teil zu einem wertvollen
Leitfaden für die Arbeit mit Eltern und Kindern.
Dabei steuert Seeligers Musikschiff einen lebensorientierten,
ganzheitlichen Kurs, bei dem es um die Erfahrung und das Erleben
von Musik mit allen Sinnen in vielen sozialen Situationen mit unterschiedlichen
kommunikativen Bedingungen geht. Im Unterrichtsablauf wird „die
Atmosphäre und die Grundstimmung, in der alles geschieht, entscheidend“
(S. 245). Ihr Ziel ist es, „Bedingungen des Wachsens“
zu schaffen und nicht zu „ziehen“ (wozu das Wort „er-ziehen“
verleiten könnte) (S. 246). Im Grundsatz verfolgt sie eine
organische Balance von Führen und Folgen, geleitetem und freiem
Tun, von bewegten und ruhigen Phasen (S. 247). Ihr pädagogisches
Konzept ist dabei ebenso der rhythmischen Erziehung wie einem psychoanalytischen
(D. Stern) und musiktherapeutischen (H. H. Decker-Voigt) Ansatz
verpflichtet. Die lerntheoretischen Grundlagen Edwin Gordons werden
dabei zwar ausführlich beschrieben (Kap. 2), gehen aber nicht
explizit in die Darstellung der kindlichen Entwicklung ein (Kap.
3), obwohl gerade die Verbindung von Lerntheorie und Entwicklungsprozess
der elementaren Musikpädagogik innovative Impulse geben könnte.
Implizit zeigt sich in der methodischen Anlage der einzelnen Unterrichtsmodelle
jedoch, wie die lerntheoretischen Vorgaben verinnerlicht worden
sind.
Mit ihrem ganzheitlichen Konzept geht es Maria Seeliger nicht
allein um musikalisches Lernen, sondern um die Integration von Musik
in den gesamten Entwicklungsprozess des Kleinkindes. Daher sind
alle Tätigkeiten und Inhalte in den Gruppenstunden besonders
auf physisches und psychisches Wohlbefinden, auf kommunikative Kontakte,
personale Stärkung, positives Selbstempfinden und emotionales
Erleben gerichtet. Dies wird dann in Spiel und Sprache, Tanz und
Bewegung, durch Singen und Hören, mit Klängen und Geräuschen
umgesetzt. Begleitmaterial dazu enthält die beigefügte
CD „Musik zum Tanzen und Träumen“ mit 17 kurzen
Beispielen unterschiedlichen Charakters aus Barock, Klassik, Romantik
und überwiegend aus dem Bereich der Folklore. Zusammen mit
umfangreichen Literaturhinweisen auf Materialsammlungen zum Singen,
Spielen und Tanzen bietet das Buch eine solide Arbeitsgrundlage
und macht es zu einem wichtigen Sach- und Fachbuch für Musikpädagogen
in der Früherziehung, das über praktische Anregungen hinaus
auch entwicklungspsychologische Hintergründe aufzeigt und Verhaltensformen
beschreibt, die dem besseren Verstehen der kindlichen Entwicklung
dienen und die Früherziehungsarbeit vertiefen helfen.