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nmz-archiv
nmz 2003/11 | Seite 33-34
52. Jahrgang | November
Oper & Konzert
Die Neue Musik auf der Flucht vor sich selbst
Anmerkungen zu den diesjährigen Donaueschinger Musiktagen
· Von Reinhard Schulz
Dass die musikalische Avantgarde heute, soweit man überhaupt
noch von ihr sprechen kann, kaum mehr Ziele oder Visionen ihr eigen
nennt, ja solches Ansinnen gerne als Sünde der Väter belächelt,
ist mittlerweile keine Überraschung mehr. Um aber ihrem Tun
den Anstrich von Innovation zu geben, greifen viele Komponisten
gerne auf außermusikalische Unterfütterung zurück.
Die Attraktion medialer Verflechtung greift – und wenn gar
noch „multi“ davor steht, dann glaubt man die Gewähr
für Produkte auf der Höhe der Zeit automatisch mit einzupacken.
Zumindest in diesem Sinne waren die Donaueschinger Musiktage 2003
ein Spiegel heutigen musikalischen Bewusstseins.
Flügel-Explosion in
der Donau-Quelle: Georg Nussbaumers Installation in Donaueschingen.
Foto: Charlotte Oswald
Freilich, um ein Wort aus der Politik zu benutzen, schafft man
oftmals mit diesen Mitteln nicht Reichtum, sondern allein die Verwaltung
von Armut. Und etliche Male hatte man diesmal den Eindruck, dass
sich die Musik auf der Flucht vor sich selbst befindet. Hatte man
im Musiktheater des 18. Jahrhunderts noch heftigst über den
Gegensatz „Prima la parola – Prima la musica“
debattiert, ja gerungen, so gibt heute die Musik immer wieder aus
innerer Ratlosigkeit klein bei. Sie ist Akzidenz, ist Beilage zum
Videobild, zur theatralen Geste, zum mystischen Konstrukt oder zur
wissenschaftlichen Befragung akustischer Räume oder von physikalischen
Hörvorgängen. Nicht dass hier gegen solche Ansätze
das Wort erhoben werden sollte, sie können durchaus Per-spektiven
weisen oder verändern. Wenn aber das musikalische Ergebnis
immer wieder hinter auch schon niedriger gehängten Ansprüchen
zurück bleibt, dann stimmt etwas nicht. Noch immer sind wir
in Donaueschingen auf Musik-Tagen mit Betonung auf dem ersten Wort.
Es waren insbesondere die ersten beiden Tage von den beiden Eröffnungs-Performances
weg, die diese Beobachtungen nahe legten. Der Musik-Asket Antoine
Beuger begann um 16 Uhr (aus Ausdauergründen selbstverständlich
zusammen mit anderen Sprechern) eine Lesung auf einen Text von Oswald
Egger, die sich über 48 Stunden hinziehen sollte: „wort
für wort (geraum)“ – Tag- und Nachtwachen mit zirka
vier ausdruckslos gesprochenen Worten pro Minute. Und um 18.30 Uhr
fand Vadim Karassikovs Klavier/Violin/Klarinetten-Stück „Beyond
the Boundary of Silence“ statt (man sträubt sich zu sagen:
es erklang). Ein Blick in die Partitur lässt hochkomplexe Strukturen
erkennen, die auch einen Ferneyhough beschämen müssen.
Was man beim flüchtigen Überschlagen nicht sogleich sieht,
sind die verwegen langen Pausen und auch die Anweisungen, vieles
mit der Lautstärke Null zu spielen. Also waren eine halbe Stunde
lang die Musiker des Klangforum Wien zu beobachten, die hochkonzentriert
und wie erstarrt zu 99 Prozent nichts produzierten – dies
aber mit äußerster Anspannung. Das Konzept, das der Russe
Karassikov mittlerweile zum eigenen Mythos erhebt, hat durchaus
spannende Momente, weit mehr aber läuft es Gefahr, zum selbstläufigen
Eklektizismus zu werden. Ein pubertärer Habitus drängt
sich auf, da die Dringlichkeit des Gedachten (im Gegensatz etwa
zu Cage oder auch zum frühen Lachenmann) nicht kenntlich wird.
Nun folgte freilich das Eröffnungskonzert, also „richtige“
orchestrale Musik. Doch das „Orchestre Philharmonique de Radio
France“ unter Emilio Pomárico erwies sich als Enttäuschung.
Das betraf vor allem Walter Zimmermanns Dreher-Phantasie „Subrisio
saltat I“, in der dreißig fränkische Dreher beharrlich
rhythmisch verhoben werden. Ob es zu neuem Tanz-Körpergefühl
von subkutanen Unwuchten führen kann (man darf es annehmen)
ließ sich im holprigen Unverständnis des Orchesters nicht
vernehmen. Der (exzellente) Solo-Cellist Lucas Fels war zu bedauern.
So blieb einzig, diesmal mit mehr Engagement gespielt, die „Nachtmusik
II“ von Emmanuel Nunes, eine Neufassung des Werks aus dem
Jahr 1981. Das Enigma dichter Strukturen, die sich am Schluss flächig
in Geläut auflösen, entschädigte.
