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nmz 2003/11 | Seite 3
52. Jahrgang | November
Feature
Episoden aus dem Leben eines Besessenen
Utopie und Drama: Hector Berlioz zum 200. Geburtstag ·
Von Juan Martin Koch
„Um die Schulden meiner Frau ganz zu begleichen, machte ich
mich erneut an die schwierige Aufgabe einer Benefizveranstaltung
und es gelang mir nach großen Anstrengungen, im Theâtre
Italien eine Schauspielaufführung, gefolgt von einem Konzert,
zu organisieren (…). Das Programm der Soirée setzte
sich zusammen aus Dumas‘ ,Antony‘, gespielt von Firmin
und Mme Dorval, dem 4. Akt aus Shakespeares ,Hamlet‘ mit Harriet
und einigen englischen Amateuren, die wir noch aufgetan hatten,
sowie aus einem von mir dirigierten Konzert, das die ,Symphonie
fantastique‘, die Ouvertüre zu den ,Francs-Juges‘,
meine ,Sardanapale‘-Kantate, Webers Konzertstück (gespielt
von jenem ausgezeichneten und bewundernswerten Liszt) und einen
Chorsatz von Weber umfassen sollte.“
Was im 45. Kapitel von Hector Berlioz‘ Memoiren folgt, ist
die für dieses literarische Meisterwerk typische, genüssliche
Autopsie eines Desasters. Denn zu nichts Geringerem wuchs sich das
aus, was dem Komponisten und Konzertveranstalter am Abend des 24.
November 1833 widerfuhr: In der Hamlet-Szene, die sie in Paris berühmt
und für Berlioz begehrenswert gemacht hatte, konnte die englische
Schauspieldiva Harriet Smithson nicht an ihre einstigen Triumphe
anknüpfen; und das Konzert scheiterte daran, dass Berlioz,
der Utopist, das durchschnittliche Arbeitsethos eines Pariser Musikers
gründlich fehleinschätzte, wie er im Rückblick eingesteht:
„Da ich mit den Gebräuchen der Theatermusiker wenig
vertraut war, hatte ich mit dem Direktor der Italienischen Oper
einen Handel vereinbart, demzufolge er mir seinen Saal und sein
Orchester zur Verfügung stellte, das ich durch eine kleine
Zahl von Künstlern aus der Opéra ergänzen wollte.
Das war die gefährlichste aller Kombinationen: Die Musiker
(...) betrachten diese außerplanmäßigen Abende
als Frondienste und sind nur mit Verdruss und Widerwillen bei
der Sache. Wenn man ihnen dann auch noch Instrumentalisten beigesellt,
die bezahlt werden, während sie umsonst spielen, verschlechtert
sich ihre Laune noch und der Konzertgeber bekommt es schnell zu
spüren.“
In der Tat: Das nach der Schauspieldarbietung spät begonnene
Konzert verlief zunächst durchwachsen und eskalierte, als die
Instrumentalisten – auf ihr Recht pochend, vor Mitternacht
ihren Dienst beenden zu können – ihre Arbeitsplätze
verließen: „Nur die fremden, von mir bezahlten Musiker
waren geblieben, und als ich mich umwandte, um die Symphonie zu
dirigieren, sah ich mich von fünf Violinen, zwei Bratschen,
vier Kontrabässen und einer Posaune umgeben.“ Ein anwesender
Geiger erinnerte sich später, die während des Weber-Chores
getürmten Kollegen hätten den Ausgang von einer Harfenistin
samt Instrument blockiert vorgefunden. Allgemeiner Tumult auf und
hinter der Bühne, Berlioz fleht um Gnade, vertröstet den
wohlwollend ausharrenden und nach der „Marche au supplice“
verlangenden Teil des Publikums auf eine spätere Aufführung
der „Fantastique“ im Conservatoire: Ein wahrlich bühnenreifes
Spektakel muss sich da abgespielt haben, Berlioz-typische Raumeffekte
(„derrière la scène“) inbegriffen.
Zwischen den Stühlen
Man müsste Klavier spielen können: Wäre Berlioz,
der es zu gewisser Meisterschaft an der Flöte und der Gitarre
gebracht hatte, ein virtuoser Pianist gewesen, hätte er diesen
Abend vielleicht gerettet. Hätte den Übriggebliebenen
eine dürftige Begleitung aufs Pult gelegt, um sie mit dem brillanten
Solopart eines kleinen Konzertstücks an die Wand zu spielen;
hätte eine Klaviertranskription seiner Symphonie zum Besten
gegeben (Liszt hatte die seine zu diesem Zeitpunkt schon in der
Schublade); oder hätte die schönsten Melodien daraus nach
allen Regeln pianistischer Pyrotechnik zu einer frei extemporierten
Fantasie verwoben.
