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nmz-archiv
nmz 2003/11 | Seite 35
52. Jahrgang | November
Oper & Konzert
Ein Dorf voller Vorfahren im Genick
Unkonventionelles Festival: „Klangspuren“ in Schwaz/Tirol
„Two beer(s) or not two beer(s)“: Wohl kaum ein besseres
Motto hätte man für den diesjährigen nordischen Programmschwerpunkt
der Tiroler „Klangspuren“-Reihe finden können als
die ironisierende Frage des estnischen Komponisten Erkki-Sven Tüür.
Zeichnet dieses eigenwillige Festival für zeitgenössische
Musik doch eine unkonventionelle Spurensuche aus, die in unterschiedlichen
Grenzgängen oft vielfältigere Richtungen einschlägt
als so manch alteingesessene Avantgarde-Musik-Veranstaltung. „Vom
nordischen Vorposten Estland über die kaurismäkische Trostlosigkeit
Finnlands und den offenen Traditionsbegriff Schwedens bis hin zum
experimentierfreudigen Norwegen“ sollte diesmal die „Klangspuren“-Reise
gehen, die für zweieinhalb Wochen jedes Jahr im Herbst Neue
Musik aller Arten in Tirol verankert. Von der Fleckviehversteigerungshalle
in Rotholz über die Tennishalle in Schwaz, den Swarovski Kristallwelten
in Wattens bis hin zur Fabrikhalle der GE Jenbacher AG reichen die
Veranstaltungsorte, zu denen die einheimische Bevölkerung so
zahlreich strömt, dass oft noch nachbestuhlt werden muss. Die
lokal ansässigen Firmen engagieren sich so nachhaltig, wie
man es woanders kaum findet: 60 Prozent des Klangspuren-Etats sind
Sponsoringgelder, ein Anteil, von dem andere Veranstalter von Konzerten
mit zeitgenössischer Musik nur träumen können.
Mit sinfonisch-klaren Interpretationen von Erkki-Sven Tüür
(„Insula deserta“, „Aditus“, „Magma“)
und Giya Kancheli („Vom Winde beweint“) setzten das
Tiroler Symphonieorchester Innsbruck (Leitung: Georg Schmöhe)
und das Bruckner Symphonieorchester Linz (Dennis Russell Davies)
mit dem Eröffnungs- und Abschlusskonzert sozusagen den klassischen
Rahmen um die nordische Schiene der Veranstaltungsreihe. Die Programmkombination
mit Uraufführungen von Erich Urbanner und Christof Dienz eröffneten
den Dialog mit der heimischen österreichischen Komponistenwelt;
die Experimente aber fanden vor allem im kammermusikalischen Bereich
statt.
Prägnant war die Begegnung des Tiroler Lyrikers Hans Aschenwald
mit seinem Verleger Klaus Wagenbach und dem norwegischen Akkordeonisten
Frode Haltli als Sonntagsmatinee in einem örtlichen Supermarkt.
Die spröden Natur-Motive in Aschenwalds Lyrik trafen sich hier
mit den Volksmusik-Anklängen in der Musik eines Bent Sörensen
oder einer Maja Solveig Kjelstrup Ratkje und zeichneten auf, wie
zwei zeitgenössische Künstler jenseits aller Kitsch-Romantik
die Traditionen ihrer jeweiligen Heimat als Wurzel und Inspiration
für ihr Schaffen begreifen – und gleichzeitig damit vertraute
Wegweiser für die Zuhörer in die eigenwilligen poetischen
Gedankenwelten setzen. Wagenbach gelang es dabei auf witzige und
originelle Weise, die Themenwelt seines neugeworbenen Verlagsautoren
zu charakterisieren („Vielleicht könnte man Ihre Gedichte
als eine neue Umwelthöflichkeit bezeichnen.“) und Aschenwald
sehr persönliche Aussagen über seine Vergangenheit in
„einem ganzem Dorf voll Vorfahren im Genick“ zu entlocken.
In eine ähnliche Richtung ging auch das Nachtkonzert des österreichischen
Ensembles „Super Acht“, das sich kompromiss- und dirigentenlos
der Originalität eines sperrigen Oktettes von Haimo Wisser
oder dem spielerischen „Flaschenachter“ von Gunter Schneider
widmete.
Die größte Überraschung des diesjährigen Festivals
dürfte Christof Dienz Uraufführung „Pyromen“
gewesen sein; ein Werk, in dem durch eine schier unglaublich differenzierte
vielfältige Instrumentation Farbspiel und Schattierungen des
Naturphänomens Feuer in Klänge umgesetzt werden, ohne
dass Dienz je zur platten Bildmetapher greifen würde. Im Bruckner
Orchester Linz unter der Leitung von Dennis Russell Davies hatte
das Werk die optimalen Uraufführungsinterpreten gefunden, die
des Komponisten herbe Balance zwischen klangfarblichen und melodiösen
Anspielungen auf (spät-)ro-mantische Musikgeschichte und abstrakten
Energiezuständen differenziert herausarbeitete.
Fazit: Im zehnten Jahr ihres Bestehens mussten die „Klangspuren“
zum ersten Mal ganz ohne ihren Gründer und langjährigen
Leiter, den Pianisten und Komponisten Thomas Larcher auskommen.
Stattdessen wurde das Programm von der Trias Peter Paul Kainrath,
Maria Luise Mayr und Reinhard Schulz ausgewählt und begleitet.
Diese „demokratische“ Nachfolgeregelung scheint glücklicherweise
zu funktionieren; die Einzelteile des Programmes immer noch harmonisch
ineinanderzugreifen – gute Aussichten für den Osteuropaschwerpunkt
im kommenden Jahr.
Vom 10. bis 25. September 2004 werden sich dann die Klangspuren
dem zeitgenössischen Musikschaffen der neuen EU-Länder
Ungarn, Slowenien und Litauen widmen.