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nmz-archiv
nmz 2003/11 | Seite 36
52. Jahrgang | November
Oper & Konzert
Furcht vor dem Niedergang nationaler Kultur und Identität
Diskussion um Projekt „Europäische Musikbürgschaft“
beim Forum 1 des Deutschen Musikrats beim Warschauer Herbst 2003
Von Warschau aus hat man einen anderen Blick auf das geeinte Europa
als in Brüssel, Straßburg oder Bonn. Das größte
der neuen Beitrittsländer bereichert die Staatenunion um diverserlei
Bevölkerung, es bietet lukrative Absatzmärkte für
westliche Waren und ein Gutteil an nationaler Tradition und Kultur.
Um letztere fürchtet die Elite des Landes, wenn Polen ab Mai
2004 zur EU zählen wird. Ein nichtstaatlicher „Polnischer
Rat der Europäischen Bewegung“ hat im Sommer an die Union
appelliert, die Erweiterung nicht allein nur politisch, landwirtschaftlich
und militärisch zu vollziehen, sondern die Europäische
Einigung in Gestalt von Wissenschaft, Kultur und Bildung noch auf
eine „vierte Säule“ zu stellen.
Die Furcht vor dem Niedergang regionaler Identität und nationaler
Kultur infolge künftig mangelnder Finanzierbarkeit des bislang
Bestehenden ist nicht ganz unbegründet. In den Beitrittsländern
des ehemaligen Ostblocks war und ist Kultur in einem hohen Maß
staatlich subventioniert und verfügt infolge des Übergangs
zur Marktwirtschaft bereits heute über deutlich weniger Mittel
als vor 15 Jahren. Dies jedenfalls verlautbarten Festivalorganisatoren
aus Ungarn, Tschechien und Polen Ende September beim „Forum
des Deutschen Musikrats“ beim Warschauer Herbst. Der polnische
Bürger, so Jerzy Badowski, Sprecher der polnischen Autorengesellschaft
ZAIKS, gebe heute für Kultur weniger Geld aus als vor 1989
– andererseits wachse der Bedarf an öffentlicher Kulturförderung
permanent. Die Tendenz schrittweise sinkender staatlicher Subventionen
bestätigten auch Lidia Geringer-d’Oedenberg, Direktorin
des internationalen Chorfestivals „Wratislava Cantans“,
und der Prager Festivalveranstalter Jarómir Dadak. Tadeusz
Wielecki, Leiter des „Warschauer Herbsts“, beklagt wachsende
Planungsunsicherheit, Szabolcs Kerestes, Sprecher der elektroakustischen
Szene in Ungarn, vermisst das Fehlen staatlicher Förderung
für experimentelle Musik. Auch Klaus Hinrich Stahmer warnte
vor Illusionen jeglicher Art. Der ehemalige Präsident der deutschen
Gesellschaft für Neue Musik schilderte, wie drastisch sich
in Deutschland der Staat derzeit aus der öffentlichen Kulturförderung
zurückzuziehen versucht und wie potenziell gefährdet die
zur Zeit noch üppige nationale Festivallandschaft neuer Musik
perspektivisch hier sei.
Wie wichtig, aber auch wie problematisch diesbezüglich Abhilfe
wird, verdeutlichte die Debatte um einen Projektentwurf, den der
Deutsche Musikrat (DMR) in Warschau vortrug. Es handelt sich um
das Projekt einer „Europäischen Musikbürgschaft“,
die laut DMR-Vizepräsident Uli Kostenbader den Erhalt namhafter
staatlich subventionierter Festivals mittels EU-Geld garantieren
soll. Nationaler Subventionsabbau würde nach diesem Modell
mittels europäischer Ausfallbürgschaften aufgefangen,
Vollfinanzierung und ökonomisches Wirtschaften mit Prämien
belohnt werden. Wenngleich Nachfragen polnischerseits nach konkreten
Förder- und Auswahlkriterien unbeantwortet blieben, so verdeutlicht
Kostenbaders Idee, dass aus heutigem Engagement für die Ost-West-Integration
künftig durchaus europäische Legitimation erwachsen kann.
Das Interesse des Deutschen Musikrats, sich als Initiator eines
Bürgschaftsprojekts selbst zu einem internationalen Managementzentrum
entwickeln zu wollen, spricht dabei für sich.
Hans Herwig Geyer (GEMA) stellte in seinem Referat über das
Wirken des 1995 gegründeten „European Music Office“
(EMO) allerdings klar, dass Förderanträge aller Art mit
geltenden EU-Förderregeln kompatibel sein müssen und dass
Hermes-Bürgschaften auf kulturellem Gebiet unüblich sind.
Klaus Hinrich Stahmer forderte unmissverständlich, dass auch
neue Initiativen und nicht allein „altbewährte“
Foren aus sozialistischer Zeit der Hilfe bedürften. Rainer
Pöllmann (DeutschlandRadio Berlin) entwarf daraufhin die Idee,
den „Warschauer Herbst“, die „Klangspuren“
in Schwaz (Tirol) und das Berliner Festival „UlltraSchall“
zunächst ganz unbürokratisch miteinander kooperieren zu
lassen. Eine wechselseitige Nutzung bestimmter Programmteile benötige
lediglich zwei Jahre Vorlaufzeit. Dass im EU-Rahmen neue Kulturprojekte
offiziell ins Leben gerufen werden könnten, veranschlagte Hans
Herwig Geyer frühestens für das Jahr 2007. Konkrete Ost-West-Integration
auf dem Gebiet der Kultur, so Moderator Theo Geißler eingangs
des etwas unabgeschlossenen Arbeitstreffens, ergibt zunächst
also keinerlei Schlagzeilen – sie benötigt in jedem Fall
Zeit und viele kleine Schritte konkreter Partnerschaft.