Nichts von alledem. Berlioz saß eben nicht auf der gut gepolsterten
Klavierbank, sondern zwischen allen Stühlen. Als Komponist
hatte er sich mit dem im vierten Anlauf errungenen Rompreis zwar
endlich in eine aussichtsreiche Position gebracht; die in Paris
entscheidende Anerkennung, ein Kompositionsauftrag für die
Oper, ließ indes auf sich warten. Nicht ohne Grund setzte
er immer wieder die Ouvertüre zu jener unvollendet gebliebenen
Oper „Les Francs-Juges“ aufs Pro-gramm, deren Libretto
von der Opéra abgelehnt worden war. Als Dirigent genoss er
noch längst nicht die Anerkennung, die ihm später vor
allem auf Tourneen in Deutschland zuteil werden sollte. Und als
Konzertveranstalter war er erst auf dem Weg zu jenem „Monstre-Konzert“,
für das er – auch hier ein Visionär im Räumlichen
– 1844 die Maschinenhalle der Industrieausstellung umfunktionieren
sollte.
Zwischen den Gattungen
Umfunktionieren. Ein Stichwort, das auch auf des Komponisten Umgang
mit den musikalischen Gattungen anzuwenden wäre. Die Zielrichtung
dieses Prozesses: das Prinzip des Dramatischen. Ihm haben sich praktisch
alle von Berlioz aufgegriffenen Genres unterzuordnen, oft ungeachtet
ihrer Herkunft und Tradition, vor allem aber ungeachtet ihres überlieferten
Platzes im Konzertleben. Mit der „Symphonie fantastique“
– das Schlüsselerlebnis Beethoven ins quasi Szenische
weiterdenkend – überschreitet er mit einem vorab lancierten,
ausführlichen Programm die zeitlichen, mit Orchesterstimmen
„aus dem Off“ die räumlichen Grenzen der Konzertveranstaltung.
In „Harold en Italie“ – den Kompositionsauftrag
Paganinis für ein Bratschenkonzert gezielt unterwandernd –
deutet er die Funktion des Konzertvirtuosen zum passiv unspektakulären,
für den programmatisch-dramatischen Charakter aber entscheidenden
Protagonisten um. „Roméo et Juliette“ konzipiert
er als eine „Symphonie dramatique“, in der Kantate,
Oper und Symphonie in einer neuen, abendfüllenden Gattung für
den Konzertsaal aufgehen sollten. (Bis heute stehen die beiden letztgenannten
Werke quer zu den einfallslosen Programmfolgen des Abonnement-Betriebs.
Was von Berlioz im Konzertalltag, im deutschen zumal, wirklich angekommen
ist, gibt vom wichtigsten französischen Komponisten des 19.
Jahrhunderts nur ein unvollkommenes Bild.)
Einer für Berlioz bedeutsamen Sonderform des Dramatischen,
der staatstragenden Monumentalmusik, begegnen wir in den ebenfalls
aus tradierten Gattungen (sakralen bzw. symphonischen Ursprungs)
umfunktionierten Werken: der „Grande Messe des Morts“,
dem „Te Deum“ und der „Grande Symphonie funèbre
et triomphale“. Die Übersteigerung des räumlich
und akustisch Möglichen verhinderte auch hier eine Integration
in das Standardrepertoire.
Berlioz – „Lélio“ – Liszt
Seiner ehrgeizigen, das gesprochene Drama miteinbeziehenden Veranstaltungsform
von 1833 am nächsten kommt freilich jenes, schon in der neu
kreierten Gattungsbezeichnung „Mélologue“ merkwürdige
Werk: „Le retour à la vie“, eine Fortsetzung
der „Symphonie fantastique“, die Berlioz später
als „Monodrame lyrique“ unter dem Haupttitel „Lélio“
veröffentlichen sollte. Die Monologe eines Schauspielers (des
Künstlers Berlioz selbst) stellen den inhaltlichen Zusammenhalt
her zwischen Einzelnummern, die in Stil und Genre kaum heterogener
sein könnten: Klavierlied, Arie, Chor- und Ensemblenummern
sowie als abschließender orchestraler Kulminationspunkt die
Fantasie über Shakespeares „Sturm“, in der Berlioz
Chorvokalisen und erstmals Klaviere als Orchesterinstrumente einsetzte.
Wie Beethoven, der mit seiner Chorfantasie die Mitwirkenden und
Genres seiner legendären „Akademie“ vom 22. Dezember
1808 in einer Komposition aufgehen ließ, so stellt Berlioz
in „Le retour à la vie“ Elemente eines für
die Zeit typischen, gemischten Konzertprogramms zu einem Werk zusammen.
Bei Beethoven steht noch der Virtuose in Personalunion mit dem Komponisten
und Dirigenten als derjenige im Mittelpunkt, der die künstlerische
Einheit eines Konzertabends realiter herstellen kann. Berlioz aber
zieht sich hinter die Maske eines Schauspielers zurück. Noch
glaubt er daran, das Werk könne für sich sprechen, der
(melo-)dramatische Rahmen stark genug sein, das nur locker verbundene
Gefüge zu einem – man kann ruhig sagen: Gesamtkunstwerk
zu vereinen.
