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nmz-archiv
nmz 2003/10 | Seite 17
52. Jahrgang | Oktober
Rezensionen
Droge Langspielplatte
Vinyl boomt in Berlin wie nie seit den 80ern
Ich bin ein Vinyl-Junkie und habe als solcher meine Existenzkrise
bereits hinter mir. Das war Ende der 80er-Jahre, die Vertreter der
Musikvertriebe kamen und gingen, aber niemand von ihnen konnte Neuerscheinungen
auf Vinyl besorgen. Die hoffnungslose Zeit wurde nur durch sensationelle
Ankäufe überbrückt, insbesondere wenn Sammler auf
CD umstiegen und mir ihre Raritäten zu Schleuderpreisen überließen.
Einmal konnte ich 16 seltene Mingus-LPs von einem Altfreak abstauben,
unter anderem die damals hoffnungslos vergriffene „Mingus
plays Piano“. Englische Lieferanten witterten als Erste die
bestehende Marktlücke und zogen Mitte der 90er die Vinylproduktion
neu an. Während aktuell die CD-Verkäufe in den Keller
sinken, betrete ich bei meinem Berliner Rundgang freudestrahlend
Fachgeschäfte randvoll mit Alben, LPs, Singles, EPs und 12“
Maxisingles.
Objekte der Begierde präsentiert
in liebevollem Ambiente: Berliner Vinyl-Fans im Kaufrausch
im Soultrade. Foto: Ingo Scheffler
In Neukölln erhalte ich den ersten heftigen Adrenalinstoß
im DJ-Treff Soultrade (Sanderstraße). Der Laden ist derart
voll mit Vinyl-Neuerscheinungen, dass man sich kaum bewegen kann.
Verkauft wird HipHop, TripHop, Soul, House und Jazz – ungefähr
in dieser Reihenfolge und in jeder denkbaren Kombination. Ich finde
das psychedelische Cannonball Adderley Sternzeichen-Album „Soul
Zodiac“ (1972, 2nd Hand) und kaufe dazu „Zodiac Blowfly“
(1978, Reissue), Sex-Orakel von Blowfly, dem Schweinepriester des
Funk. Der Plattenverkäufer preist mir dazu das Freeform Arkestra
„Metamorphosis“ (2003) als genialen Free Jazz an. Unter
seiner Baseballkappe verwechselt er Free und Crossover, aber das
Album nehme ich trotzdem mit. Anschließend spaziere ich in
das zwei Straßen entfernte No Name Räkortz (Lenaustraße),
wo es nicht so hip, aber dafür mit Trödler-Flair zugeht.
Auch hier wieder ein Volltreffer! M’Booms „Collage“
von Max Roach (1984, 2nd Hand) wechselt in meinen Besitz über.
In der Bergmannstraße gibt es zwei Einzelhandelsrelikte
aus den chaotischen 80ern. Im Logo entdecke ich die John Coltrane
Live-LP „Afro Blue Impressions“ mit dem erschütternden
Spiel von Elvin Jones zu „Cousin Mary“ (1977, 2nd Hand).
Im halbdunklen MOT steht „Monster Movie“ von Can (1969,
Reissue), den Vordenkern des außergewöhnlichen Versuchs.
In der Zossener Straße begutachte ich im Scratch „Nana
Mouskouri in New York“ (1962, Reissue), die ich stehen lasse,
obwohl Quincy Jones ganze Arbeit geleistet hat. Dafür stecke
ich den „Pink Panther“-Soundtrack von Henry Mancini
(1963, Reissue) und „Sunrise over Brooklyn“ (2003),
eine düstere 12“ EP aus dem zeitgenössischen New
York von William Parker und Matthew Shipp mit einer Leerseite (!)
ein.
Nebenan, in der verschlossen wirkenden Space Hall gibt es tonnenweise
Elektronisches. Dem Jazzfan mit aufgeschlossenen Ohren kommt Refuse
73 „One Word Extinguisher“ (2003) und Fjd2 „Deadringer“
(2003) entgegen. HipHop mit experimentellem Charakter verkauft sich
gut in der Szene. Hier erlebe ich auch meine erste herbe Enttäuschung.
Doctor L „Monkey Dizzyness“ (2003) ist tatsächlich
nur auf CD erhältlich. Schräg gegenüber im RAW stoße
ich endlich auf die Matthew Herbert Big Band: „Goodbye Swingtime“
(2003), ein absolutes Muss.
Jetzt bin ich im Kaufrausch! Im Prenzlauer Berg in der Kastanienallee
werde ich in der Station B von einem großen Packen Cinematic
Orchestra „Man with a movie camera“ (2003) empfangen.
Das Orchester hat zuletzt in der Volksbühne den gleichnamigen
Film vertont und anschließend einen hinreißenden DJ-Set
hingelegt. Jeder liebt sie, auch im OYE um die Ecke in der Oderberger
Straße, wo ich den nächsten Kracher finde: Das Quantic
Soul Orchestra entwickelt sich mit „Stampede“ (2003)
von der DJ-Schiene zu einer Funkband mit Kultstatus zurück.
Am Regal neben mir langt Christian Kellersmann, Jazzchef bei Universal,
in die Kiste mit Brazil-Importen. Ich aber spare für das Finish.
Zurück in der Kastanienallee lasse ich meine letzten Cents
im Laden mit der besten Second-Hand-Jazzauswahl. Im Da Capo finde
ich Thelonious Monk „Genius of Modern Music Vol.2“ (1948)
und Herbie Nichols „The Third World“ (1956) jeweils
als Blue Note Reissue Second Hand und wirklich günstig. Mir
tanzt Farbe vor den Augen, ich halte dicke amerikanische Pappe zwischen
den Fingern. Die Cover sind kleine Kunstwerke und künden von
großartiger Musik. Zurück zu Hause läuft der Rosarote
Panther auf dem Kinderplattenspieler meiner Tochter und wir tanzen
gemeinsam Freestyle zu den wahnsinnigen Bläsersätzen.
Während CDs ihre Sammler schon nach zehn Jahren mit Datenverlusten
im Stich lassen, wird sich diese Platte noch bei meinen Enkeln ohne
Probleme im Kreis drehen.