Die Zweifel aber blieben – nicht zuletzt, weil der Samstag
reichlich Nachschub lieferte. Das war das Klammer-Projekt „Musik
für Hunde“, das sich über mehrere Nebenschauplätze
(Klangsäulen in der Stadt bei Ablinger, ein betont unappetitlich
auswurfartig drapiertes Klavier im WC der Donauhallen bei Georg
Nussbaumer) im Morgenkonzert fokussierte. Ablinger geht seinen Weg,
er erstellt oder sammelt Spektralgeräusche, tastet sie instrumental
ab. Leere, Weite, Perspektive sind seine Themen, nicht die klingenden
Resultate sind das Zentrum, sondern den Raum, den sie schaffen.
Die beiden anderen Arbeiten, „Zwischen Schwarz und Rot“
von Rolf Julius und „Von der Wiege bis zum Graab“ von
Georg Nussbaumer erwiesen sich als musikalisch irrelevant. Bei Nussbaumer
konnte man zumindest noch die Bühnenbausituation mit drei Männern,
die mit penismeinenden Dreimeter-Stangen zwischen den Beinen einen
Flügel clusterartig anschlugen und mit einem gestrichenen Saitenwerk,
das vom Flügel ausging und über ein Gestell mit Schweinszungen
beschwert wurde, bewundern: viel Assoziation, der Flügel als
Wiege und Bahre, Zunge und Penis als Erregermomente, ein auf den
Flügeldeckel projizierter Abfluss als Verfließen der
Zeit. Letztlich waren alles Totläufer.
Also zum Nachmittagskonzert: zwei Mal mit Video. Hübsch machte
das Pierre Jodlowski in „People/Time“, wo Gesichter
computeranimiert sich verändern, altern oder ineinander übergeführt
wurden. Der Betrachter verfolgt das mit der Aufmerksamkeit, mit
der er vor gut zehn Jahren die sich wandelnden geometrischen Figuren
auf dem Bildschirm betrachtete. Die Musik, die hier nötiger
denn je für Vertiefung hätte sorgen sollen, blieb Beiwerk
– eine Beobachtung, die in Arnulf Herrmanns „Panorama“
über die letzten elf Sekunden eines Lebens eventartig repliziert
wurde. Dazwischen lag Enno Poppes „Rad“ für zwei
Keyboards, Musik hochvirtuoser Komplexität mit garantierter
Wirkungsqualität. Die programmatisch ständig veränderten
Stimmungssysteme, die Komplexe von Summen- bzw. Differenzklängen,
die manisch gestaffelte Rhythmik treiben alles Geschehen ins Undurchschaubare.
Der Hörer wird von so viel Fliehkräften des Rads überwältigt.
Die einzige Waffe, die ihm bleibt und die er auch zieht: Alles klingt
nach kalter Oberfläche, ein gleißende Fläche, die
betört und zugleich die Augen (die Ohren) verschließt.
Hört die mit dem Walkman aufgewachsene Generation so –
nach Effekt ohne Hintergrund? Es kann sein (hoffen wir es), dass
hier eine neue Basis (wie durch die Dreiklangsraketen der Mannheimer)
entsteht. Immer noch aber fragte man sich nach einem Ort, wo sich
Musik ereignet – und fand im Jazz-Abend vor allem in Evan
Parkers „Set“ für Elektro-Akustisches Ensemble
erste Entschädigung. Und immer noch, das hatte schon fast etwas
Versöhnliches, war Antoine Beuger mit seiner Lesung verborgen
zugegen.
Die beiden Konzerte des Sonntags holten dann doch einiges auf.
Da war der junge Russe Sergej Newski mit einer wohl noch auszubauenden
Komposition „Fluss“ für Sprecher und Ensemble,
das einen kühn eigenständigen Ton, rücksichtslos
gegenüber Avantgarde-Konventionen anschlug. Eine hoffnungsvolle
Begabung kündigte sich an. Und da war Dror Feilers „Point-Black“,
das in vom Komponisten gewohnter Massivität und Klangballung
den Zorn über den Zustand der heutigen Welt herausschrie. Beim
Orchester-Abschlusskonzert (gewohnt engagiert das SWR Sinfonieorchester
unter Sylvain Cambreling) fiel neben Isabel Mundrys intensiven Raumstück
„Penelopes Atem“, wunderschön gesungen von Salome
Kammer, vor allem „natures mortes“ von Georg Friedrich
Haas auf. Haas, das belegte auch seine eben in Bregenz uraufgeführte
Poe/Kafka-Oper „die schöne wunde“, hat in letzter
Zeit eine ganz neue Sicherheit gefunden. Das feine, mikrotonale
Schwankungen auskostende Ohr lässt sich nicht mehr zwanghaft
ein auf Attitüden des kritisch gebrochenen Klangs, sondern
lebt sich aus, wagt beatartige Rasterrhythmen und klare Durchschaubarkeit
der Disposition. Musik wuchs in sinnlicher Direktheit, im ebenso
sicheren, wie filigran durchgestalteten (Spektrum bis etwa zum 64.
Oberton!) Zugriff. Haas zeigte auf, wie viel Potenzial im Klang
steckt (er ist unerschöpflich!) ohne auf verschämte Auswege
über das Bild oder die mystische Verbrämung greifen zu
müssen. Das tat doppelt gut, denn man war in Donaueschingen
schon ins Zweifeln gekommen.
So konnte man sich einigermaßen beruhigt zu Luciano Berios
intensiv gehörten Stück „Chemins I“, einer
orchestralen Reflektion seiner Harfen-Sequenza, zurücklehnen.
Musik hat von ihrer eigenen, unmittelbaren Wirkungskraft nichts
verloren. Beim Zurückdenken auf die ersten beiden Tage der
Donaueschinger Musiktage erhebt sich freilich die Frage: Wie lange
noch?