Franz Liszt, für die „Stellung des Künstlers“
in der Gesellschaft (seine gleichnamige Artikelserie erschien 1835
in der Pariser „Revue et Gazette Musicale“) ebenso sensibel
wie für Formprobleme, reagierte noch 1834 auf diese Doppeldeutigkeit
von Präsenz und Verschwinden im Kunstwerk und komponierte für
Klavier und Orchester eine „Grande Fantaisie Symphonique“
über Themen aus Berlioz‘ Melolog. Der ehrenwerte Versuch,
dessen Melodien, vom Virtuosen durch Personalisierung gleichzeitig
veredelt und in einer populäreren Form dem Publikum untergejubelt,
für den Konzertsaal retten zu wollen, scheiterte: Dem Potpourri
begegnet man heute so selten wie dem Original.
Zwischen den Zeiten
Berlioz sollte sich erst etwas später dafür entscheiden,
diese zusammenfassende Funktion, die ihm als Nicht-Virtuose verwehrt
war, regelmäßig vom Dirigentenpult aus zu übernehmen.
Waren dafür maßgeblich die schlechten Erfahrungen mit
fremddirigierten Aufführungen ausschlaggebend, so zog Berlioz
damit auch die Konsequenzen aus einem Musikgeschäft, in dem
Selbstdarstellung, Selbstvermarktung überlebensnotwendig waren.
Wie Liszt, der in seinen Maßstab setzenden Soloprogrammen
mit bis dahin unbekannten Werken Beethovens oder Schuberts immer
wieder seinen „Chro-matischen Galopp“ oder ähnliche
Virtuosenpiècen zur Schau stellen musste, so entwickelten
sich auch bei Berlioz im Lauf seiner Dirigentenkarriere einige Einzelsätze
zu populären Selbstläufern; führten (wie die „Marche
au supplice“ aus der „Fantastique“) abseits ihrer
dramaturgischen Funktion im Gesamtwerk ein Eigenleben als unvermeidliche
Reißer.
1855 sollten sich die Wege des Tasten- und des Pultvirtuosen noch
einmal im Zeichen des nunmehr in „Lélio“ umbenannten
Schlüsselwerkes kreuzen. Der mittlerweile vor allem als Komponist
und Dirigent sich verstehende Weimarer Hofkapellmeister Liszt setzte
eine sehr bewusste Zäsur in seiner künstlerischen Laufbahn,
indem er bei der Uraufführung seines ersten Klavierkonzerts
zum vorerst letzten Mal den Solopart in einem konzertanten Werk
übernahm. Berlioz dirigierte und eröffnete damit die zweite
ihm gewidmete Konzertserie in Weimar, wo er dann auch die neue Version
des „Mélologue“ von 1832 präsentierte: Jene
Fassung also, in welcher der Protagonist Lélio am Ende zwar
eine Probe der Sturm-Fantasie leitet, das Orchester und der reale
Dirigent aber (in der Weimarer Aufführung also Berlioz selbst)
unsichtbar hinter einem Vorhang verborgen bleiben. Umdeutungen musikalischer
Gattungen also auch hier, nunmehr im Lichte persönlicher, den
sich wandelnden Konzertbetrieb reflektierender Entwicklungsstufen.
Berlioz‘ Vita ist voller symbolträchtiger Konzertereignisse
dieser Art. Ebenso wie an den Werken könnte man seine künstlerische
Biografie an Aufführungen entlang schreiben, so wie Berlioz
es in seinen Memoiren phasenweise getan hat: die Schilderungen der
Premieren der „Messe solennelle“, der „Fantastique“,
des Requiems oder der Aufführungen, denen berühmte Kollegen
beiwohnten; die Begegnungen mit Liszt, der Kniefall Paganinis, die
Triumphe, die Katastrophen. All dies sind Zeugnisse eines von der
Verlebendigung des Musikalisch-Dramatischen in der Konzertsituation
Besessenen, eines Komponisten, der Musik schrieb, die sich noch
im Scheitern des Vollzugs vermittelt, ihre Würde behält.
Es wäre also nicht unpassend in diesem Jubiläumsjahr
nicht nur seines 200. Geburtstags zu gedenken, sondern auch den
170. Jahrestag des eingangs geschilderten Debakels zu feiern. Stellen
wir uns also ein Festkonzert mit Kompositionsauftrag vor, den einer
wie Mauricio Kagel übernehmen könnte: In Anlehnung an
Berlioz‘ Jubelkantate auf Napoleon („Le 5 Mai“)
müsste es eine Art szenische Fiasko-Kantate sein – „Le
24 novembre“, eine grandiose Nicht-Aufführung der „Symphonie
fantastique“.