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nmz-archiv
nmz 2003/10 | Seite 21
52. Jahrgang | Oktober
Bücher
Dem Manifest einer Bewegung auf der Spur
Abenteuer Alte Musik: Nikolaus Harnoncourt und sein Concentus
Musicus
Milan Turkovic/Monika Mertl: Die seltsamsten Wiener der Welt.
Nikolaus Harnoncourt und sein Concentus Musicus – 50 Jahre
musikalische Entdeckungsreisen Residenz Verlag, Salzburg 2003, 150
S., € 29,90, ISBN 3-7017-1267-0
Die Geschichte liegt lange, lange zurück und Nikolaus Harnoncourt
erzählt sie immer wieder gern. Ein Bekannter hatte ihm von
der Existenz einer rätselhaften Schatulle berichtet, die auf
einem Schloss in Niederösterreich gefunden worden war und merkwürdig
durchbohrte Holzstücke enthielt. Eines Abends erschien er im
Hause Harnoncourt mit eben jener Schatulle unterm Arm. Als Harnoncourt
sie öffnete, fand er darin eine funkelnagelneue Flöte,
jungfräulich, nie gespielt – mehr als 200 Jahre alt!
Sie war ein Werk des Instrumentenbauers Carl August Grenser, der
als einer der bedeutendsten Flötenmacher des achtzehnten Jahrhunderts
in Deutschland galt und auch zahlreiche Instrumente an den Preußischen
Hof geliefert hatte. Nun war einer der Vorfahren jenes Schlossbesitzers
in Niederösterreich ein General, der im Siebenjährigen
Krieg eine Schlacht gegen Friedrich II. verloren hatte. Dieser selbst
überreichte ihm als ritterlichen Trost besagte Schatulle. „Was
waren das wohl für Kriege“, fragt Nikolaus Harnoncourt
zum Abschluss dieses Berichts, „in denen feindliche Heerführer
einander Flöten als Andenken schenkten!“
Das Buch „Die seltsamsten Wiener der Welt“ ist im
Residenz-Verlag erschienen, wo die Musikjournalistin Monika Mertl
erst kürzlich eine Biografie Nikolaus Harnoncourts veröffentlicht
hatte. Gemeinsam mit Milan Turkovic, einem Mitglied des Concentus
Musicus, machte sie sich nun daran, die Geschichte dieses Orchesters
aufzuschreiben, das in seiner kompromisslosen Anwendung von Originalinstrumenten
heute zu den bedeutendsten seiner Art zählt. Der Titel des
Buches geht auf eine Schlagzeile der „Süddeutschen Zeitung“
zurück, in der ein Kritiker 1976 schrieb: „Daß
diese Extremisten des Purismus, diese Fanatiker der alten Instrumente
und Spielweisen justament aus Wien kommen, der Stadt des ,Laisser
faire‘, erstaunt mehr als Bananen vom Nordpol oder Robbenfänger
aus Kamerun…“
Ein halbes Jahrhundert ist vergangen, seit Nikolaus Harnoncourt
mit seiner Programmschrift „Zur Interpretation historischer
Musik“ einer Bewegung das Manifest lieferte, die, obwohl zunächst
belächelt und später heftig umstritten, in jenen Jahren
ihren unaufhaltsamen Siegeszug antrat. Dass sie heutzutage über
alle Anfechtungen erhaben ist und, ganz im Gegenteil, hohe Wertschätzung
genießt, ist das Ergebnis langer, harter Arbeit und eines
unbeirrbaren Optimismus. Über die Schwierigkeiten und Höhepunkte
dieses Weges haben sich Monika Mertl und Milan Turkovic mit den
Akteuren, dem Concentus Musicus, und ihren Weggefährten unterhalten.
Immer, das schildern die Gesprächspartner der beiden Autoren
beinahe übereinstimmend, beherrschten Aufbruchstimmung und
Entdeckergeist jede Unternehmung. 1960 entstanden zum Beispiel für
das Label „Amadeo“ die Aufnahmen der „Phantasien
für drei bis sieben Gamben“ von Henry Purcell. Harnoncourt
erinnert sich an diese Aufnahmen: „Sicher sind sie inzwischen
noch ein paar Mal aufgenommen worden von den inzwischen gegründeten
Gambengruppen. Das sind gewissermaßen Standardwerke geworden.
Aber wir waren vielleicht die ersten seit Purcell, die das wieder
auf Gamben gespielt haben!“
Gerade dem so bedeutenden Komplex der Schallplattenaufnahmen gilt
ein ausführlicher Teil der Erinnerungen. Hier leisteten Harnoncourt
und sein Concentus Musicus geradezu Bahnbrechendes. Ob Telemanns
„Tafelmusiken“, die „Marienvesper“ Claudio
Monteverdis oder das Mammutprojekt der kompletten Bachkantaten,
das über einen Zeitraum von nahezu 20 Jahren in Zusammenarbeit
mit Gustav Leonhardt und dessen Ensemble entstand.
Jene, deren Begeisterung und Interesse für die so genannte
Alte Musik über die Jahre gewachsen ist und sich gefestigt
hat, werden die Interviews und Berichte von Monika Mertl und Milan
Turkovic wie das „Who is who“ der Alten-Musik-Szene
lesen. Gleichwohl erfährt man auch: Diese Szene hat es eigentlich
nicht gegeben, es sei denn, man fasst die miteinander konkurrierenden
Ensembles als solche zusammen. Peter Weiser zum Beispiel, seinerzeit
Generalsekretär des Wiener Konzerthauses, schildert die Situation
ausführlich: das Ringen um Auftrittsorte und den Streit um
die schon damals dürftig ausgestatteten Subventionstöpfe.
Die anstrengende und aufregende Suche nach Originalinstrumenten
und schließlich der Streit um die Lehre des „Glaubens
an den reinen Klang“ taten ein Übriges. All das findet
man kurzweilig und anschaulich beschrieben in diesem Buch. Ein Personenregister
hilft, auf die Namen der Akteure im Text schnell zugreifen zu können.
Der aussagekräftige und zugleich unterhaltende Bildteil reichert
das Lesevergnügen an. Harnoncourt selbst steuerte ein handschriftlich
gefertigtes Verzeichnis aller Aufnahmen des Concentus Musicus bei.
Die Zeittafel sowie eine beigelegte CD mit Musikbeispielen und Gesprächsausschnitten
mit Nikolaus Harnoncourt vervollkommnen das ansehnlich ausgestattete
Buch. Es ist kein Kompendium für „Fachidioten“,
sondern eine ermunternde Einladung für Enthusiasten und Interessierte
gleichermaßen, sich auf das Abenteuer „Alte Musik“
einzulassen.